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Copyright © 1999 Institut für Pädagogik der Universität Potsdam / flitner@rz.uni-potsdam.de /
Prof. Dr. E. Flitner.
Gesammelte Aufsätze
zur
Soziologie
und Sozialpolitik
von
Max Weber
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Vorwort.
Einleitung dieses letzten Sammelbandes von Max Webers Abhandlungen ist
eine methodologische Denkschrift, die bisher nur als Manuskript gedruckt war.
Sie enthält die detaillierte Anweisung r eine Reihe vom Verein für Sozialpoli-
tik s.Z. auf Anregung von Alfred und Max Weber veranlaßter Kollektivarbeiten.
Die dann folgende Spezialuntersuchung zur Psycho-Physik der industriellen Ar-
beit benutzt das in einem einzelnen industriellen Betriebe erhobene Material
ebenfalls, um wissenschaftlichen Anfängern das zweckmäßigste Arbeitsverfah-
ren zu illustrieren. Diesem methodischen Zweck könnten die Untersuchungen
auch heute noch dienen, wenn etwa die bisher nur in bescheidener Zahl vorlie-
genden Einzeluntersuchungen über den Gegenstand weitergeführt würden. Max
Weber war der Ansicht, daß nur Ausdehnung der mühevollen Erhebungen auf
viele Betriebe wissenschaftlich relevante Ergebnisse erzielen können. –
In diesen Band sind auch die Debattereden M. W.s auf den Tagungen des
Vereins für Sozialpolitik und der Soziologischen Gesellschaft aufgenommen. In
der Frische und Vereinfachung des gesprochenen Worts machen sie manche der
Weber wichtigen Erkenntnisse, u. a. das Problem der werturteils-freien empiri-
schen Wissenschaft, für logisch Ungeschulte leichter verständlich als seine son-
stigen Darlegungen.
H e i d e l b e r g , August 1924.
D r . M a r i a n n e W e b e r .
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V
Inhalt.
Seite
Methodologische Einleitung für die Erhebungen des
Vereins für Sozialpolitik über Auslese und Anpas-
sung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbei-
terschaft der geschlossenen Großindustrie (1908)
1-60
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908-09)
61-255
Die Börse (1894)
256-322
Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen
zur Fideikommißfrage in Preußen (1904)
323-393
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für
Sozialpolitik (1905, 1907, 1909, 1911)
394-430
Geschäftsbericht und Diskussionsreden auf den deut-
schen soziologischen Tagungen (1910, 1912)
431-491
Der Sozialismus (1918) 492-518
I
Methodologische Einleitung
für die Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik über
Auslese und Anpassung (Berufswahlen und Berufsschicksal)
der Arbeiterschaft der geschlossenen
Großindustrie (1908).
I n h a l t : I . A l l g e m e i n e r C h a r a k t e r d e r E r h e b u n g : So-
zialpolitische Neutralität. Beschränkung auf die »geschlossene« Großindustrie. Ausscheiden
der nur »morphologischen« Probleme. Bedeutung der Art der Zusammensetzung der Produk-
tionskosten für die Fragestellung der Erhebung. Die Technik und die Fragestellung der Erhe-
bung. Der Lernprozeß und die »Gelerntheit« der Arbeiter in ihrer Bedeutung für die Fragen
der Erhebung. I I . D i e n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n P r o b l e m e
d e r E r h e b u n g : Physiologische und psychologische Grundlagen der Arbeitseignung.
Probleme der »Vererbung«. Grundsätzliche methodische Schwierigkeiten für die Erfassung
der durch »Anlage« bedingten Differenzen der Arbeitseignung. Sinn der Fragestellung.
I I I . D i e M e t h o d i k d e r E r h e b u n g : Ihr Thema. Bedeutung der Ar-
beitszeit, der Pausenverteilung, der Lohnsysteme für die Fragestellung. Die Lohnbuchführung
und die Kalkulation der Lohnkosten und Nutzeffekte in ihrer Bedeutung für die Erhebung: die
Auslese der Arbeiterschaft. Benutzung der Stammrollen der Fabriken für die Erhebung. Be-
fragung der Arbeiterschaft selbst. Die beiden Typen der Durchführung der Erhebung: Be-
triebserhebung und gewerkschaftsstatistische Erhebung. Einzelheiten über die Fragestellun-
gen in beiden Fällen. Sinn der Erhebung.
I.
Die gegenwärtige Erhebung versucht festzustellen: einerseits, welche Einwir-
kung die g e s c h l o s s e n e G r o ß i n d u s t r i e auf persönliche Eigen-
art, berufliches Schicksal und außerberuflichen »Lebensstil« ihrer Arbeiterschaft
ausübt, welche physischen und psychischen Qualitäten sie in ihnen entwickelt,
und wie sich diese in der gesamten Lebensführung der Arbeiterschaft äußern,
andererseits: inwieweit die Großindustrie ihrerseits in ihrer Entwicklungsfähig-
keit und Entwicklungsrichtung an gegebene, durch ethnische, soziale, kulturelle
Provenienz, Tradition und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft erzeugte Qua-
litäten derselben gebunden ist. Es sind damit also zwei verschiedene Fragen mit-
einander verkoppelt, welche der Theoretiker
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 2
scheiden kann und muß, die aber in der Praxis der Untersuchung fast überall
kombiniert miteinander auftreten, dergestalt, daß, wenigstens l e t z t e n En-
des, die eine nicht ohne die andere beantwortbar ist.
Der Verein für Sozialpolitik tritt mit dieser Erhebung auf den Boden der aus-
schließlich wissenschaftlichen Zwecken dienenden Arbeiten. Den beabsichtigten
Publikationen und ebenso den möglicherweise sich daran anschließenden Erör-
terungen liegt jegliche unmittelbar praktische »sozial p o l i t i s c h e « Ten-
denz fern; ihr Zweck ist ein rein »sozial w i s s e n s c h a f t l i c h e r « .
N i c h t darum handelt es sich, wie die sozialen Verhältnisse in der Großindu-
strie zu »beurteilen« seien, ob insbesondere die Lage, in welche der moderne ge-
schlossene Großbetrieb die Arbeiter versetzt, erfreulich sei oder nicht, ob je-
mand und eventuell wer an etwaigen unerfreulichen Seiten derselben eine
»Schuld« trage, was daran etwa gebessert werden solle oder nne und auf wel-
chem Wege? Sondern es handelt sich ausschließlich um die sachliche und objek-
tive Feststellung von Tatsachen und um die Ermittlung ihrer, in den Existenzbe-
dingungen der Großindustrie und der Eigenart ihrer Arbeiter gelegenen, Gründe.
Und diese Tatsachen, deren Feststellung erstrebt wird, liegen gleichfalls nicht
auf Gebieten und führen auch nicht auf Probleme, welche mit den Mitteln der
Gesetzgebung in Angriff genommen werden können. Damit soll nicht etwa ge-
sagt sein, daß sie kein praktisches Interesse böten. Die Frage, ob und eventuell
an welche durch »Volkscharakter« und Kulturstand bedingte Qualitäten unserer
Arbeiterschaft die Leistungsfähigkeit unserer großen Industrien gebunden ist,
ebenso die umgekehrte Frage, mit welchen, durch den stetigen Fortschritt unse-
rer grindustriellen Entwicklung in unseren Arbeitern herangezüchteten, weil
für die Großindustrie notwendigen oder nützlichen physischen und psychischen
Eigenschaften wir in Zukunft zu rechnen haben, in welche allgemeinen Lebens-
bedingungen endlich diese so geartete Arbeiterschaft hineingestellt ist und sein
wird, diese Fragen sind sicherlich für äerst wichtige allgemeine Probleme,
nicht nur handelspolitischer, sondern allgemein »kulturpolitischer« (z. B. auch
schulpolitischer) Art von ganz erheblicher Bedeutung. Und die Verbreitung von
Klarheit über jene Fragen könnte auch für die Beteiligten, die großindustriellen
Unternehmer wie die Arbeiter selbst, von beträchtlichem praktischen Interesse
werden. Sie
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 3
könnte schließlich auch über Fragen wie die: was angesichts der gegebenen Exi-
stenzbedingungen der Grindustrie auf dem Wege der Gesetzgebung überhaupt
als »erreichbar« gelten darf, was nicht, mehr Licht verbreiten, als heute vorhan-
den ist. Allein diese möglichen praktischen Nebenerfolge der Erhebung sind
nicht ihr Zweck. Es ist n i c h t die Absicht des Vereins, mittels der diesmali-
gen Erhebung irgendwelche praktischen Fragen in der Art zur Diskussion zu
stellen, wie dies bei manchen seiner früheren Erhebungen der Fall war und der
Fall sein mußte. Vollends denkt der Verein n i c h t daran, etwa durch seine
Erhebung Material zu liefern, um über die Interessenten, seien dies nun Arbeiter
oder Unternehmer, »moralisch« zu Gericht zu sitzen. Mit solchen Absichten wä-
re der wissenschaftlichen Unbefangenheit dieser Untersuchungen in keiner Wei-
se gedient. Das ganze Problem, um welches es sich handelt, ist schon seiner Na-
tur nach es scheint nicht überflüssig, dies auch den Herren Mitarbeitern ge-
genüber zu betonen ein sozialpolitisch durchaus n e u t r a l e s . Es folgt
daraus beispielsweise: Wo dem Bearbeiter eines Teilgebiets Klagen der Arbeiter
über irgendwelche Zustände (Lohnsystem, Verhalten der Werkführer usw.) in
industriellen Betrieben entgegentreten, da würde ihn dieser Umstand im Sinne
der gegenwärtigen Erhebung n i c h t als Symptom einer praktischen »Fra-
ge« etwas angehen, zu der er urteilend Stellung zu nehmen hätte, sondern er
me für ihn lediglich als Begleiterscheinung bestimmter (technischer, ökono-
mischer, psychologischer) Umbildungsprozesse in Betracht, die es objektiv in
ihrem Verlauf zu e r k l ä r e n gilt. In diesem Sinne betrachtet, können solche
Stimmungen der Arbeiterschaft natürlich auch für die gegenwärtige Erhebung
von bedeutendem Interesse sein. Allein der Bearbeiter würde sie als dann nicht
auf ihre »Berechtigung«, sondern lediglich auf ihre Entstehung hin anzusehen
haben. Und selbstverständlich würde für gereizte Aeußerungen der Unternehmer
über die Arbeiterschaft der gleiche Grundsatz, sie als S y m p t o m e von
Entwicklungsreibungen festzustellen und eventuell zu analysieren, zu gelten ha-
ben.–
Die gegenwärtige Erhebung verfolgt also in dem ebenerwähnten Sinne
»theoretische« Ziele. Es erscheint nützlich, noch ausdrücklicher, als dies aus
dem mitgeteilten »Arbeitsplan« selbst hervorgehen kann, zu veranschaulichen,
w e l c h e r A r t diese Ziele sind.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 4
Die Erhebung beschränkt sich in ihrem Objekt zunächst insofern, als sie die
g e s c h l o s s e n e G r o ß i n d u s t r i e Unternehmungen also, welche
gänzlich oder mindestens dem Schwerpunkte nach geschlossene Großbetriebe
schaffen zum Gegenstand hat: die etwa angegliederte Heimarbeit wäre aber
natürlich, nach Eigenart und Provenienz ihrer Arbeiterschaft, mit der im ge-
schlossenen Betriebe verwendeten zu vergleichen. Ueberhaupt nnte ein Ver-
gleich mit hausindustriellen Verhältnissen gegebenenfalls fruchtbar sein. Die
Erhebung findet ferner ihr letztes Ziel n i c h t in der Analyse der »morpholo-
gischen« Fragen: Organisation der Produktion und des Absatzes und innere Be-
triebsgliederung, nach deren technischer und ökonomischer Bedingtheit. Aller-
dings ist es naturgemäß durchaus unumgänglich, daß der Bearbeiter von diesen
Dingen sich für sein Arbeitsgebiet eine gründliche Kenntnis verschafft, wie dies
ja auch in dem ersten Absatz des »Arbeitsplanes« vorausgesetzt wird. Die Punk-
te, auf welche es dabei ankommen würde, sind z. B. in der Abhandlung von Dr.
G. E p h r a i m ( »Organisation und Betrieb einer Tuchfabrik«, Tübingen
1906) für eine bestimmte Industrie behandelt und den Herrn Mitarbeitern kann
das Studium dieser Darstellung nur empfohlen werden. Allein Arbeiten dieser
Art würden nicht als Antwort auf die mit d i e s e r Erhebung aufgeworfenen
Fragen gelten nnen, so unentbehrlich sie oft als V o r arbeiten für deren In-
angriffnahme sein werden. So würde beispielsweise die Gliederung der Einzel-
unternehmung in Betriebseinheiten (z. B. eines, in der üblichen Redeweise, so-
genannten »Betriebes« gemeint ist in genauerer Ausdrucksweise: eines in ei-
ner Hand u n d in einem, lokal irgendwie zusammenhängenden, Gebäude-
komplex zusammengefaßten Produktions u n t e r n e h m e n s etwa der Ei-
senindustrie in t e c h n i s c h e Betriebseinheiten wie: Gießerei, Kessel-
schmiede, Maschinenwerkstatt usw., oder einer »Webere in technische Be-
triebseinheiten, wie: Schlichterei, Spulerei, Weberei,umerei usw.) und die Art
der Abrechnung und des Verkehrs dieser Betriebseinheiten untereinander hier
nie das eigentliche Objekt der Darstellung sein dürfen. Das Interesse dieser Er-
hebung beginnt vielmehr erst bei Fragen wie folgenden: inwieweit besteht wie
immer jene »Betriebseinheiten« innerhalb des Unternehmens produktionstech-
nisch oder baulich oder buchmäßig (für die Kalkulation) voneinander geschie-
den oder miteinander kombiniert
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 5
sein mögen zwischen ihnen ein Austausch von A r b e i t s kräften ein
»Avancement« von einer in die andere? oder besteht umgekehrt eine mehr oder
minder strenge Scheidung? und hat diese etwa auch in sozialer Hinsicht und im
geselligen Verkehr Konsequenzen? Darin verhalten sich z. B. Formerei und
Kesselschmiede, Spulerei und Weberei, Weberei und umerei gänzlich ver-
schieden zueinander. Ebenso steht es mit der an sich so wichtigen Organisati-
on des A b s a t z e s . Sie ist n i c h t um ihrer selbst willen Objekt dieser
Erhebung. Dagegen spielt sie nicht selten i n d i r e k t in sehr einschneiden-
der Weise in die Fragen dieser Erhebung hinein. Z. B. insofern als die Absatz-
vermittlung durch Grossisten (»Engrossortimenter«), wie sie die Textilindustrie
Englands kennt, die weitestgehende Spezialisierung der Einzelunternehmungen,
damit auch ihre Arbeiterschaft und, als Folge davon, deren kontinuierliche Be-
schäftigung mit der gleichen Arbeit begünstigt, was sowohl für das uns inter-
essierende »Berufsschicksa der Arbeiterschaft wie für die Möglichkeit, eini-
germaßen »exaktes« Material über deren Leistungsfähigkeit zu gewinnen (s. un-
ten), von Wichtigkeit ist. Wo, wie vielfach in Deutschland, in starkem Me di-
rekter Verkehr mit den Dataillisten stattfindet, ist die Spezialisierung erschwert,
daher der Wechsel der Beschäftigungsart des einzelnen Arbeiters, zum minde-
sten (so in manchen Zweigen der Weberei) der Wechsel der Sorten, die er her-
stellt, für seine Lage charakteristisch und für die Gewinnung deutlicher Zahlen,
welche das Maß seiner Leistung, deren Schwankungen und ihre Vergleichbar-
keit mit derjenigen anderer Arbeiter des gleichen Betriebes charakterisieren
könnten, sehr erschwerend. Wenn so die eigentlich betriebsorganisatorischen
und Absatzprobleme für diese Erhebung nur eine indirekte Rolle, wenn auch un-
ter Umsnden eine sehr wichtige, zu spielen berufen sind, so muß auf der ande-
ren Seite den Bearbeitern angeraten werden, a u ß e r solchen »organisatori-
schen« auch noch einige im engeren Sinne ö k o n o m i s c h e »Vorfragen«
zu beachten. So scheint es namentlich wichtig, daß der Bearbeiter sich für die
von ihm behandelten Industrien ein möglichst deutliches Bild von dem Mdes
K a p i t a l e r f o r d e r n i s s e s (für » t e c h n i s c h e « Betriebseinhei-
ten bestimmter Größen) und für die »organische« Z u s a m m e n s e t z u n g
des erforderlichen Kapitals, das Verhältnis also von Gebäude und Maschinenka-
pital einerseits, von Rohstoffkosten und Lohn-
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 6
kosten andererseits, zu beschaffen sucht. So zweifelhaft es ist, wie weit im Ein-
zelfall ein Unternehmer geneigt sein wird, eingehende Angaben über seine indi-
viduellen Verhältnisse in dieser Hinsicht zu machen, so wahrscheinlich ist es
nach allen Erfahrungen, daß brauchbare Durchschnittswerte relativ leicht festzu-
stellen sein werden. Nicht minder wichtig würde die Feststellung sein, wie sich
die U m s c h l a g s z e i t e n der Kapitalien im Verlauf der technischen und
ökonomischen Entwicklung der betreffenden Industrie in der letzten Zeit ver-
schoben haben, und welches der jetzige Zustand in dieser Hinsicht ist. Die Art
der Zusammensetzung des Kapitals, und das heißt zugleich: der Produktionsko-
stenelemente einer Industrie, äußert sich vor allem in der Richtung, in welcher
sich ihre Tendenz zur Arbeitsersparnis bewegt. Jede Einstellung einer neuen,
technisch vollkommeneren Maschine bedeutet einerseits Ausschaltung einer
Reihe von Arbeitsprozessen, die zur Bedienung der bisher verwendeten Werk-
zeuge erforderlich waren, und das heißt: Entbehrlichwerden bestimmter, bisher
erforderlicher Qualitäten der Arbeiterschaft, andererseits: Verwendung von Ar-
beitern, welche die neueingestellten Maschinen zu bedienen haben und, um dazu
geeignet zu sein, ihrerseits gewisse andere Qualitäten entwickeln müssen. Es ist
nun für diese Erhebung einer der entscheidenden Punkte, daß 1. festgestellt
wird, welche A r t von Arbeitern m i t welcher A r t von Qualitäten durch
solche technischen Umwandlungen nach der einen Seite hin ausgeschaltet und
auf der anderen gezüchtet werden, 2. inwieweit dies durch die von Maß und
A r t des Kapitalbedarfs abhängigen allgemeinen ökonomischen Grundlagen
der betreffenden Industrie bedingt ist. Technische Umgestaltungen folgen, infol-
ge der Knappheit des jeweils verfügbaren »Kapitals«, ziemlich genau dem We-
ge, der durch das jeweilige M a x i m u m möglicher Kostenersparnis vorge-
zeichnet ist. Wo aber dies jeweils liegt, bestimmt sich in hohem Maße durch die
Zusammensetzung des Kapitals der einzelnen, in einer Hand zusammengefaßten
Wirtschaftseinheiten. Je nachdem z. B. die Kosten für unwirtschaftlichen Mate-
rialverbrauch oder für Maschinenverschleiß oder für Fehler und Ungleichmä-
ßigkeit des Produkts oder die nackten Lohnkosten als solche innerhalb einer sol-
chen Einheit r e l a t i v besonders stark ins Gewicht fallen, variieren deren
jeweilige technische Entwicklungstendenzen. Die Industrie trachtet, dement-
sprechend, be-
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 7
kanntlich nicht einfach danach, a b s o l u t hochbezahlte Arbeiter als solche
durch technische Neuerungen auszuschalten, sondern sie sucht sie, beispielswei-
se, dann auszuschalten, wenn die Lohnkosten in dem betreffenden Teil des Pro-
duktionsprozesses einen r e l a t i v besonders hohen Bruchteil des Gesamtka-
pitals in Anspruch nehmen, weil die betreffende Arbeiterschaft zugleich hoch
qualifiziert, also teuer, u n d relativ besonders zahlreich ist. Und die für diese
Erhebung interessierende Frage ist alsdann: inwieweit sie, im Einzelfall, zugun-
sten einer dünneren Schicht von Arbeitern mit eventuell n o c h höherer Qua-
lifikation ausgeschaltet oder durch geringer qualifizierte und jederzeit leicht er-
setzbare Arbeiter verdrängt wird. Keineswegs immer aber handelt es sich bei
solchen Verschiebungen um einfache Lohnkostenrechnungen; vielmehr wäre die
Aufgabe gerade: zu untersuchen, inwieweit und in welcher Richtung durch die-
se, und inwieweit durch a n d e r e Erfordernisse, z. B. Gleichmäßigkeit des
Produkts, Materialersparnis usw., Verschiebungen in der Technik und damit in
der Zusammensetzung der Arbeiterschaft bedingt wurden. Solche Aenderungen
können insbesondere auch Funktion des Interesses der Industrie an der B e -
s c h l e u n i g u n g d e s U m s c h l a g s ihres Kapitals sein. Nicht nur
trotz, sondern v e r m i t t e l s stetiger Steigerung des stehenden, insbesonde-
re des Maschinenkapitals z u g l e i c h die Umschlagsgeschwindigkeit des
Gesamtkapitals steigern zu nnen, ist eine typische Bedingung weitgreifender
technischer Neuerungen. Diejenigen Teile des Arbeitsprozesses – und damit
auch die an sie geketteten Arbeiter sind daher diesen Umschaltungsvorgängen
am meisten ausgesetzt, an welchen durch maschinelle Mechanisierung am mei-
sten Z e i t gespart wird. Ferner unterstehen große Teile der Fertig- und
Halbfabrikatindustrie dem Gesetz der zunehmenden »Standardisierung« ihrer
Produkte. Sie suchen zur Ausschaltung der kostspieligen Vielseitigkeit ihrer
Produktionswerkzeuge und ihres Absatzapparates ihre Produkte auf eine Mini-
malzahl möglichst gleichmäßiger Typen zu reduzieren und die Produktion unter
diesem Gesichtspunkt zu »mechanisieren«. Technische Neuerungen, Ausschal-
tungs- und Neueinschaltungsprozesse, welche unter dem Druck dieses Interesses
erfolgen, finden demgemäß an derjenigen Stelle des Produktionsprozesses am
intensivsten statt, wo an T y p i k der Produkte am meisten zu gewinnen ist.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 8
Solche und andere, je nach der Eigenart der einzelnen Industrien verschiede-
ne, ökonomische Bedingungen von technischen Neuerungen sollen nun natür-
lich von der Erhebung n i c h t etwa um ihrer selbst willen festgestellt werden.
Vielmehr sind sier die hier verfolgten Zwecke zunächst rein m e t h o -
d i s c h wichtig, für die Frage nämlich: welche einzelnen Industrien und in-
nerhalb einer jeden welche Bestandteile ihrer Arbeiterschaft ein besonders ge-
eignetes Objekt für die Feststellung von Unterschieden in der Arbeitseignung
der Arbeiter untereinander, ihrer Gründe und Folgen, darstellen, w o also eine
eingehende Untersuchung dieses Punktes mit Hilfe der später zu erörternden
Mittel die größten Chancen haben würde. Dies wird da der Fall sein, wo 1. die
Lohn k o s t e n einen besonders hohen Bruchteil des gesamten Kapitalauf-
wandes darstellen und also die rationelle Ausnützung der Arbeitskraft r die
Rentabilität besonders dringlich ist, wo ferner was damit häufig, aber keines-
wegs immer, zusammenfällt 2. die Q u a l i f i k a t i o n der Arbeiter von
maximaler Bedeutung für den technischen Produktionserfolg nach Quantität und
Qualität ist, die Industrie also von der Arbeitseignung der Arbeiterschaft in be-
sonders hohem Maße ab h ä n g i g ist, und wo endlich 3. die »Standardisie-
rung« der Produkte, damit auch die Kontinuität g l e i c h a r t i g e r Beschäf-
tigung der Arbeiter eine besonders große und also die möglichst exakte Messung
der Leistungen der Arbeiter (s. unten) ermöglichende ist, was wiederum mit
den beiden erstgenannten Punkten oft, aber durchaus nicht immer zusammen-
fällt. Typische Produkte, hohe Qualitäten der Arbeiterschaft, starke relative Be-
deutung der Lohn k o s t e n bedingen also bei ihrem Zusammentreffen eine
besonders günstiges Terrain für den Erfolg aller auf die » A u s l e s e « der
Arbeiter bezüglichen Fragen. Dabei versteht es sich jedoch, daß die Erhebung
ganz abgesehen davon, daß sie ja nicht n u r auf diese Frage abgestellt ist
durchaus nicht darauf verzichten darf, auch Industrien, bei denen die Bedingun-
gen der Untersuchung in jeder Hinsicht nicht so günstig liegen, in Angriff zu
nehmen. Die Chancen, zu Resultaten zu gelangen, sind dabei keineswegs immer
absolut schlechtere; denn es darf nicht vergessen werden, daß neben der unmit-
telbar am Arbeitserfolg meßbaren reinen Arbeits e i g n u n g auch rein histori-
sche Bedingungen die Verwendung bestimmter Provenienzen in bestimmten
Arbeitsstellungen bestimmen. –
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 9
In s a c h l i c h e r Hinsicht interessieren jene ökonomischen Grundlagen
der Kapitalverwertung und ihre Wandlungen 1. für die Frage: Inwiefern haben
jene Eigenarten der Zusammensetzung des Kapitals, der Entwicklung des Kapi-
talumschlags und der »Standardisierung« in den einzelnen Industrien in abseh-
barer Vergangenheit zu Aenderungen in der i n n e r e n G l i e d e r u n g
der Arbeiterschaft, in deren Berufsschicksal und ihren beruflichen und »mensch-
liche Qualitäten geführt? Welche e i n z e l n e n Aenderungen dieser Art
sind also den e i n z e l n e n Entwicklungstendenzen der Kapitalverwertung
zuzurechnen? Auf der anderen Seite aber wäre 2. auch zu fragen: ob und in wel-
chem Sinne die betreffende I n d u s t r i e i h r e r s e i t s in der Art ihrer
Kapitalverwertung, also z. B. in der Tendenz zu zunehmender Kapitalintensität
überhaupt, zur Standardisierung, zur steigenden Umschlagsgeschwindigkeit
usw. sich g e h e m m t findet (oder zu finden glaubt) durch gegebene Qualitä-
ten ihrer Arbeiterschaft, weil diese Qualitäten technische Neuerungen bestimm-
ter Art e r s c h w e r e n . Ist dies der Fall, so fragt sich dann weiter: ob diese
Hemmung für sie ganz allgemein besteht (bzw. bestand) oder etwa nur lokal und
im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsgebieten, inwieweit sie also von der Eigen-
art der ö r t l i c h zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte abhängt (bzw. ab-
hing). Endlich: in welcher Weise sich die betreffende Industrie alsdann d i e -
s e m Bestandteil ihrer Produktionsbedingungen in Maß, Gliederung und Um-
schlag ihres Kapitalaufwandes anzupassen genötigt und bestrebt ist (bzw. gewe-
sen ist). Die Vergleichung v e r s c h i e d e n e r auf den g l e i c h e n Ar-
beitsmarkt angewiesener Industrien, ebenso aber die Vergleichung geographisch
getrennter Betriebe der g l e i c h e n Industrie, die auf v e r s c h i e d e n e
Arbeitsmärkte angewiesen sind, dürfte hierfür besonders lehrreich sein: für die
ganze Lage der Textilindustrie und ihrer Arbeiterschaft ist es ja von grundlegen-
der Bedeutung, daß mit den auf (relativ) hochgelohnten Arbeitskräften ruhenden
Betrieben des Westens die schlesische Textilindustrie in ein und dasselbe Wirt-
schaftsgebiet eingespannt ist, welche aus dem unerschöpflichen osteuropäischen
Bevölkerungsreservoir billige Arbeitskräfte anzieht. Alle Gegensätze der sozia-
len Struktur von West und Ost spielen hier hinein.
Die Frage, in welcher A r t sich die einzelnen Industrien ihre Arbeitskräfte
beschaffen, gehört ersichtlich ebenfalls in diesen
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 10
Zusammenhang. Wenn dabei naturgemäß von der Fragestellung: wie Arbeitsan-
gebot, Anwerbung und Arbeitsvermittlung in der einzelnen Industrie und für die
einzelnen Arbeiterkategorien t e c h n i s c h gestaltet ist, auszugehen sein
würde, so ist die eigentliche Aufgabe dabei doch die: festzustellen, inwieweit
die einzelnen Industrien mehr oder minder an die örtlich oder in bestimmten Re-
gionen vorhandenen Arbeitskräfte g e b u n d e n oder inwieweit sie in der
Lage waren und sind, solche von auswärts heranzuziehen, eventuell aber: auf
welche Art Schwierigkeiten sie dabei sten. Die möglichst exakte Feststellung,
aus w e l c h e n anderweitigen Arbeits s t e l l u n g e n heraus die einzel-
nen Arbeiterkategorien der betreffenden Betriebe rekrutiert worden sind, ist da-
bei von ganz besonderem Interesse, namentlich bei sich stark ausdehnenden
oder in schneller technischer Umgestaltung begriffenen Industrien. Der berufli-
che Lebenslauf der Arbeiter würde unter unsren Gesichtspunkten als eine Art
von »Etappenstraße« erscheinen, auf der sie sich, von bestimmten (näher festzu-
stellenden) örtlichen, ethnischen, sozialen, kulturellen Ausgangspunkten aus, ih-
rer Qualifikation für die schlilich erreichte Arbeitsstellung genähert haben.
Charakteristische Resultate würden sich auch dabei naturgemäß am ehesten für
solche Arbeiter erzielen lassen, deren spezifische Qualitäten, nach der techni-
schen Eigenart der betreffenden Industrie, in besonders hohem Maße unentbehr-
lich sind. –
Aus dem Gesagten ergibt sich auch die Rolle, welche die T e c h n i k , in
dieser Erhebung zu spielen berufen ist. Eine möglichst eingehende Kenntnis der
Technik der geschilderten Industrie ist selbstverständliche Voraussetzung der
Möglichkeit ihrer Bearbeitung. Die allereinfachsten Anfangsgründe dazu kann
dabei wohl das Studium eines der zahlreichen Fachlehrbücher erschließen. Al-
lein selbstverständlich nie mehr als diese. Soweit also die Herren Mitarbeiter
nicht selbst Techniker oder, was besonders zu begrüßen wäre, etwa Lehrer an
technischen Schulen, welche für das Verständnis und die Bedienung der Ma-
schinen vorbereiten, sein sollten, kann ihnen gar nicht dringend genug geraten
werden, sich des ständigen Beirats erfahrener, mit der Bedienung und den An-
forderungen der betreffenden Maschinen und deren geschichtlicher Entwicklung
genau vertrauter Techniker zu bedienen. Eine D a r s t e l l u n g der Technik
der einzelnen Industrien ist dabei natürlich n u r soweit erwünscht,
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 11
als sie für das Verständnis derjenigen Fragen unumgänglich ist, welche das Ob-
jekt dieser Erhebung sind. Denn es hätte angesichts der großen, bequem zugäng-
lichen technologischen Literatur natürlich keinerlei Sinn, solche Darstellungen
zum Selbstzweck zu machen. Selbstverständlich ist es die »technische« Eigenart
des Produktionsprozesses, insbesondere der Maschinen, durch welche u n -
m i t t e l b a r alle diejenigen Qualitäten der Arbeiter, deren die einzelne Indu-
strie benötigt, und fernerhin auch deren mögliches Berufsschicksal bestimmt
wird. Selbstzweck ist aber bei Feststellung der Art dieses Zusammenhangs in
keiner Weise die Beschreibung der Maschinen, sondern l e d i g l i c h die
eingehende Analyse derjenigen M a n i p u l a t i o n e n , welche die Arbeiter
a n den Maschinen vorzunehmen haben, und zwar l e d i g l i c h unter der
Fragestellung: auf die Anspannung welcher ganz speziellen F ä h i g k e i t e n
es bei den konkreten Hantierungen der einzelnen Arbeiterkategorie ankommt.
D i e s e Analyse allerdings kann sicherlich nie zu gründlich sein.
Der Bearbeiter wird dabei auf die entscheidenden Punkte wohl nicht selten
dann am leichtesten aufmerksam werden, wenn er den Hergang des L e r n pro-
zesses eingehend studiert und speziell zu ermitteln sucht, welcher von den ein-
zelnen Bestandteilen, in welche sich die Arbeitsmanipulation des einzelnen Ar-
beiters auflösen läßt, erfahrungsgemäß, nach den Angaben der Arbeiter selbst
sowohl wie der Unternehmer, Techniker, Werkmeister, bei Beginn des Lernens
am s c h w e r s t e n fällt, auch weiterhin dem Lernen die größten Schwierig-
keiten entgegensetzt und am seltensten wirklich ganz vollkommen geleistet
wird. Im Zusammenhang damit re dann die Verschiedenheit der örtlichen,
ethnischen, sozialen und kulturellen P r o v e n i e n z der Arbeiter in ihrer
etwaigen Einwirkung auf die Lern f ä h i g k e i t zu studieren.
Der Lernprozeß, dessen eingehende Prüfung unter diesen Gesichtspunkten
mithin von erheblicher Wichtigkeit für die Zwecke dieser Erhebung werden
kann, verläuft, wie bekannt, bei den einzelnen Kategorien der Arbeiter in sehr
verschiedener Weise. Er reduziert sich bei gewissen einfachsten Verrichtungen
auf sehr einfache Uebungsvorgänge. Ohne jeden Einfluß der »Einübung« auf die
Leistung vollzieht sich selbst die allerelementarste ungelernte Arbeit nicht. Da-
bei können diese einfachsten, am wenig-
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 12
sten »gelernten« Arbeiten nach dem üblichen Sprachgebrauch sowohl »körperli-
cher« als »geistiger« Art sein. Das Abzählen und Kontrollieren abgelieferter
Produktenquanta z. B. kann so rein mechanischer Natur sein, daß es fast keiner-
lei Uebung voraussetzt, und, im Gegensatz zu der Maschinenbedienung, von den
beschränktesten und wenigst entwicklungsfähigen Individuen erledigt werden
kann, vorausgesetzt nur, daß ein Mindestmaß persönlicher Zuverlässigkeit, also:
eine »Charakterqualität«, vorhanden ist. Von den untersten Staffeln der »unge-
lernten« Arbeit bis zu der dem Besitz einer »Kunst« sich nähernden »Gelernt-
heit« besteht an sich die glichkeit einer fast ununterbrochenen Stufenleiter
von Arbeitsleistungen und Arbeiterkategorien. Eine einfache Scheidung in »ge-
lernte« und »ungelernte« Arbeiter ist auch faktisch keineswegs immer möglich.
Es wird vielmehr für jede einzelne Industrie besonders zu unterscheiden sein
wie sich die Arbeiterschaft von Betrieben bestimmter Art und Größe z i f -
f e r n mäßig auf die einzelnen Staffeln von Maß und Art der erforderlichen Ge-
lerntheit verteilt, wie sich ferner diese Zusammensetzung in absehbarer Vergan-
genheit geändert hat, welche Aenderungen für die absehbare Zukunft vorauszu-
sehen sind, und warum. Die Industrien scheiden sich oft in höchst charakteristi-
scher Weise in solche, bei denen einem Stamm hochgelernter Qualitätsarbeiter
eine mehr oder minder breite Schicht fast ganz »ungelernter« Arbeitskräfte ge-
genübersteht, und in andere, in denen sich innerhalb der einzelnen Kategorien
der Arbeiterschaft derartige Unterschiede nur gradweise finden. Diese Zustände
sind durch die technische Evolution, welche ihrerseits mit den oben erwähnten
allgemeinen Tendenzen der Kapitalverwertung zusammenhängt, in beständiger
Entwicklung begriffen, deren Richtung zu schildern wäre.
Die » G e l e r n t h e i t « ist dabei natürlich vor allem auch nach ihrer
A r t zu unterscheiden. Es wird sich empfehlen, entsprechend dem gewöhnli-
chen Sprachgebrauch, unter einem »gelernten« Arbeiter einen solchen zu ver-
stehen, der einen wirklichen, in irgendeinem Sinne »vielseitigen« Lehrgang,
nach Art der alten zünftigen Handwerkslehre oder wenigstens dieser ähnlich, sei
es im Handwerk, sei es in gesonderten Lehrwerkstätten oder in der Fabrik selbst,
durchgemacht hat. Davon wären als » a n g e l e r n t e « Arbeiter diejenigen zu
unterscheiden, welche in der Fabrik unmittelbar an Maschinen der gleichen oder
ähnlichen
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 13
Art, wie sie sie dauernd zu bedienen haben, gestellt und an diesen bis zur Errei-
chung einer für die Rentabilität ihrer Verwendung erforderlichen Mindest- oder
Normalleistung geschult werden, natürlich unter Berücksichtigung der Ueber-
gänge, die sich zwischen beiden Kategorien finden mögen. Dabei re nun vor
allem anderen die Aufgabe: zu ermitteln, w a r u m die einzelne Industrie oder
der einzelne Betrieb die eine oder andere Form des Lernens bedingt, ob also und
weshalb für bestimmte Kategorien von Arbeitern, der Natur ihrer Aufgabe nach,
heute noch ein regulärer Lehrgang statt des direkten Anlernens erforderlich ist,
für andere nicht, oder inwieweit etwa die Verwendung von solchen, im alten
Sinn »gelernten« Arbeitskräften n i c h t durch die technische Eigenart der
Anforderungen, welche der Arbeitsprozeß seiner Natur nach an die betreffenden
Arbeiter stellt, bedingt, sondern wesentlich historisches Ueberbleibsel ist usw.
Auch wird es zur Klarstellung der Gründe solcher Unterschiede in jedem Fall
erwünscht sein, zu ermitteln, welche ungefähren direkten und indirekten K o -
s t e n aus der »Anlernung« entstehen, z. B. durch Bereitstellung speziell dafür
bestimmter Maschinen und Vorarbeiter, ferner durch Unterproduktion gegen-
über einem garantierten Mindestverdienst hrend der Anlernzeit usw. Sodann
wäre weiter als sehr wichtig festzustellen, welches M der Leistung im Einzel-
falle für die V o l l e n d u n g des Angelerntseins, also: für die Einstellung als
Vollarbeiter, erfordert werden muß, und endlich vor allem: i n w e l c h e m
Z e i t r a u m dieses Maß von den Arbeitern der einzelnen Kategorien, je nach
ihrem Alter, Geschlecht, ihrer örtlichen, ethnischen, sozialen, kulturellen Prove-
nienz, ihrer früheren Bescftigung in diesem oder in anderen Berufen, e r -
r e i c h t wird, und worauf die in dieser Hinsicht etwa sich zeigenden Unter-
schiede beruhen. Es nnten etwaige sichere, auf hinlänglich umfangreichem
und vorsichtig gedeutetem Material beruhende Ergebnisse gerade über d i e -
s e n Punkt für die Erhebung besonders wichtig werden, da sie vielleicht auf
Unterschiede in der L e r n fähigkeit der Arbeiter je nach den Unterschieden ih-
rer Provenienz zurückführbar sein k ö n n t e n . Dies freilich nur dann, wenn
sich der Anlernprozeß unter annähernd ähnlichen Bedingungen vollzieht. Denn
es macht z. B. einen ganz bedeutenden Unterschied, ob ein Arbeiter seine Mani-
pulationen Stück r Stück nach den Anweisungen eines Meisters an einer neuen
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 14
Maschine zu erlernen hat, oder ob er sich kontinuierlich in der Nachbarschaft
von bereits voll »geübte Arbeitern befindet, welche die gleichen Manipulatio-
nen ausüben, und sich, nachahmend, in deren Arbeit »einfühlen« kann. Für
manche Arbeiten ist, nach Erfahrungen in Fabriken, durch diesen Einfluß des
»Einfühlens« eine Verkürzung der Anlernzeit auf fast ein Sechstel herbeigeführt
worden. Dagegen ist andererseits auch unter gleichen Bedingungen des Anler-
nens die erforderliche Zeit individuell sehr verschieden, und den Bedingungen
d i e s e r Unterschiede wäre, namentlich soweit sie Unterschieden der Prove-
nienz entstammen, nachzugehen.
Daneben wäre der Einfluß der inneren Gliederung der Arbeiterschaft, wie sie
durch die Eigenart ihrer Leistung, das Maß der dazu erforderlichen Gelerntheit
und die Art des Lernens oder Anlernens bedingt wird, natürlich einer derjenigen
Punkte, an welchen die Analyse 1. des Berufsschicksals, 2. der sozialen Bezie-
hungen der Arbeiter untereinander, endlich 3. der allgemeinen »charakterologi-
schen« Qualitäten der Arbeiterschaft, wie sie die Großindustrie entwickelt, ein-
zusetzen hätte. Die hier wesentlich in Betracht kommenden Fragen sind offen-
bar: 1. inwieweit die Entwicklung der Arbeiterschaft sich in der Richtung quali-
tativer und von da aus beeinflußter ökonomischer und sozialer D i f f e r e n -
z i e r u n g ihrer verschiedenen Schichten oder umgekehrt in der Richtung ih-
rer zunehmenden U n i f o r m i e r u n g bewegt. Inwieweit 2. die Verwend-
barkeit des einzelnen Arbeiters in der Industrie sich zunehmend s p e z i a l i -
s t i s c h , auf die ausschließliche Uebung ganz spezieller Einzelqualitäten zu-
geschnitten, oder umgekehrt u n i v e r s a l i s t i s c h gestaltet. Inwieweit,
dementsprechend 3. die einzelnen Industrien von bestimmten, sei es anerzoge-
nen, sei es eingeübten Qualitäten ihrer Arbeiter sich zunehmend e m a n z i -
p i e r e n , und inwieweit etwa der »Standardisierung« der Produkte eine
»Standardisierung« auch der Arbeiter entspricht, oder umgekehrt der Speziali-
sierung der Arbeits m i t t e l eine Vermannigfaltigung der Eigenart der Arbei-
ter. Die sich ferner 4. für die Arbeiterschaft die Chance eines Avancements in-
nerhalb der Beschäftigungsarten gestaltet, sowohl ökonomisch (nach der A r t
der möglichen Gestaltung ihrer Verdienstkurve), wie organisatorisch (nach dem
Maß der relativen Selbsndigkeit oder auch U e b e r o r d n u n g , welche im
Verlauf ihres Berufsschicksals an die Stelle
I. Allgemeiner Charakter der Erhebung. 15
der zunächst unvermeidlichen Unterordnung zu treten vermag), wie »psycholo-
gisc(nach der Art ihrer subjektiven N e i g u n g zu den einzelnen Arbeits-
stellungen, in die sie einzurücken die Chance haben). Der wichtige Gesichts-
punkt der »Arbeitsfreude« (H. H e r k n e r ) und z. B. auch die Würdigung der
gelegentlich erörterten Frage, unter welchen Bedingungen die »Bedienung« der
Maschine seitens des Arbeiters als ein »Beherrsche derselben e m p f u n -
d e n zu werden vermöge, gehört hierher. Wie sich endlich 5. das Ergebnis all
dieser Einflüsse in der psychophysischen und charakterologischen Eigenart der
Arbeiterschaft einer Industrie und in ihrem »Lebensstil« niederschlägt. Diese
entscheidend wichtigen Fragen der Erhebung müssen natürlich sämtlich a u s -
g e h e n von dem einfachen Vorgang des »Einübens« bestimmter Leistungs-
fähigkeiten, welche die Industrie verlangt, damit aber: von den allgemeinen phy-
sischen und psychischen Voraussetzungen und Folgen, welche die »Einübung«
und »Geübtheit« hat.
Es kann nun von den Herren Mitarbeitern, soweit sie nicht etwa von Beruf
oder Studium Physiologen oder Experimentalpsychologen sind, nicht vorausge-
setzt werden, daß sie sich im Besitz der erforderlichen Fachkenntnisse befinden,
um diejenigen Ergebnisse jener Wissenschaften, welche für die Zwecke dieser
Erhebung überhaupt in Betracht kommen könnten, zu beherrschen. Ein Versuch,
solche Ergebnisse o h n e strenge fachmännische Kontrolle zu verwerten,
würde nur allzu leicht dilettantisch ausfallen. Wenn hier gleichwohl etwas näher
auf diese Probleme eingegangen wird, so geschieht dies, um einen ungefähren
Ueberblick darüber zu gewinnen, was, i m P r i n z i p , bei einer Erhebung
dieser Art als letztes Ziel erstrebt werden m ü ß t e , nicht aber zu dem Zweck,
vorwiegend rein nationalökonomische Mitarbeiter die wohl die Mehrzahl bil-
den werden zu veranlassen, sich ihrerseits auf ihnen nicht fachmäßig vertraute
Gebiete zu wagen. Es scheint nützlich, daß der einzelne sich auch darüber klar
ist, welchen Problemen er mit s e i n e r Fragestellung n i c h t auf den
Grund gekommen ist. Im übrigen aber wäre nichts lebhafter zu begrüßen, als die
etwaige Mitarbeit von Fachmännern der betreffenden Disziplinen selbst.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 16
II.
Es muß gleich eingangs konstatiert werden daß die bedeutenden Fortschritte,
welche in der Analyse der hier in Betracht kommenden Vorgänge zweifellos
gemacht worden sind, schon infolge der ungemeinen Schwierigkeit experimen-
teller Kontrolle, vorerst nur teilweise bereits zu Resultaten geführt haben, die,
auch bei vollständiger Beherrschung des Materials, unmittelbar für die Zwecke
dieser Erhebung verwertet werden könnten.
Dies gilt in erheblichem Me selbst für das Gebiet der reinen M u s k e l -
ü b u n g . Es würde, soweit Wandlungen in der Technik vorwiegend körperli-
cher Arbeiten in Betracht kommen, sich empfehlen, die Hilfe eines physiologi-
schen Fachmannes in Anspruch zu nehmen. An der Hand der Beobachtungen
wäre dann zu prüfen, i n w i e w e i t die Entwicklung der Technik, wie sie
sich unter dem Druck der privatwirtschaftlichen Kostenökonomie vollzieht, in
ihrem Gange zugleich der Richtung der physiologischen Kräfteökonomie (Er-
sparnis an »Kraftverlust«, d. h. an nicht in Form von Arbeit verwerteter physika-
lischer Gesamtleistung der Muskulatur) folgt. D z. B. die »Uebung« von Ar-
beitsleistungen stets wesentlich auch eine »Automatisierung« von ursprünglich
im Bewußtsein artikulierten Willensimpulsen ist, steht fest. Ebenso, daß dies ei-
ne physiologische Kraftersparnis auf muskulärem resp. nervösem Gebiet bedeu-
tet. Festzustellen aber wäre, wie w e i t im einzelnen dieses Prinzip in der ein-
zelnen Industrie reicht. Daß ferner die »Rhythmisierung« der Arbeit, teils als
Mittel der Mechanisierung, teils direkt, ähnliche Dienste leistet, steht gleichfalls
fest. Es nnte im einzelnen Falle wohl der Mühe wert sein festzustellen, wie es
mit der Rhythmisierung unter dem Einfluß der Maschinen steht. Wobei zu be-
achten wäre, daß nach den vorliegenden experimentellen Untersuchungen diese
Wirkungen verschieden zu sein scheinen, je nachdem sie sich demjenigen
Rhythmus, der dem individuellen psychophysischen Apparat der adäquateste ist,
anschmiegen, oder aber ihm gegen sein Widerstreben von außen aufgezwungen
werden. Wesentlich komplexere, nur durch Mithilfe von Physiologen in Angriff
zu nehmende Probleme würden dagegen beispielsweise mit den Fragen berührt,
inwieweit tatsächlich (wie dies behauptet worden ist) 1. die Ausschaltung von
Muskelleistungen, und 2. die Arbeitsübung an den Maschinen mit 1. der
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 17
Ausschaltung der Inanspruchnahme der größeren zugunsten derjenigen der
»kleinstmöglichen« Muskeln und 2. mit zunehmender Einschränkung der Mit-
bewegung nicht direkt beanspruchter Muskeln Hand in Hand gehen, endlich in-
wieweit 3. die Steigerung der Maschinen g e s c h w i n d i g k e i t und damit
der Arbeitsintensität mit der behaupteten, und, dem Prinzip nach wenigstens,
wohl auch experimentell nachweisbaren Ausnutzung der »Summation von Reiz-
nachwirkungen« derart parallel gegangen ist und noch geht, daß aus diesem
Grunde im Effekt eine Kraftersparnis im p h y s i o l o g i s c h e n Sinne des
Wortes resultierte. Manche der entscheidenden physiologischen Voraussetzun-
gen sind hier unter den Fachmännern selbst ziemlich bestritten. Die Analyse der
technischen Entwicklung wichtiger Industrien unter derartigen und verwandten
Gesichtspunkten nnte gleichwohl wertvolle Ergebnisse zeitigen, aber nur,
wenn sie unter Kontrolle von F a c h leuten vorgenommen würde. Es wäre da-
her sehr zu begrüßen, wenn Physiologen oder physiologisch gründlich orientier-
te Aerzte sich an der Arbeit dieser Erhebung als Mitarbeiter beteiligen würden.
Jedenfalls nnte es nur Sache des physiologischen Fachmannes sein, zu beur-
teilen, inwieweit man h e u t e bei derartigen Untersuchungen nach dem Stan-
de der physiologischen Kenntnisse bereits auf gesichertem Boden stehen würde,
und auf welche konkreten Punkte dabei zu achten wäre. Stets ßte aber ge-
genüber der für die naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen zuweilen fast un-
widerstehlichen Versuchung, soziale Erscheinungen rein aus ihren Fachge-
sichtspunkten heraus ableiten zu wollen, also z. B. die Industrieentwicklung
gänzlich als eine Funktion einzelner Gesetze der physiologischen Kräfteökono-
mie zu deuten
1)
, daran festgehalten werden, daß die Industrie als solche nicht
» K r a f t ersparnis« sondern » K o s t e n ersparnis« erstrebt, und daß die We-
ge, auf denen sie diese erreichen kann, k e i n e s w e g s immer mit der Ent-
wicklung zum p h y s i o l o g i s c h Rationalen zusammenfallen, daß viel-
mehr aus den allerverschiedensten Gründen die Entwicklung zum ö k o n o -
m i s c h e n Optimum der K a p i t a l verwertung von der Entwicklung zum
p h y s i o l o g i s c h e n Optimum der K r a f t verwertung divergieren
kann.
1)
Dieser Gefahr ist z. B. auch das hübsch geschriebene Essay von G e r s o n i m X.
Bande der »Zeitschr. f. Sozialwissenschaft« nicht überall, am wenigsten in den beiden
Schlußartikeln, entgangen.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 18
In solchen Fällen aber, wo tatsächlich die technische Entwicklung eine konse-
quent und eindeutig fortschreitende charakteristische Umgestaltung der physio-
logischen Inanspruchnahme der Arbeiterschaft zeigt: wie häufig das der Fall
sein mag, steht keineswegs von vornherein fest –, wäre es die Aufgabe, zuerst zu
fragen: in welcher Weise in diesen konkreten Fällen die einzelnen, den Rentabi-
litätsinteressen des Kapitals entspringenden ö k o n o m i s c h e n Tendenzen
(Lohnersparnis, wirtschaftliche Ausnutzung des Rohmaterials und der Maschi-
nen, Steigerung der Umschlagsgeschwindigkeit, Standardisierung usw.) an die-
ser physiologischen Entwicklung beteiligt sind, und d a n n e r s t : welche
Teile der Muskulatur oder des Nervensystems dadurch in ihrer Inanspruchnah-
me bevorzugt, welche anderen zurückgesetzt werden, und welche Konsequenzen
für den physiologischen Habitus dies hat, gehabt hat oder weiterhin haben kann.
Der ble Hinweis darauf, daß die Entwicklung der Technik bestimmten Postu-
laten der physiologischen Kräfteökonomie entsprochen habe, genügt in keinem
Fall.
Noch weit wichtiger für diese Erhebung wäre naturgemäß die Feststellung, ob
und welche elementaren psychischen Bedingungen und Folgen die Entwicklung
der modernen Industriearbeit gehabt hat und noch hat, wenn dafür hinlänglich
geklärte, anerkannte und zugleich exakte Erfahrungen der experimentalpsycho-
logischen Disziplin verwendet werden nnten. Leider ist dies vorläufig nur in
beschränktem Maße der Fall. Die mit dem Problem der Arbeit beften sehr um-
fassenden Untersuchungen jener Disziplin sind ursprünglich, soweit sie über-
haupt von aktuellen Problemen beeinflußt wurden, vorwiegend an s c h u l hy-
gienischen Gesichtspunkten orientiert gewesen. Einerseits hat sich dabei erge-
ben, daß, im Gegensatz zu manchen anfänglich gehegten Hoffnungen, jedenfalls
zur Zeit (nach der Ansicht mancher Forscher sogar vielleicht dauernd) es keiner-
lei Mmethode gibt, welche zugleich exakt und dabei doch zu M a s s e n un-
tersuchungen derart geeignet re, um einwandfreie Resultate über den Verlauf
der Ermüdungs- und Uebungskurven, der individuellen Differenzen in dieser
Hinsicht und deren Bedingtheit durch Temperaments- und Charakterqualitäten
zu bieten. Weder das in Frankreich und Amerika besonders gepflegte System
der sog. mental tests, noch die Versuche, mit Aesthesiometern und ähnlichen
einfachen Instrumenten die psychischen Nachwirkungen der Arbeit zu mes-
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 19
sen, gelten im Kreise der mgebenden deutschen Fachmänner als hinlänglich
sichere Mittel zur Feststellung individueller Differenzen. Es erfordern vielmehr
derartige Untersuchungen stets andauernde, oft wochenlange Experimente mit
dem Einzelindividuum unter sorgsam vorbereiteten und innegehaltenen Bedin-
gungen. Die psychischen bzw. psychophysischen Bedingungen der Fabrikar-
beit speziell haben jene Untersuchungen bisher schon aus diesem Grunde natur-
gemäß nicht behandeln können. Sie befassen sich infolge ihrer vorwiegend
schulhygienischen Orientierung, außerdem aber auch aus Motiven, die in den
Prinzipien ihrer Methodik und in der Eigenart ihrer Instrumente liegen, in stark
vorwiegendem Maße mit der Untersuchung von Gedächtnisleistungen und As-
soziationsvorgängen. Daneben und die Ergebnisse d i e s e r Untersuchun-
gen men naturgemäß am meisten in Betracht mit dem Einfluß von Ermü-
dung und Uebung bei » g e i s t i g e r « Arbeit. Der Begriff des »Geistigen«
wird dabei ziemlich weit gefaßt, insofern er auch hochgradig typische, oft rein
mechanische Leistungen des psychophysischen Apparates (Lernen sinnloser
Silben u. dgl.) mitumfaßt. Bei der Untersuchung der Leistungsfähigkeit der
großindustriellen Arbeiterschaft würde der Gegensatz: »körperliche« »geisti-
ge« Arbeit jedenfalls dann gar keine oder nur eine sehr geringe Rolle spielen,
wenn man unter geistiger Arbeit n u r die »kombinatorische« Tätigkeit streng-
sten Wortsinns verstehen wollte. Zu einer solchen allerdings ist wenigstens der
Maschinenarbeiterschaft nur ausnahmsweise und mehr zufällig, und dann meist
nur im kleinen, Gelegenheit geboten. Dagegen fallen bei jeder weniger »an-
spruchsvollen« Fassung des Begriffs der »geistigeArbeit breite Regionen der
industriellen Arbeitsleistungen mit unter diesen Begriff. Und vor allem: die
U n t e r s c h i e d e in der Art der Leistungen, welche die Industrie von der
Arbeiterschaft verlangt, sind, an dem Gegensatz: »geistig–körperlic gemes-
sen, sehr große, größere jedenfalls, als der Gegensatz der am meisten »geistig«
arbeitenden Schicht der Arbeiterschaft zu den ihr übergelagerten sozialen
Schichten. In Wahrheit ist eben der Begriff des Geistigen hier gänzlich unange-
bracht und nicht für eine Klassifikation verwendbar. Es handelt sich vielmehr
um die Frage: in welchem Maße und in welcher Richtung eine Inanspruchnahme
des nervösen Z e n t r a l apparates durch bestimmte Arten von Leistungen
stattfindet oder nicht stattfindet, und
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 20
welche Art von Reaktionsweise desselben die Grundlage der betreffenden Lei-
stung bildet. Man hat z. B. nicht ganz mit Unrecht gesagt, daß die Tätigkeit ei-
nes am Zylinderbohrer bescftigten Arbeiters bei der Zurichtung des Materials
für die Maschine derjenigen eines Chirurgen hrend der Operation »dem We-
sen« nach: d a s s o l l t e h e i ß e n : den Funktionen des psychophysi-
schen Apparats nach, die in Anspruch genommen werden, gleichartig sei. Und
beispielsweise die Qualifikation einer mit der Bedienung mechanischer Web-
stühle betrauten Arbeiterin hängt in letzter Linie keineswegs von vorwiegend
»physischeQualitäten, sondern wesentlich davon ab, ob sie die »Geistesge-
genwart« und den »Ueberblick« besitzt, um eine so große Mehrzahl von Web-
stühlen g l e i c h z e i t i g zu beherrschen, daß dadurch die Verwendung
d i e s e r Art von Maschinen, und zugleich hiermit auch die Verwendung der
betreffenden Arbeiterin selbst, für den Arbeitgeber r e n t a b e l wird. Eine
wirklich n u r »körperliche«, d. h. nur bestimmte Muskeln und den zugeordne-
ten Innervationsapparat in Anspruch nehmende Arbeit gibt es streng genommen
nicht. Aber allerdings: bei einem Arbeiter, der etwa mit dem Ausschachten von
Erde beschäftigt ist, werden gewisse Muskeln und der ihnen zugeordnete Inner-
vationsapparat weitaus vorzugsweise in Anspruch genommen, ermüdet und ge-
übt, dagegen diejenigen Funktionen des psychophysischen Apparats, an welche
wir bei »geistiger« Arbeit zuerst denken: Assoziationsgeschwindigkeit, Fähig-
keit der Konzentration der Aufmerksamkeit usw., relativ wenig, so wenig, daß
die »Ermüdung« durch die Arbeit und ebenso die »Uebung« infolge der Arbeit
sich auf sie weniger erstreckt. W e n n man also, angesichts der Flüssigkeit
des Uebergangs zwischen den einzelnen Arten der Arbeit, generelle Unterschie-
de überhaupt machen will, so kann stets nur gefragt werden: Welche Leistungs-
fähigkeiten und Funktionen des psychophysischen Apparates des Arbeiters sind
es, die bei einer bestimmten Arbeit Gegenstand v o r z u g s weiser Inan-
spruchnahme und damit einerseits E r m ü d u n g , andererseits der U e -
b u n g sind? D i e s also re auch für eine Klassifikation der Arbeiter r
die Zwecke dieser Erhebung der maßgebende Gesichtspunkt. Es scheint sicher,
daß in manchen Industrien die technische Evolution sich in der Richtung zu-
nehmender Inanspruchnahme n e r v ö s e r Funktionen, namentlich der Auf-
merksamkeitsspannung und ähnlicher Gehirnleistungen, bewegt,
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 21
von Leistungen also, welche sich von denen der im üblichen Sinn »geistig« ar-
beitenden Schichten wesentlich durch die Monotonie ihres Inhaltes und die Ab-
wesenheit jener »Wertbeziehungen«, welche wir mit den Objekten »geistiger«
Arbeit zu verknüpfen pflegen, unterscheidet. Wieweit dies der Fall ist, ob und
welche Folgen es hygienisch, psychophysisch und »menschlic hat, kann
bestritten, wie diese Fragen sind nur die Erhebung selbst vielleicht lehren. Es
wäre für diesen Zweck den Herrn Mitarbeitern, soweit sie nicht etwa selbst neu-
rologisch gebildet sind, entschieden anzuraten, sich mit erfahrenen, und zwar
namentlich mit neuropathologisch umfassend orientierten A e r z t e n in Ver-
bindung zu setzen, um die unmittelbare nervöse Wirkung der Fabrikarbeit und
was als ätiologisches Moment, wenigstens nach manchen Ansichten, ebenfalls
als wichtig gilt der Begleitumstände der Arbeit (z. B. des Maschinenlärms):
die Art des Kräfteverbrauchs also, welche dadurch bedingt wird, kennen zu ler-
nen. Allerdings unter dem Vorbehalt, daß d i e s e Erhebung, der es auf die
Feststellung von E n t w i c k l u n g s tendenzen ankommt, dadurch nicht auf
die Bahn rein praktisch sozialhygienischer Erörterungen geschoben werden darf.
(Ueber diese Seite der Frage vgl. z. B. den Aufsatz von Dr. G. H e i l i g : Fa-
brikarbeit und Nervenleiden, in der »Wochenschrift für soziale Medizin« 1908,
Nr. 31 ff. und die dort zitierten Arbeiten von Dr. W. Hellpach und anderen.) Ei-
ne systematische Erhebung über die Tendenz zu Arbeiterneurosen innerhalb der
einzelnen Industrie- und Arbeiterkategorien bei den K a s s e n ä r z t e n wä-
re sehr erwägenswert. Ebenso wäre die Mitarbeit von erfahrenen Herrn aus die-
sen Kreisen bei der jetzt versuchten Erhebung besonders zu begrüßen.
Von den Einzelergebnissen, welche die e x p e r i m e n t a l -
psychologische Arbeit über den Verlauf der Ermüdungs- und Uebungsvorgänge
bisher zutage gefördert hat, nnten, so wichtig sie an sich sind, für die speziel-
len Zwecke dieser Erhebung die Bearbeiter aus den früher angegebenen Grün-
den vielleicht nicht allzuviel d i r e k t e Förderung erfahren. Von Nutzen
könnte ihnen immerhin möglicherweise die Bekanntschaft mit einigen der ein-
fachsten B e g r i f f e sein, welche in neueren Untersuchungen dieser Art
verwendet zu werden pflegen, so bestritten leider auch der Inhalt vieler von ih-
nen zur Zeit noch ist
1)
). Begriffe aber wie der der »Ermüdbarkeit« (gemessen
nach
1)
Eine Zusammenstellung der Probleme mit Literaturübersicht wird von
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 22
Tempo
und M des Fortschreitens der Ermüdung), »Erholbarkeit« (nach dem
Tempo der Wiederherstellung der Leistungsfähigkeis nach stattgehabter Ermü-
dung), »Uebungsfähigkeit« (nach dem Tempo der Leistungszunahme im Verlauf
der Arbeit), »Uebungsfestigkeit« (nach dem Maß des »Uebungsrückstandes«
nach Pausen und Unterbrechungen einer Arbeit), »Anregbarkeit« (nach dem
Maß, in welchem der »psychomotorische« Einfluß des Arbeitens selbst die Lei-
stung steigert), »Konzentrationsfähigkeit« und »Ablenkbarkeit« (je nach dem
Fehlen oder Vorhandensein und, in letzterem Fall, dem Maß einer Herabsetzung
der Leistung durch ungewohntes »Milieoder »Störungen«), »Gewöhnungsfä-
higkeit« (an ungewohntes Milieu, Störungen und im Prinzip das Wichtigste
an Leistungskombination), solche und ähnliche Begriffe sind ihrem Inhalt
nach hinreichend eindeutig, stellen meßbare Größen dar, sind ihrer Brauchbar-
keit nach erprobt und nnen dem Bearbeiter sehr wohl eine Uebersicht über
gewisse einfache Komponenten der persönlichen Arbeitsqualifikation und gege-
benenfalls eine handliche Terminologie bieten. Denn es kann mit ihnen sehr
wohl auch da operiert werden, wo der G r a d , in welchem die durch sie be-
zeichneten Komponenten die Arbeitsleistung beeinflussen, nicht r e c h n e -
r i s c h feststeht. Und darüber hinaus wären die Erörterungen z. B. über die
Beziehungen zwischen Ermüdung und Arbeitswechsel, über die subjektiven und
objektiven Folgen der »Eingestelltheit« auf eine bestimmte Arbeit, über die Art,
wie bei der Einübung komplizierter Arbeitsaufgaben und Kombinationen von
Arbeitsleistungen die Anpassung ihrer einzelnen psychophysischen Elemente
vor sich geht, über die Unterschiede sensorischer und motorischer Grundlagen
des Reagierens in ihren Folgen für Quantität und Qualität der Leistungen und
andererseits in ihrer Bedingtheit durch Differenzen der psychophysischen
Grundlagen der »Persönlichkeit«, diese und ähnliche Erörterungen innerhalb
der Fachpsychologie, so wenig endgültig Feststehendes sie in manchen Punkten
bisher geliefert haben, wären an sich sehr wohl geeignet, den Blick für eine Rei-
he allgemeiner Probleme zu schärfen, welche auch in die überaus komplexen
Fragen der Bedingungen industrieller Leistungsfähigkeit und der Wirkungen der
technischen Entwick-
mir im Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpol. (November- und Januarheft) versucht werden und
steht, soweit der Vorrat der Separatabzüge reicht, zur Verfügung.
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 23
lung, speziell der »Arbeitszerlegung« und ähnlicher Vorgänge, hineinragen. Ins-
besondere würde es höchst wichtig sein, wenn für die Frage des A r b e i t s -
w e c h s e l s in seinen Wirkungen und Voraussetzungen irgendwelche exak-
ten psychophysischen Unterlagen gefunden werden könnten. Dabei ist natürlich
im Auge zu behalten, daß in der vorliegenden Erhebung auch dieses Problem
durchaus vom Standpunkt der R e n t a b i l i t ä t aus anzugreifen ist. Dieser
Gesichtspunkt steht dem Arbeitswechsel meist e n t g e g e n , denn im großen
und ganzen ist er selbstverständlich ein Vorgang, der die kontinuierliche Aus-
nutzung der Betriebsmittel ungünstig, oft in höchst einschneidendem Maße un-
günstig, beeinflußt. Aber er b e g ü n s t i g t hin anderseits z. B. da, wo es nö-
tig wird, bei weitgehender Spezialisierung dem einzelnen Teilarbeiter Gelegen-
heit zu geben, die Folgen seiner Fehler durch Bescftigung in der folgenden
Etappe des Arbeitsprozesses selbst kennenzulernen. Jedenfalls ist in allen Fäl-
len, wo Arbeitswechsel sich findet, zunächst zu fragen: Welche Erfahrungen ha-
ben die B e t r i e b s l e i t e r in den einzelnen Industrien und bei den einzel-
nen Arbeitsleistungen mit einem etwaigen Arbeitswechsel innerhalb des Betrie-
bes in seiner Rückwirkung a u f d i e L e i s t u n g gemacht? Welche Un-
terschiede zeigen sich ferner in der Arbeitseignung, je nach der Art der Arbeit,
welche der Arbeiter unmittelbar v o r seinem Eintritt in die derzeitige Arbeits-
stellung, oder früher, oder endlich in der Jugend getan hat?? Diese Unterschiede
sind oft recht beträchtliche und auch rechnerisch (s. unten) feststellbare. Weiter-
hin aber men selbstverständlich ganz ebenso die Erfahrungen und die subjek-
tive Attitüde der Arbeiter selbst in Betracht. Diese ist selbstverständlich in wei-
testem Umfang durch rationale Momente bestimmt: Verschiedenheit der hne,
der Bequemlichkeit der Arbeit usw. Wo diese Momente ersichtlich den Aus-
schlag geben, handelt es sich natürlich nicht um Stellungnahme der Frage: ob,
rein a n s i c h , Gleichförmigkeit oder Wechsel der Arbeit vorgezogen wird,
und ob und wie dies durch physiologische oder psychologische Einflüsse be-
dingt sein nnte. Auch die Attitüde der Arbeiter zum Arbeitswechsel, rein als
solchem das heißt: in Fällen, wo die verschiedenen Arten der Arbeit k e i n e
erheblichen Verschiedenheiten der Annehmlichkeit oder Einträglichkeit aufwei-
sen –, ist aber natürlich weitgehend durch rationale ökonomische Ergänzungen
determiniert. Ueberall da,
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 24
wo er, innerhalb eines Betriebes, die L e i s t u n g nachhaltig drückt, infolge
der »Uebungsverluste« und der Notwendigkeit, sich neu einzuarbeiten, drückt er
auch den Lohnverdienst (sofern der Lohn Akkordlohn ist). Bei Industrien mit
vielseitiger Produktion (geringer Standardisierung) fällt in Zeiten der Depressi-
on, wo die einzelnen Aufträge an sich kleiner werden und die Vielseitigkeit der
Produktion also (auf die Zeiteinheit berechnet) s t e i g t , die Krise in Form
häufigeren Wechsels der Beschäftigungsart auf die Verdienstchancen der Arbei-
terschaft. Auch in solchen Fällen kann natürlich von einer physiologischen psy-
chophysischen Bedingtheit ihrer Stellungnahme zu diesen Vorgängen nicht die
Rede sein. Ebenso nicht, wenn beobachtet wird, daß ältere verheiratete Arbeiter
die G l e i c h förmigkeit des Verdienstes bei k o n t i n u i e r l i c h e r ,
wenn auch monotoner, Arbeit, jüngere und ledige dagegen im Interesse der
Erweiterung ihrer G e l e r n t h e i t und damit der Verwertbarkeit ihrer Ar-
beitskraft, – den Wechsel bevorzugen. Allein neben diesen und vielen ähnlichen,
in ihrer Tragweite eingehend zu studierenden, Fällen, wo ökonomische
Z w e c k erwägungen das Verhalten der Arbeiter determinieren, gibt es zahlrei-
che andere, wo ihr Verhalten durch solche n i c h t eindeutig bestimmt zu
sein, zuweilen diesen Motiven sogar zuwiderzulaufen scheint. Es scheint plausi-
bel und ist auch gelegentlich beobachtet worden, daß der Arbeitswechsel rein als
solcher, also: in solchen Fällen, wo ökonomische Chancen und Annehmlichkeit
bzw. Unannehmlichkeit der Arbeit n i c h t das entscheidende Wort sprechen,
ihnen als e r w ü n s c h t gilt. Ebenso sicher aber sind andere lle beglau-
bigt, in welchen er von ihnen n i c h t , und zwar auch dann nicht gewünscht
wurde, wenn ihnen die volle Garantie dar gegeben war, daß er ihnen keinerlei
ökonomischen Nachteil bringen könne; daß hierbei nicht ausschließlich zufällige
Umstände oder allgemeine innere Gebundenheit an die Tradition im Spiele war,
scheint dadurch wahrscheinlich gemacht, d zuweilen jenes Widerstreben sich
selbst bei solchen Arbeitern fand, die einen Wechsel des Betriebes und Ortes ih-
rer Beschäftigung mit Leichtigkeit, ja selbst mit Vorliebe vollzogen, sofern sie
nur auswärts in eine gleich a r t i g e Arbeitsstellung einrücken konnten. Ob
hier der Begriff der in ihrer Bedeutung für die Arbeitskurve anscheinend auch
experimentalpsychologisch meßbaren »Gewöhnung« und »Eingestelltheit« auf
die konkrete
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 25
Arbeitsleistung für eine Erklärung brauchbar wäre, ist nicht a priori zu entschei-
den.
Möglich erscheint in solchen und vielen ähnlichen Fällen stets, daß überhaupt
rein psychophysische Ueberlegungen eine eindeutige Antwort nicht gestatten
würden, da die mitspielenden Motive vielfach zu komplex sind. Diese Situation
wird sich häufig wiederholen. Im ganzen wird sich der Bearbeiter fast überall
da, wo er Veranlassung hat, Unterschiede in den allgemeinen »seelischeQua-
litäten der Arbeiter je nach ihrer Beschäftigungsart und Provenienz zu schildern,
also Unterschiede ihres »Charakters«, »Temperaments«, ihres »intellektuellen«
und »sittlichen« Habitus: – Dinge, welche auf die Qualifikation zu den einzelnen
Arten der Industriearbeit ganz ohne Zweifel oft von bedeutendem, zuweilen von
entscheidendem Einfluß sind –, bei dem heutigen Stand der psychologischen
Arbeit noch ziemlich häufig auf sich selbst angewiesen sehen. Zwar werden die
alten »vier Temperamente« heute meist durch die vier möglichen Kombinatio-
nen von 1. Intensität und 2. Dauer der jeweiligen »Gefühlslage« ersetzt. Der
qualitative Inhalt jedoch, der in den alten Begriffen steckte, geht dabei verloren.
Diesen letzteren durch eine andere Klassifikation der »Temperamente« zu erset-
zen, und vollends jene zahlreichen, vom Standpunkt der Psychologie aus höchst
komplexen qualitativen Differenzen des Habitus, die wir als » C h a r a k t e r «
bezeichnen, klassifikatorisch zu erfassen, ist den »differentialpsychologische,
»charakterologischen«, »ethologischen«, speziellpsychologische Arbeiten
(oder wie sonst diese Untersuchungen sich zu nennen pflegen) bisher nicht ge-
glückt, aus leicht verständlichen allgemeinen methodischen Schwierigkeiten
heraus, die in der Aufgabe selbst liegen. Eine allgemein anerkannte Klassifikati-
on für derartige Unterschiede gibt es heute nicht, insbesondere keine, die ohne
weiteres geeignet wäre, für die Zwecke der gegenwärtigen Erhebung als Grund-
lage zu dienen. Die psychologischen Unterscheidungen vollends, mit welchen
heute die Psychiatrie arbeitet, sind aus Gründen, welche der besonderen Natur
dieser Wissenschaft entstammen, teils zu einfache, teils umgekehrt zu spezifi-
sche. Dem Bearbeiter kann daher nur angeraten werden, die A e u ß e -
r u n g s f o r m der »Charakterunterschiede«, soweit solche wirklich unzwei-
deutig vorliegen: die im äußeren Verhalten zu beobachtenden Differenzen der
Reaktionsweise der Individuen also, woran er jene Unterschiede zu e r k e n -
n e n glaubt,
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 26
möglichst konkret und genau zu beobachten und so einfach und gemeinverständ-
lich wie möglich in der Alltagssprache zu beschreiben.
Ueberhaupt aber dürfte im Interesse des Zwecks dieser Erhebung den Herren
Mitarbeitern von vornherein eins dringend anzuraten sein, mlich: Falls sie auf
dem Wege der Lektüre oder der Anregung durch einen fachmännisch geschulten
Physiologen, Psychologen, Biologen, Anthropologen sich mit den allgemeinen
und prinzipiellen Erörterungen jener Disziplinen vertraut zu machen Gelegen-
heit hatten, sich gerade dann 1. nicht an diese Probleme, so interessant sie je-
dermann erscheinen müssen, zu »verlieren«, und vollends 2. sich unter keinen
Umständen irgendeiner der miteinander kämpfenden allgemeinen Theorien psy-
chologischer, biologischer, anthropologischer Art zu »verschreiben«. Nicht als
ob nicht jene allgemeinsten naturwissenschaftlichen Probleme schließlich auch
die Fragestellungen, mit welchen es diese Erhebung zu tun hat, berühren nn-
ten. Oder als ob nicht die Tatsachen, welche diese unsere Fragestellungen (gün-
stigenfalls) zutage fördern werden, möglicherweise auch für jene allgemeinen
Theorien Interesse gewinnen nnten. Beides ist möglich. Allein für die Unbe-
fangenheit der Ermittlung der T a t s a c h e n , welche die Grundvorausset-
zung des Gelingens dieser Erhebung und vor allem auch ihr wesentlicher
Z w e c k ist, könnte offenbar gar nichts Schlimmeres eintreten, als wenn jene
Tatsachenfeststellungen von Anfang an unter dem Gesichtspunkt der Erhärtung
der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer jener allgemeinen naturwissenschaftli-
chen Hypothesen vorgenommen würden. Führt es gelegentlich schon zu Irrgän-
gen, wenn naturwissenschaftliche F a c h männer ohne genaue Kenntnis öko-
nomischer Probleme solche Versuche unternehmen, so würden, wenn das glei-
che von N i c h t fachmännern geschähe, durch den alsdann unvermeidlichen
Dilettantismus die Interessen der Naturwissenschaften schwerlich gefördert, die
Zwecke dieser Erhebung aber, namentlich durch den stets so nahe liegenden
Versuch der Konstruktion aus einem einzelnen hypothetischen Gesichtspunkt
heraus, schwer geschädigt. Denn auch bei großer Gewissenhaftigkeit läge die
Gefahr immer vor, daß Tatsachen, die sich jener hypothetischen Deutung nicht
fügen wollen, ignoriert oder jedenfalls nicht mit dem erwünschten I n t e r e s -
s e und in der erwünschten Vollsndigkeit festgestellt und wiedergegeben
werden. Es kann daher nicht entschieden genug geraten werden, 1., soweit eine
Unter-
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 27
stützung durch naturwissenschaftliche Kenntnisse erwünscht ist, stets f a c h -
männische Mitarbeiter heranzuziehen, 2. Ergebnisse der naturwissenschaftlichen
Facharbeit d a n n zu verwenden, wenn es sich um anerkannte, auf Grund von
Beobachtungen feststehende T a t s a c h e n zusammenhänge handelt, die r
die Zwecke dieser Erhebung von Wichtigkeit sind, dagegen 3. allgemeine na-
turwissenschaftliche Theorien und Terminologien unbedingt n u r so weit zu
verwerten, als dies ausnahmsweise dem Zweck dieser Erhebung wirklich unmit-
telbar greifbaren Vorteil bringt u n d als ihnen die allgemeine Anerkennung
der F a c h leute zur Seite steht.
Diese Sätze gelten insbesondere auch da, wo die Fragestellung, wenn sie
wie dies kaum vermeidbar sein wird den Begriff der »natürlichen Anlagen«
verwendet, in den Bereich der biologischen V e r e r b u n g s f r a g e n ge-
langt. Sie kann, wenn überhaupt auf Gründe von Differenzen der Arbeitseignung
näher eingegangen wird, diese Berührung schwerlich vermeiden. Und sie soll sie
auch insofern nicht vermeiden, als man sich offenbar die Frage, inwieweit die
M ö g l i c h k e i t vorliegt, vorhandene Differenzen dieser Art auf erblich
überkommene Stammesverschiedenheiten zurückzuführen, notwendig in irgend-
einem Stadium der Untersuchung stellen m u ß . Die Frage ist nur, inwieweit
mit den Mitteln d i e s e r Erhebung die Untersuchung auf die Lösung d i e -
s e r Probleme abgestellt werden kann. Die glichkeit und selbst Wahr-
scheinlichkeit einer Bedeutung von »Rassenunterschieden« für die industrielle
Arbeitseignung, wie sie vorläufig am deutlichsten in den bekannten Erfahrungen
mit der textilindustriellen Verwendung der Neger in Nordamerika zutage getre-
ten ist, wie sie aber z. B. auch in Spanien, Belgien sich zu zeigen scheint, dürfte
an sich, in der Theorie, von niemandem bezweifelt werden nnen. Daß man
mit den einzelnen deutschen »Stämmen« in bezug auf ihre Brauchbarkeit ver-
schiedene Erfahrungen macht, werden sehr viele Betriebsleiter behaupten. Bay-
rische und nordwestdeutsche Eisenarbeiter, schlesische und westfälische Weber,
belgisch-rheinische und niederdeutsche Feinblechwalzer genießen eines sehr
verschiedenen Rufes, und die Liste wird unter den nden der Bearbeiter, wenn
sie überhaupt ihr Augenmerk darauf richten, gewaltig anschwellen. Daß die für
die Arbeitseignung wichtigen e r b l i c h e n Unterschiede vor allem auch auf
dem Gebiet der nervösen und
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 28
psychischen Konstitution, in der, nach Tempo, Stetigkeit und Sicherheit ver-
schiedenen Art des Reagierens und in den hierdurch mitbedingten »Tempera-
mentsdifferenzen« zu suchen seien, welche ihrerseits die, für den Großbetrieb
erforderliche, »Disziplinierbarkeit« beeinflussen, dürfte im Prinzip ebenfalls
nicht bestritten werden. Die Aufgabe wäre nun, das Chaos unkontrollierbarer
Behauptungen, welches dem Bearbeiter über diese Dinge zweifellos entgegen-
treten wird, zunächst, kritisch gesichtet, zu reproduzieren, dann aber, soweit ir-
gend möglich, daraufhin zu untersuchen, inwieweit im einzelnen Falle im
b i o l o g i s c h e n Sinn »ererbte« Differenzen als bestehend behauptet wer-
den und nicht etwa nur: Differenzen der T r a d i t i o n , wie dies in sicher-
lich sehr vielen, wenn nicht meisten, Fällen geschieht: der konventionelle, ganz
unklare, Begriff des »Volkscharakters« als die »Quelle« bestimmter Qualitäten
der Arbeiterschaft schiebt ja diese beiden himmelweit verschiedenen Dinge un-
entwirrbar ineinander. Nun gibt es notorisch kaum eine Fragestellung, die in fast
jedem Einzelfall ähnlich schwer eindeutig und erschöpfend zu beantworten -
re, – ja, es ist ein Standpunkt möglich, von dem aus sie in letzter Linie überhaupt
nie einer e i n deutigen Beantwortung fähig erscheint, und jedenfalls tobt über
die Interpretation auch relativ sicherer Tatsachen der Streit der entgegengesetz-
ten biologischen »Theorien«. Eben deshalb wird bei diesem Punkt, neben den
oben bereits erwähnten, jedenfalls auch noch d e r Fehler vermieden werden
ssen: zu glauben, daß aus dem h i e r erhobenen Material, welches günsti-
genfalls einige wenige Generationen umfassen kann, i r g e n d w e l c h e
Schlüsse zur Begründung der einen oder der anderen jener Theorien, also etwa:
des Darwinismus in seiner orthodoxen oder in der Weismannschen Fassung, des
»Neo-Lamarckismus« der Hering-Semonschen Theorie usw., gewonnen werden
könne, und daß es also die Aufgabe oder auch nur erwünscht sei, bei der Verar-
beitung des Materials dasselbe in dieser Richtung zu verwerten. Das ist selbst-
versndlich n i c h t der Fall. Gesetzt beispielsweise, es bestätigte sich die ge-
legentlich gemachte Beobachtung: daß die Bevölkerung von Gebieten, welche
lange Perioden hindurch Zentren industrieller (z. B. hausindustrieller) Arbeit
gewesen sind, ganz allgemein nicht nur industrieller Arbeit besonders stark
z u n e i g t , sondern auch was davon sorgsam zu unterscheiden ist für in-
dustrielle Arbeit, und zwar auch r solche
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 29
von anderer als der traditionell überkommenen Art, besser q u a l i f i z i e r t ,
d. h. also darin »übungshiger« ist als andere Bevölkerungen. Dann könnte die-
se Tatsache, falls alle Versuche, sie aus Einflüssen der Tradition, Erziehung,
Nachahmung usw. herzuleiten, fehlschlügen und also »Vererbung« jener Quali-
fikation wahrscheinlich re, nunmehr in der verschiedensten Art, z. B. sowohl
als Folge ursprünglicher, durch »Auslese« gezüchteter Keimanlagen, wie als Er-
gebnis kontinuierlicher »Uebung«, deren Folgen für die Entwicklung des physi-
schen Apparats vererbt worden seien, wie als Folge »mnemischer Engramme«,
und vielleicht noch auf mancherlei andere Art gedeutet werden, in w e l -
c h e r Art am leichtesten, nnten jedoch nur die biologischen F a c h l e u -
t e entscheiden, und diesen würde dasjenige Material, welches unsre Erhebung
eventuell zu bieten vermöchte, für eine solche Entscheidung ohne allen Zweifel
gänzlich u n z u l ä n g l i c h erscheinen. Eine »voraussetzungslos« an den
Sachverhalt herantretende Betrachtung würde sich wohl vor Augen halten, daß
man 1. j e d e menschliche Lebensäußerung als eine bestimmte, durch g e -
g e n w ä r t i g e Lebensumstände determinierte Art und Weise des »Funktio-
nierens« ererbter »Dispositionen«, welche ihrerseits durch v e r g a n g e n e
Lebensumstände in bestimmter Art »entwickelt« worden sind, auffassen
k a n n , 2. daß aber die Frage: ob g e n e r e l l die ererbten Anlagen oder die
erworbenen Qualitäten das ursächlich »Entscheidende« oder vorwiegend
»Wichtige« seien, schon im Prinzip falsch gestellt und also ßig ist. Falsch ge-
stellt deshalb, weil die Frage, ob etwas, als ursächliches Moment, »wichtig« sei
oder nicht, davon abhängt, w o f ü r es denn »wichtig« oder »unwichtig« sein
soll, das heißt unter welchem ganz speziellen Gesichtspunkt es im E i n z e l -
fall auf seine Bedeutsamkeit hin angesehen wird. Für die Fragestellungen dieser
Erhebung würde es sich falls es überhaupt gelingen sollte, an i r g e n d ei-
nem Punkt bis zu solchen Problemen vorzudringen – n i e m a l s um die »Lö-
sung« jener generellen Frage, sondern i m m e r lediglich und allein darum
handeln, ob d i e j e n i g e n speziellen Qualitäten, welche für bestimmte
konkrete Einzelleistungen von spezifischer E i g e n a r t die Verwendung
derjenigen Arbeiter, die sie besitzen, r e n t a b e l macht, in den betreffenden
E i n z e l fällen vorwiegend auf dem Einfluß von Lebensschicksalen (im weite-
sten Sinne des Wortes) der betreffenden Arbeiter beruhen können oder nicht.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 30
Dabei wäre aber von Anfang an mit der Möglichkeit zu rechnen, daß diese Frage
vielleicht für j e d e einzelne Kategorie von Arbeitern jeder einzelnen Indu-
strie v e r s c h i e d e n zu beantworten wäre; ferner natürlich auch mit der
unbezweifelbaren Tatsache, daß durch Lebensschicksale (»Milieu«) in erhebli-
chem Maße sowohl die Wirkungen von Anlageverschiedenheiten ausgeglichen
als Anlageähnlichkeiten differentiell entwickelt werden nnen und umgekehrt.
Und dabei bedürfte nun offenbar der gänzlich unpräzise und das allerheterogen-
ste vereinigende Begriff des »Milieus« in j e d e m einzelnen Fall einer Zerle-
gung in die verschiedenen Gattungen von Lebensbedingungen, die unter ihm zu-
sammengefaßt werden. Das Maß der Entwicklung oder Verkümmerung v o r -
h a n d e n e r ererbter »Anlagen«, welche ihrer Art nach für die Eignung zur
modernen Industriearbeit wichtig werden können, hängt insbesondere zweifellos
stark von J u g e n d e i n f l ü s s e n ab. Sowohl allgemeine Erwägungen als
die, allerdings sehr wenigen und unsicheren, experimentellen Beobachtungen,
welche z. B. über den Zusammenhang der qualitativen Exaktheit motorischer
Leistungen mit dem Standard der intellektuellen Entwicklung, oder über den
Zusammenhang der Ermüdbarkeit und assoziativen Leistungsfähigkeit mit der
sozialen Provenienz bisher vorliegen, machen dies wahrscheinlich. Solche Ju-
gendeinflüsse werden unter anderem durch die Art der Ernährung und Erzie-
hung, den Grad des Anreizes und der Gelegenheit zu intellektueller Betätigung,
den Reichtum des Anschauungsstoffes, den das Milieu der Jugendjahre bietet,
ausgeübt. Die, meist durch die Klassenlage der Eltern gegebene Enge oder Wei-
te der materiellen Verhältnisse und des »geistigen Horizonts« des Elternhauses,
Schulbildung und Militärdienst, die Volkszahl und der ökonomische und kultu-
relle Charakter der Heimatsgemeinde bzw. der Gemeinde, in der die Jugend ver-
lebt wurde, und sodann die jugendlichen Berufsschicksale üben aller Wahr-
scheinlichkeit nach einen so nachhaltigen Einfluß auf die Richtung, welche die
Entwicklung nimmt, auf die Entfaltung oder Hemmung einzelner Fähigkeiten,
daß wie dies z. B. für zeichnerische Begabung experimentell wahrscheinlich
gemacht worden ist – nur s e h r erheblich übernormale Begabung für be-
stimmte Leistungen die Fähigkeit zu besitzen scheint, sich gegenüber jenen,
durch die soziale und kulturelle Schichtung gegebenen Bedingungen, unter wel-
chen die Lebenszeit mit der
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 31
stärksten Plastizität stand, überhaupt in erkennbarem Grade durchzusetzen.
Auch von denjenigen allgemeinen »Dispositionen« des »psychophysischen Ap-
parats« also, welche für die Arbeitseignung wichtig werden nnen, ist ein Teil
zweifellos, durch fördernde »Schulung« einerseits, durch hemmende oder direkt
schädigende Lebensgewohnheiten einer Bevölkerung andererseits (sowohl intra-
wie extrauterin) e r w e r b b a r . Die Unterschiede ländlicher und städtischer
Herkunft unter »Stadt« wären dabei Orte beliebiger Kleinheit, welche das den
Städten eigentümliche geschäftliche Leben mit allen seinen Konsequenzen auf-
weisen, zu verstehen – macht sich bei genauer Durchsicht der Lohnkostenkalku-
lationen industrieller Betriebe (s. unten) zuweilen äußerst deutlich bemerkbar.
Schon diese Erwägungen würden es methodisch ratsam erscheinen lassen, bei
der Analyse von Differenzen der Arbeitseignung auf ihre Gründe hin nicht von
Erblichkeitshypothesen a u s z u g e h e n , sondern, mit dem steten Bewußt-
sein, daß bei solchen Unterschieden das »Erbgut« überall mitsprechen k a n n ,
doch die Prüfung der Einflüsse der sozialen und kulturellen Provenienz, der Er-
ziehung und Tradition stets z u e r s t zu untersuchen und mit diesem Erklä-
rungsprinzip so weit vorzudringen, wie dies irgend möglich ist. In dem früher
gebrauchten Beispiele von der (anscheinenden) spezifischen Qualifikation alter
Industriebevölkerungen für industrielle Arbeit (NB. gemeint ist dabei stets: auch
a n d e r e r als der durch Tradition überkommenen Art!) nnte sich z. B. et-
wa herausstellen, daß v e r s c h i e d e n e alte Industriebevölkerungen in die-
ser Hinsicht sich v e r s c h i e d e n verhalten, die eine sich geneigt zeigt, re-
lativ leicht zu anderen Arten von industrieller Arbeit überzugehen, eine andere
dagegen nicht (etwa: Schlesien gegenüber den mitteldeutschen Hausindustriebe-
völkerungen). In diesem Falle liegt an sich der Verdacht, daß es sich hier um er-
erbte Differenzen handle, natürlich ziemlich nahe. Gleichwohl würde man auch
in derartigen Fällen z u n ä c h s t auf das genaueste die möglichen Einflüsse
der Tradition und der sozialen und kulturellen »Umwelt« zu untersuchen und zu
berücksichtigen haben, daß möglicherweise nicht sowohl die E i g n u n g als
die N e i g u n g r den Uebergang zu einem Berufe fehlt. Bei möglichst »ex-
akte Verfahren re zu fragen: inwieweit die Art der früheren industriellen
Beschäftigung der miteinander verglichenen
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 32
Bevölkerungen zu den als Ersatz (aus ökonomischen Gründen) überhaupt in Be-
tracht kommenden industriellen Arbeitsgelegenheiten physiologische und psy-
chologische Verwandschaft zeigt, oder inwieweit umgekehrt die von der älteren
Beschäftigung »eingeübteQualitäten und die »Eingestelltheit« auf die frühere
Art der Beschäftigung gegenüber der Anpassung an andersartige Anforderungen
»hemmend« wirken kann. Allein: soweit würde die Analyse zunächst kaum fort-
schreiten können, vielleicht auch keinen Anlaß dazu haben. Denn ehe man an
diese schwierigen Probleme heranträte, müßte v o r h e r untersucht sein: in-
wieweit die allgemeine soziale Schichtung und ökonomische Struktur, die Dich-
tigkeit städtischer Zentren, die Einseitigkeit oder Vielseitigkeit der Produktions-
richtungen im allgemeinen, die historisch überkommenen Lebensgewohnheiten
und die in der Art der Erziehung liegenden Bedingungen derjenigen Regionen,
in welchen sich diese Umgestaltungsprozesse vollziehen, das Haften an der Tra-
dition oder umgekehrt die innere Anpassungsfähigkeit an Neuerungen begünsti-
gen, und endlich was ebenfalls vorkommen kann: inwieweit ein Zustand be-
steht, bei dem die abwandernde alte durch stetigen Zufluß neuer, aus anderem
Kulturniveau stammender Arbeiterbevölkerungen ersetzt und so das »Haften an
der Tradition« im einen Falle, der Wechsel der Beschäftigung im anderen nur
s c h e i n b a r Lebensäußerungen der g l e i c h e n Bevölkerungsmassen
darstellen. Erst nach Erwägung derartiger Einflüsse und ihrer möglichen Trag-
weite würde man, falls sie zur Erklärung nicht ausreichen, auf jene Fragen der
psychophysischen »Eingestelltheit«, und z u l e t z t eventuell auf den Einfluß
erblicher Qualitäten kommen.
Dies Verfahren scheint um so geratener, als, wenigstens für das Gebiet
p s y c h i s c h e r Leistungen, es anscheinend keineswegs ganz einfach zu
formulieren ist, w a s eigentlich auf dem für die psychophysische Arbeits-
eignung relevanten Gebiet nach den vorliegenden Erfahrungen der Biologie
und Psychiatrie durchweg oder wenigstens regelmäßig Gegenstand der erblichen
Uebertragung ist. Wen man z. B. etwa sagen wollte: daß nicht psychische »In-
halte«, sondern nur »formale« Qualitäten des Ablaufs psychischer Vorgänge,
oder: daß nicht »Tätigkeitsrichtungen« des Seelenlebens, sondern nur allgemei-
ne »Fähigkeiten«, oder: daß nicht »aktuelle« Qualitäten des persönlichen Ver-
haltens, sondern nur mehr oder minder bestimmte »Dispositionen« zu einem
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 33
solchen oder: daß nur der psychophysische »Apparat«, nicht aber die »Funkti-
on«, die er im Leben entwickelt, vererbt werde, so sind alle solche und ähnli-
che Gegensätze ihrer Natur nach in ziemlich weiten Grenzen flüssig. Sie können
jedenfalls nur als eine energische W a r n u n g davor dienen, k o m p l e x e
psychische Eigenschaften und »Charakterqualitäte einer Bevölkerung allzu
unbesehen der »Erblichkeit« auf das Konto zu setzen. Heute fehlen vorerst noch
alle wissenschaftlichen Hilfsmittel, um die Erblichkeit irgendwelchen für die In-
dustrie entscheidender Qualitäten e x a k t festzustellen. Anthropologische
Messungen und Untersuchungen breiter Volksschichten unter Zugrundelegung
der Klassifikation nach »Berufeoder vielmehr da ja (was eventuell wohl zu
beachten wäre!) n u r d i e s wirklich entscheidet nach der technischen
L e i s t u n g , wie sie sich in der Art der Stellung im Arbeitsprozeß ausdrückt,
vorzunehmen, ist nicht versucht, auch schwerlich in großem Umfang, am aller-
wenigsten aber für private Erhebungen, durchführbar. Nur militärische Instanzen
könnten hier Erhebungen durchführen, und nur an Rekruten, also an Arbeitern,
deren »Berufskarriere« eben erst b e g i n n t . r experimentalpsychologi-
sche Massenerhebungen gilt, abgesehen davon, daß ihre Maßmethoden, wie
oben betont, jedenfalls zur Zeit nicht dafür entwickelt sind, das gleiche. Soweit
also Urteile über die Arbeitseignung breiterer M a s s e n und ihre Gründe in
Frage stehen, nnte man heute nur da, wo p h y s i o l o g i s c h e Differen-
zen der einzelnen Arbeiterkategorien durchaus augenfällig sind, oder wo ethni-
sche Verschiedenheiten zugleich mit deutlicher, seit Generationen zu beobach-
tender Differenzierung in der Beschäftigungsart und mit offensichtlichen, seit
Generationen wiederkehrenden, n i c h t aus der K u l t u r eigenart der Hei-
mat erklärlichen Unterschieden des »Temperaments« und »Charakters« Hand in
Hand gehen, in die Lage kommen, d i r e k t eine Bedingtheit durch Erblich-
keit (im biologischen Sinn des Wortes) mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
zu behaupten. Wo ferner eine Arbeiterschaft analysiert wird, welche in der
Hauptsache nicht aus einigen wenigen, ethnisch und kulturell klar geschiedenen,
Gebieten sich rekrutiert, sondern sehr stark gemischt ist, da wird man der Art
und dem Maße der Heimateinflüsse für alle diese verschiedenen Provenienzen
häufig genug gar nicht nachzugehen imstande sein. Aber auch wo die Bedin-
gungen besonders günstig liegen, wird man bei der g e g e n -
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 34
w ä r t i g e n Erhebung der Bearbeiter vermutlich gut tun, in allen llen, wo
die Zurückführung auffallender und sich immer wieder aufdrängender Unter-
schiede der Arbeitseignung w e d e r auf ökonomisch und traditionelle Bedin-
gungen der Provenienz n o c h auf ganz augenscheinlich erbliche p h y s i -
s c h e Qualitäten mit Sicherheit möglich ist und das wird leider wohl die
Mehrzahl aller sein –, lediglich die T a t s a c h e der Existenz jener Unter-
schiede eingehend darzulegen und zu e r w e i s e n , ihre kausale Deutung
aber aus Erblichkeit, Tradition oder anderen Umständen d a h i n g e s t e l l t
sein zu lassen.
Dies um so mehr, als noch ein Umstand äußerst erschwerend für die eindeuti-
ge Zurückführung von Unterschieden der Arbeitseignung auf Unterschiede letz-
ter, einfacher, auf »Anlagen« beruhender Qualitäten ins Gewicht fällt, wo immer
diese nicht rein physischer, sondern auch p s y c h i s c h e r Art sind. Jeder
Blick in die Arbeiten der Experimentalpsychologie zeigt, wie außerordentlich
komplex die Komponenten einer im Laboratorium beobachteten Arbeitskurve
und wie schwer oft die Deutung ihres Verlaufs und vollends die Rückführung
von Unterschieden auf (vorläufig) »letzte« Differenzen der Eigenart der Ver-
suchspersonen sind. Und dies bei Versuchen, welche unter strengster Kontrolle,
und vor allem unter der gewissenhaftesten Mitwirkung der untersuchten (und
zum Zweck der Untersuchung stets einem bestimmten Training und einer kon-
trollierten Lebensführung unterworfenen) Personen selbst vorgenommen wer-
den. Alle feineren Nuancen der Veranlagung zu bestimmten Leistungen aber,
welche sich dabei mit sehr verschieden großer Sicherheit als letztlich ent-
scheidend herausfinden lassen, werden nun in der Praxis der Fabrikarbeit fast
immer durch die u n g l e i c h g r o b s c h l ä c h t i g e r wirkenden Be-
dingungen, unter denen die Höhe und der Verlauf der Arbeitskurven dort steht,
verdeckt werden. Die Wirkung der Ernährungsgewohnheiten (welche zum Teil
mit der haushälterischen Qualifikation der Arbeiterfrauen zusammenhängt), der
Alkoholkonsum, die wohnungshygienischen Verhältnisse, unter Umständen die
Einflüsse der Art des Sexuallebens, vor allem aber wovon schon oben die Re-
de war und noch näher zu sprechen sein wird der Grad des ö k o n o m i -
s c h e n I n t e r e s s e s , welches den Arbeiter an die Höhe seines Lohnver-
dienstes und damit an das Maß seiner Leistung bindet: diese Dinge beeinflus-
sen die Entfaltung der Leistungsfähigkeit
II. Die naturwissenschaftliche Probleme der Erhebung. 35
einer Arbeiterschaft in so überragendem Me, daß da, wo zwischen diesen grö-
beren Determinanten der Arbeitsleistung erhebliche Unterschiede bestehen, häu-
fig jede Chance der Erkennung jener weit feiner und indirekter sich äußernden
Unterschiede der psychischen »Anlagen« fehlen wird. Unterschiede in dem Ma-
ße der spezifischen »Disposition«, eventuell also der erblichen Veranlagung, zu
einer Arbeitsleistung treten ja naturgemäß überhaupt nur bei g l e i c h e m
Maß der Intensität der W i l l e n s anspannung wirklich sicher erkennbar zuta-
ge. Da nun ein Mittel zur objektiv sicheren Messung dieses rein subjektiven
Momentes naturgemäß nicht besteht, so geht die Experimentalpsychologie in
vielen llen von dem Grundsatz aus, daß nur dann, wenn mehrere Personen die
gleiche Arbeitsleistung unter der Bedingung vollziehen, das absolute M a -
x i m u m dessen, was sie leisten können, auch wirklich zu leisten, das Expe-
riment über die Verhältnisse der größeren und geringeren D i s p o s i t i o n
(eventuell also auch: der erblichen Veranlagung) für diese Leistung wirklich ei-
nen leidlich sicheren Aufschluß geben könne. Derartige Bedingungen sind im
Laboratorium, wo die Versuchspersonen ideelles Selbstinteresse am Erfolg des
Versuches haben und dieser selbst nur ganz kurze Zeit dauert, leicht herzustel-
len. Dagegen bei der kontinuierlichen lebenslänglichen Arbeit in der Fabrik
pflegen diejenigen Arbeiter, welche durch maximale Leistungen einen das ge-
wöhnliche Maß erheblich übersteigenden Verdienst erreichen können und zu er-
reichen streben, und welche deshalb besonders häufig als Vorarbeiter verwendet
werden die sogenannten »Renne–, durch die Solidarität der Mitarbeitenden
direkt oder indirekt gezwungen zu werden, zu »bremsen«, d. h. sich in denjeni-
gen Grenzen mittlerer Anspannung zu halten, welche den übrigen das »Mit-
kommen« gestattet, und welche die von den Arbeitern stets in Betracht gezogene
Gefahr, daß die Steigerung ihres Arbeitsverdienstes durch besonders hohe Lei-
stungen den Arbeitgeber zur Herabsetzung des Akkordsatzes veranlassen nn-
te, nicht entstehen läßt. Bei der gegenwärtigen Erhebung kann jenes methodi-
sche Prinzip der Experimentalpsychologie dazu veranlassen, gerade solche
»Musterarbeiter«, wenn möglich, einer besonders eingehenden Prüfung auf die
Bedingungen ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit, insbesondere auf ihre ethni-
sche, sozial, kulturelle Provenienz zu unterziehen, vor allem aber: Resultate für
Differenzen der Arbeits e i g n u n g
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 36
überhaupt n u r da zu suchen, wo das Lohnsystem und seine Handhabung ei-
nen genügenden Anreiz zur M a x i m a l anspannung enthält. Und um den Ein-
fluß des ererbten psychophysischen Apparates und der sozialen und kulturellen
Tradition und Umwelt der Arbeiter gesondert festzustellen, dergestalt, daß man
über allgemeine unbeweisbare Hypothesen hinauskommt, würde es sorgsamer
Untersuchung von solchen Fällen bedürfen, welche in bezug auf alle jene zuletzt
erwähnten gröber, direkter und unmittelbarer sichtbar wirkenden Determinanten
der Leistung möglichst g l e i c h a r t i g sind, und in denen nicht, durch das
vielfach noch immer traditionelle System der (faktisch) festen »Akkordgrenze«,
die Arbeitsanspannung der Arbeiter in t r a d i t i o n e l l e n Schranken
gehalten wird. Nur bei einem T e i l der Arbeiterschaft eines T e i l s der
Großindustrie besteht danach die Chance, auch mittels noch so genauer Unter-
suchung der Arbeitsleistungen ein exaktes Bild von dem Maß der Arbeits -
e i g n u n g zu gewinnen. –
Angesichts so vieler Schwierigkeiten nnte die Frage aufgeworfen werden,
w a r u m an dieser Stelle die »naturwissenschaftliche« Seite der in dieser Er-
hebung in Angriff genommenen Probleme überhaupt so eingehend erörtert wor-
den sei. Dies geschah aus einem mehrfachen Grunde. Einmal erscheint es bei
Inangriffnahme einer Erhebung, wie der gegenwärtigen, prinzipiell richtig, sich
auch über die E x i s t e n z solcher »letzter« Fragen Rechenschaft zu geben,
für deren zuverlässige Beantwortung zur Zeit in der übergroßen Mehrzahl der
Fälle die Voraussetzungen fehlen, die. aber beantwortet werden m ü ß t e n ,
um wirklich endgültige Ergebnisse zu erzielen. Es ist daher 1. eine unabweisli-
che Pflicht, sich klarzumachen, wo der »ideale« Zielpunkt der wissenschaftli-
chen Analyse liegen würde, und 2. wünschenswert, daß die (an jenem Ziel ge-
messen) wahrscheinlichen L ü c k e n dessen, was heute an Erkenntnis er-
reicht wird und vielleicht in absehbarer Zeit erreichbar ist, dem Bearbeiter selbst
und seinen Lesern in ihrer Existenz und ihren Gründen vollsndig erkennbar
gemacht werden. Ferner aber wendet sich der Verein mit seiner Aufforderung
zur Mitarbeit durchaus nicht nur an rein ökonomisch geschulte Bearbeiter, son-
dern ebenso an die Vertreter naturwissenschaftlicher Disziplinen. Mag die Zeit
noch fern sein, wo auf Fragen, wie die vorstehend berührten, endgültige Ant-
worten vorliegen, so steht
III. Die Methodik der Erhebung. 37
wie im folgenden noch zu erörtern sein wird der Weg dazu, einen ersten
A n f a n g für ihre Inangriffnahme auch von der Seite derjenigen For-
schungsmittel, welche uns auf unserm Fachgebiet zu Gebote stehen, doch
durchaus offen, und es darf gehofft werden, daß die heute vorhandene Kluft
zwischen den Arbeitsmitteln beider Disziplinen sich bei gemeinsamer Arbeit
langsam verengern wird.
III.
Aus allem bisher Gesagten werden die Herren Mitarbeiter jedenfalls entneh-
men, inwiefern im vorliegenden Fall etwas in wesentlichen Punkten a n d e -
r e s erstrebt wird als eine Darstellung der »Morphologie« und der technisch-
geschäftlichen Organisation der einzelnen Industrien. Man kann dieses »Ande-
re« wohl dahin formulieren: E s s o l l e n u n t e r s u c h t w e r d e n
e i n e r s e i t s d i e A r t d e r » A u s l e s e p r o z e s s e « , w e l -
c h e d i e G r o ß i n d u s t r i e , d e n i h r i m m a n e n t e n B e -
d ü r f n i s s e n g e m ä ß , a n d e r j e n i g e n B e v ö l k e r u n g ,
d i e m i t i h r e m B e r u f s s c h i c k s a l a n s i e g e k e t t e t
i s t , v o l l z i e h t , a n d e r e r s e i t s d i e A r t d e r » A n -
p a s s u n g « d e s » k ö r p e r l i c h « o d e r » g e i s t i g « a r -
b e i t e n d e n P e r s o n a l s d e r G r o ß i n d u s t r i e n a n d i e
L e b e n s b e d i n g u n g e n , d i e s i e i h m z u b i e t e n h a -
b e n . Auf diese Weise soll allmählich der Beantwortung der Frage näherge-
kommen werden: W a s f ü r M e n s c h e n p r ä g t die moderne Groß-
industrie kraft der ihr immanenten Eigenart, und w e l c h e s b e r u f l i -
c h e (und damit indirekt auch: a u ß e r b e r u f l i c h e S c h i c k s a l
bereitet sie ihnen?
Der »Arbeitsplan« und der beigegebene Fragebogen haben zunächst und vor
allem den Zweck, dem Mitarbeiter als provisorisches Hilfsmittel zur Orientie-
rung über solche Punkte zu dienen, welche für den Zweck der Erhebung wohl
jedenfalls von Wichtigkeit sein werden. –
Auch unter den Fragen des »Arbeitsplans« findet sich dabei eine erhebliche
Anzahl von solchen, deren Beantwortung nicht um ihrer selbst willen gewünscht
wird, sondern nur deshalb erforderlich scheint, weil ohne sie das Vordringen zu
den eigentlichen Aufgaben der Erhebung nicht möglich wäre.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 38
So ist z. B. die Ermittelung der glichen A r b e i t s d a u e r und ihrer
Bedeutung, angesichts der umfangreichen Literatur über diesen Gegenstand, in
keiner Weise S e l b s t zweck der Erhebung. Aber die Arbeitsdauer bedeutet
selbstverständlich einerseits eine sehr wesentliche Komponente des »Berufs-
schicksals« der Arbeiter. Auf der anderen Seite ist sie ein sehr wichtiges Sym-
ptom für diejenige Art von Leistungen und also für diejenigen Qualitäten, wel-
che die betreffende Industrie von ihren Arbeitern verlangt, namentlich für das
Maß der qualitativen Intensit oder Extensität der Arbeit, welches sie bean-
sprucht. Nicht nur hohe Grade rein physisch-muskulärer, sondern auch hohe
Grade nervöser Leistungen wird eine Industrie mit sehr ausgedehnter Arbeitszeit
nicht erwarten können. Andererseits wird eine Industrie, welcher nur Arbeits-
kräfte zur Verfügung stehen, deren Fähigkeit und Erziehbarkeit zu intensiver
Arbeit, aus Gründen der ihnen angebotenen oder anerzogenen oder der ihnen
durch Anlage und Erziehung fehlenden Eigenschaften, gering ist, den Versuch
machen, durch lange Arbeitszeiten existenzmöglich zu bleiben. Nicht diese
wohlbekannten Konsequenzen zu entwickeln kann hier die Aufgabe sein. Aller-
dings aber kommt für die Zwecke der Erhebung sehr wohl auch die Frage in Be-
tracht, wie sich eigentlich für die e i n z e l n e n Industrien das Problem des
Verhältnisses zwischen Arbeitszeit und Arbeitsleistung praktisch d. h. unter
R e n t a b i l i t ä t s gesichtspunkten – heute gestaltet hat. Der Zustand, der
sich z. B. vor etwa 50 Jahren im Bergbau, bei vorwiegend reiner Handarbeit und
mächtiger Expansion der Profitchancen, entwickelte: daß die Arbeiter bei ratio-
nell kalkuliertem Akkord in 6 Stunden tatsächlich ebensoviel leisteten wie vor-
her in 10 bei traditionellen Lohnsätzen (allerdings unter u n g l e i c h stärke-
rer Erschöpfung), und daß man nun in vier Schichten ungeheure Produktions-
steigerungen erzielte, besteht bei Arbeitern, die an die Maschine gekettet sind,
nicht mehr in gleicher Art, und es re daher für j e d e Industrie nach g-
lichkeit auch festzustellen, wie sich Leistung und Lohnkosten nach den ihr spe-
ziell eigentümlichen technischen Bedingungen je nach der Dauer der Arbeitszeit
stellen, soweit e x a k t e Erfahrungen vorliegen. Aber vor allem wäre dabei
doch zu fragen, i n w i e w e i t etwa im Einzelfall die Arbeitszeit »Symptom«
bestimmter Q u a l i t ä t e n der Arbeiterschaft sei. (Daß dies in Wirklichkeit
durchaus nicht immer der Fall ist, darf als be-
III. Die Methodik der Erhebung. 39
kannt vorausgesetzt werden.) Ebenso beruht die Art der Verteilung und Länge
der A r b e i t s p a u s e n da, wo sie überhaupt rationelle und nicht (wie dies
die Regel sein dürfte) rein traditionelle Motive hat, fast immer auf Erfahrungen
über deren Rückwirkung auf die Arbeitsleistung. Es re daher, ebenso wie für
die Arbeitszeit, so auch r die Arbeitspausen, tunlichst exakt festzustellen, ob
und w e l c h e Erfahrungen auf diesem Gebiet bei den einzelnen Kategorien
der Arbeiter, nach örtlicher und sozialer Herkunft, Erziehung und Stellung im
Arbeitsprozesse gesondert, gemacht worden sind (insbesondere natürlich dann,
wenn in letzter Zeit Venderungen, sei es der Arbeitsdauer, sei es der Pausen-
verteilung, vorgenommen wurden), wie sich beispielsweise die Arbeitsfrische zu
den verschiedenen Tageszeiten dabei entwickelt hat, wie sich die Arbeiter zur
»englischen« Tageseinteilung verhalten usw., Fragen, die freilich in sehr vie-
len Fällen durch die Herrschaft rein gewohnheitsmäßiger Regelung dieser Ver-
hältnisse nur beschränkte Ausbeute gewähren werden.
Eine ähnliche Rolle ist die Frage nach den L o h n f o r m e n zu spielen
bestimmt. Es darf bei den Herren Mitarbeitern die Bekanntschaft mit der gang-
baren Literatur hierüber (z. B. mit dem Buche von Schloß-Bernhard) als bekannt
vorausgesetzt werden. Im übrigen ist ja zur Zeit eine dringend zur Lektüre zu
empfehlende umfangreiche Publikation des Vereins für das Wohl der arbeiten-
den Klassen im Gange, welche eben diesen Punkt, zunächst für die Eisen- und
Maschinenindustrie, eingehend behandelt. Wenn also eine Analyse des Lohnsy-
stems nur um seiner selbst willen n i c h t im Plan dieser Erhebung liegt, so
werden die Herren Mitarbeiter doch selbstverständlich nicht umhin können,
sich, vor allem weiteren, r ihr Arbeitsgebiet mit diesem Punkt auf das einge-
hendste vertraut zu machen. Denn einerseits ist die Einwirkung des Lohnsy-
stems auf die Arbeitsleistungen und damit auch diejenigen Qualitäten nament-
lich psychischer Art welche die Arbeiter entwickeln, die denkbar einschnei-
dendste. In außerordentlich vielen llen, in denen geglaubt wurde, man habe es
mit unabänderlichen, sei es angeborenen, sei es durch Tradition und Milieu be-
stimmten Qualitäten einer bestimmten Arbeiterschaft, insbesondere mit ein für
allemal gegebenen physisch oder psychisch bedingten Schranken ihrer Lei-
stungs f ä h i g k e i t zu tun, haben Aenderungen des Lohn-
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 40
systemes nach hinlänglicher Wirkungszeit gezeigt, daß in Wahrheit die Art ihres
I n t e r e s s e s an Quantität oder Qualität der Arbeit das Entscheidende war.
Dazu treten die weittragenden Folgen, welche die Differenzen der Lohnsysteme
für die Interessenlage der einzelnen Schichten der Arbeiterschaft eines Betriebes
im Verhältnis zueinander, zu den Werkführern, Vorarbeitern, Akkordgruppen-
genossen usw. mit sich bringt. Es hängt die ganze innere Struktur des Arbeits-
prozesses und die Bildung »sozialer« Gruppen, in welche die Arbeiterschaft zer-
fällt, die mehr monarchisch-autoritäre oder mehr voluntaristische Art der Ar-
beitsverteilung und Disziplin innerhalb dieser Gruppen (Tatsachen, die für die
Beantwortung vieler Fragen des »Arbeitsplans« hervorragend wichtig sind) mit
dem Lohnsystem auf das innigste zusammen. Die allgemeinen Typen, um wel-
che es sich dabei handelt, sind aus der Literatur bekannt, aber die Feststellung
für jeden Einzelfall ist selbstverständliche Voraussetzung jeden Eindringens in
die »Berufspsychologie« einer konkreten Arbeiterschaft. Wo verschiedene
Großindustrien miteinander auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren, aber auch, wo
innerhalb des gleichen Betriebes verschiedene Arten von Arbeit von, einander
sozial gleichstellenden, Arbeiterkategorien geleistet werden, gehört die »Lohn-
politik« zu den wichtigsten Problemen des Unternehmens und re, soweit dar-
über irgend exakte Aufschlüsse zu erlangen sind, möglichst eingehend zu studie-
ren. Andererseits aber ist die Art des bestehenden Lohnsystems, wenigstens da,
wo es n i c h t rein durch Tradition überkommen, sondern rational zum Zweck
optimaler Arbeitsanspannung gestaltet ist, eines der allerwichtigsten Symptome,
sehr oft ein direkter Fingerzeig dafür, auf welche Q u a l i t ä t e n ihrer Ar-
beiterschaft die betreffende Industrie das entscheidende Gewicht legen muß, und
welche sie demgemäß durch direkte oder indirekte Prämiierung ihren Arbeitern
bzw. den einzelnen Gruppen derselben anzuerziehen trachtet. Freilich ist sowohl
Lohnsystem wie Lohnsatz der einzelnen Kategorien von Arbeitern vielfach kei-
neswegs rational, sondern durch, zuweilen ganz irrationale, Traditionen be-
herrscht. Es wird daher in jedem Falle notwendig sein, nicht nur die Existenz ei-
nes bestimmten Lohnsystems festzustellen, sondern zunächst: inwieweit Traditi-
on und inwieweit reine rationale Erwägungen dasselbe bestimmt haben, inwie-
weit es letzterenfalls Arbeitsanspannung oder »Bremse provozieren kann, und
III. Die Methodik der Erhebung. 41
vor allem auch: ob in letzter Zeit Aenderungen, aus welchen Erfahrungen her-
aus, zu welchen Zwecken und mit welchem Ergebnis sie vorgenommen sind.
Selbstverständlich re dabei möglichst sorgfältig festzustellen, ob etwa gleich-
zeitig mit der Aenderung des Lohnsystems oder was ebenfalls charakteristisch
sein kann ob im G e f o l g e dieser Aenderung ein, plötzlicher oder allmäh-
licher, Wechsel im Personal der Arbeiterschaft sich vollzogen hat und aus wel-
chen Gründen. Vielleicht wird dabei gerade ein etwaiger, ganzer oder teilweiser,
»Mißerfolg« bei der Einführung eines neuen Lohnsystems r den Bearbeiter
besonders lehrreich im Sinne dieser Erhebung sein nnen. Denn: so weitrei-
chend die Folgen der Lohnsysteme sind, ihre Einwirkung ist dennoch nicht all-
mächtig. Auch unter sonst gänzlich gleichen Umständen erzielt keineswegs je-
des neue Lohnsystem bei jeder Arbeiterschaft die gleichen Resultate. Gerade
solche Schranken der Einwirkung des im Lohnsystem liegenden Arbeitsanreizes
und die etwaigen Verschiedenheiten in der Reaktion von Arbeitern v e r -
s c h i e d e n e r ethnischer, geographischer, kultureller, sozialer, konfessio-
neller usw. Provenienz auf die g l e i c h e n Lohnsysteme interessieren in
ganz besonderem Grade r die Fragestellung dieser Erhebung.
Für die M e t h o d i k der Erhebung ist, wie schon hieraus hervorgeht, von
unmittelbarem praktischen Interesse die Frage, wie sich auf Grund des Lohnsy-
stems die Lohn b u c h f ü h r u n g und Lohn k o s t e n k a l k u l a t i o n
und die rechnerische Prüfung des » N u t z e f f e k t s « der Arbeiter gestaltet.
Wo es sich darum handelt, einigermaßen exaktes Zahlenmaterial für die persön-
lichen, durch ethnische, soziale, kulturelle Provenienz bestimmten, Unterschiede
der Leistungsfähigkeit zu gewinnen, wird der Bearbeiter in erster Linie auf diese
Quelle angewiesen sein, wo immer sie ihm zugänglich ist. Ob nun die Lohn-
buchführung eines industriellen Betriebes r die Zwecke dieser Erhebung
direkte Ergebnisse verspricht, ngt in allererster Linie davon ab: ob sie darauf
eingerichtet ist, die Leistungen jedes e i n z e l n e n Arbeiters direkt oder in-
direkt der Berechnung und fortlaufenden Kontrolle zugänglich zu machen, und
ob zugleich die P r a x i s bezüglich der »Akkordgrenze« geeignet ist, o p -
t i m a l e Leistungen zu begünstigen. Es me zunächst darauf an, inwieweit
eine auf den individuellen, für die Einzelleistung aufgestellten Akkordzetteln
oder auf ähnlichen exakten Unter-
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 42
lagen beruhende, Akkordsatz, Soll-Stundenzahl und faktische Leistung in jedem
Fall feststellende, Buchführung über die Lohn k o s t e n (insbesondere zum
Zweck der Nachkalkulation) besteht. Dies ist bei Betrieben, welche mit indivi-
duellen Prämienlohnsystemen arbeiten, meist notwendig. Aber auch viele mit
einfachem Akkordsystem arbeitende Betriebe haben im eigenen Interesse eine
solche jeden einzelnen Arbeiter erfassende Statistik durchgeführt. Und darüber
hinaus sucht man nicht nur die Lohnkosten, sondern auch die effektiven Lei-
stungen jedes einzelnen Arbeiters exakt zu erfassen, und es bestehen die man-
nigfachsten, das Mder Ausnutzung der Maschinen durch die einzelnen Arbei-
ter kontrollierenden Apparate. Wo die Buchung hinlänglich genau ist, kann aus
den betreffenden Notizen das Schwanken der Arbeitsleistung von Tag zu Tag
festgestellt werden, – theoretisch re bei manchen solcher Vorrichtungen (z. B.
den Schützenschlagzählern in der Weberei) sogar die Kontrolle von Stunde zu
Stunde möglich. Nur wo die Rentabilität der Verwendung jedes einzelnen Ar-
beiters dergestalt, g e n a u entsprechend der Rentabilität der Verwendung der
einzelnen Maschinen-, Kohlen- und Rohmaterialiensorten, festgestellt wird
und das ist, aus den verschiedensten Gründen, nur in Teilen (festzustellen wäre:
in w e l c h e n ? ) der Großindustrie möglich und zweckmäßig –, da wird der
Bearbeiter das mögliche Maximum von E x a k t h e i t des Materials zur
Ausbeute erlangen können. Wo Gruppenakkordsysteme bestehen, ßte in je-
dem Einzelfalle nachgeprüft werden, ob und welche für die Zwecke dieser Er-
hebung wichtigen Schlüsse, je nach der Art der Gruppenbildung und der Lohn-
berechnung, aus der Lohnbuchführung entnommen werden nnen. Es ist kei-
neswegs an dem, daß die bloße Existenz des Gruppenlohnsystems die Gewin-
nung geeigneten Materials unmöglich machte. Vielmehr ist da, wo dem einzel-
nen Arbeiter sein Anteil am Gruppenverdienst in Form einer, je nach Entwick-
lung seiner Leistungsfähigkeit auf- und absteigenden, Einschätzung zu einem
»Stundenlohnsatz«, der alsdann die Grundlage der Verdienstverteilung innerhalb
seiner Gruppe darstellt, zugewendet wird, die Gewinnung r e c h n e r i -
s c h e r Grundlagen für die Ermittelung der individuellen Leistungsfähigkeit
zwar nur »relativ« exakt und zeitraubend, aber keineswegs unmöglich. Jeden-
falls ist es, wo immer der Bearbeiter Einsicht in derartiges Material gewinnen
kann, von erstklassigem Werte
III. Die Methodik der Erhebung. 43
für die Zwecke dieser Erhebung und sollte in jedem Fall unter den für diese
maßgebenden Gesichtspunkten eingehend durchgerechnet werden.
Für die Verwertung jenes Lohnbuchführungsmaterials wird sich nun voraus-
sichtlich jeder der Herren Mitarbeiter seine Methode selbst schaffen und dabei
erwägen und erproben müssen, inwieweit die von ihm gewählte Fragestellung
für die Zwecke der Erhebung fruchtbar zu werden verspricht. Bemerkt sei nur:
Es würde u. a. wohl ebenfalls auf folgende Ermittelungen ankommen: 1. etwaige
Differenzen der Löhnungsmethoden, die durch Verschiedenheiten der Prove-
nienz bedingt sind, und ihre Gründe, 2. Differenzen in Höhe und Stetigkeit der
Leistungen bei den Arbeitern verschiedener Provenienz bei gleichbleibenden
Akkordsätzen einerseits, Verschiedenheiten der Einwirkungen von Aenderungen
der letzteren (Einführung von neuen Lohnsystemen, insbesondere Akkordsyste-
men, Heraufsetzung des Akkordlohnsatzes bei ungenügenden oder – das weitaus
häufigere Herabsetzung bei hohem Verdienste) andererseits, ferner 3. Ver-
schiedenheit im Tempo der Zunahme der Leistungsfähigkeit der Arbeiter, ge-
messen an der Entwicklung ihrer Akkordverdienste (wo diese nicht buchmäßig
feststellbar sind: ufigkeit und Maß der Herabsetzung des Akkordsatzes oder,
bei Gruppenakkorden, der Aenderung der Stundenlohneinschätzung, als Surro-
gat), 4. Vergleich der Entwicklung der Verdienstkurven bei Arbeitern verschie-
dener Provenienz und gleicher Beschäftigungsart einerseits, gleicher Provenienz
und verschiedener Beschäftigungsart andererseits, dabei namentlich: a) Feststel-
lung der Zeitdauer bis zur Erreichung der H ö c h s t verdienstfähigkeit und so-
dann b) der Zeitdauer, während deren sich der Arbeiter auf der Höhe seiner Ver-
dienstfähigkeit erhält, unter Feststellung der Lebensalter, in denen diese erreicht
wurde und zu sinken begann, sowie derjenigen Aenderungen in der Entloh-
nungs- oder Beschäftigungsart, welche die Abnahme der Leistungshigkeit mit
zunehmendem Alter bedingt. Dieses alles k a n n zur Beantwortung der Frage:
wie schnell das Maximum der Leistungsfähigkeit 1. je nach der Eigenart der Ar-
beitsleistung, 2. je nach der örtlichen, ethnischen, sozialen, kulturellen Prove-
nienz und Eigenart der Arbeiter von ihnen erreicht und wie lange Zeit hindurch
es erzielt wird, und damit für die entscheidenden Fragen dieser Erhebung, An-
haltspunkte gewähren.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 44
I n w i e w e i t in den einzelnen Industrien die Lohnbuchungen bzw. die
Lohnkostenkalkulationen sich als Unterlagen solcher Rechnungen geeignet er-
weisen werden, kann nur die Probe lehren. Es ist ferner begreiflicherweise kei-
neswegs als selbstverständlich vorauszusetzen, daß jeder beliebige Industriebe-
trieb sich geneigt zeigen sollte, einem ihm unbekannten Dritten Einsicht in seine
Lohnbücher zu gewähren. Allein auf der anderen Seite ist keinerlei Grund zu der
Annahme vorhanden, daß die Industrie im allgemeinen glauben sollte, die Ver-
wertung dieser ihrer für private Zwecke geschaffenen Statistik für die Zwecke
dieser Erhebung gebe zu Bedenken Anlaß. Weder in diesem speziellen Fall noch
sonst soll selbstverständlich den Betriebsleitern zugemutet werden, irgendwel-
che Betriebsgeheimnisse preiszugeben. Auch nicht etwa (so äußerst wün-
schenswert a n s i c h die Kenntnis solchen Materials re) ihre Selbstko-
stenkalkulation. Der Bearbeiter wird in sehr vielen llen zunächst auf das Be-
denken stoßen, daß die Einsicht in die Lohn k o s t e n kalkulation tatsächlich
einen, wichtige Betriebsgeheimnisse gefährdenden, Einblick in die Selbstko-
stenkalkulation überhaupt gebe. Es ist jedoch, in ausnahmslos a l l e n llen,
bei beiderseitigem guten Willen möglich, die Exzerpte und, erst recht, die even-
tuell zur Publikation gelangende Zahlen so zu gestalten und so streng auf solche
Daten zu beschränken, daß nicht die geringste glichkeit einer für einen Kon-
kurrenten brauchbaren Nachrechnung der effektiven Selbstkosten e i n e r be-
stimmten Warenqualität besteht. Denn daß der Bearbeiter nicht den Inhalt der
zur Nachkalkulation ausgefüllten Kommissionszettel exzerpieren oder gar pu-
blizieren kann, daß er aber auch nicht das geringste Interesse daran hat, dies
tun zu dürfen, liegt auf der Hand. Und gerade für die wichtigsten Fragen (z. B.
bei den Auszügen aus der Lohnbuchführung und den Nutzeffektkalkulationen)
würde die Feststellung von R e l a t i o n s zahlen genügen. Es würde nicht
einmal irgendeine Publikation der absoluten Höhe der Lohnverdienste und der
Akkordtabellen (wie sie doch von großen Industrien freiwillig in sehr erhebli-
chem Umfange, zum Teil im Wege des Austausches unter den Konkurrenten, er-
folgt) erforderlich sein. In jedem Falle wäre es auf das lebhafteste zu begrüßen,
wenn eine möglichst gre Zahl von Mitarbeitern das persönliche Vertrauen von
Leitern großer Betriebe so weit gewinnen könnte, daß ihnen derartiges Material
anver-
III. Die Methodik der Erhebung. 45
traut würde. glicherweise würde seitens vieler Betriebsleitungen vorgezo-
gen werden, die erforderlichen Auszüge und Rechnungen durch eigene Ange-
stellte des Betriebs ausführen zu lassen. Es kann jedoch den Mitarbeitern nicht
dringend genug ans Herz gelegt werden, nach glichkeit s e l b s t sich hin-
ter die Lohnbücher zu setzen und die, gewiß zu einem großen Teil rein mechani-
sche, Arbeit dieser Auszüge wenigstens teilweise s e l b s t zu machen. Nach
meinen persönlichen Erfahrungen geben einige Dutzend sorgfältig selbst durch-
gearbeiteter und durchgerechneter und dabei in allen Einzelpunkten mit dem Be-
triebsleiter oder seinen Beamten erörterter Lohnzettelblocks oder Nutzeffektauf-
stellungen dem Bearbeiter über die Koeffizienten der Arbeitsleistung, über die
Fragen insbesondere, inwieweit Material, Maschinen, Wechsel der Beschäfti-
gungsart, Arbeitsunterbrechung, »Bremsen« seitens des Arbeiters oder (in Zei-
ten der Absatzstockung) seitens der Fabrik (durch die heute in diesem Fall so
häufige Kontingentierung der Leistungsmaxima), über die sehr verschiedenen
und oft komplizierten Anreize, welche die Lohngestaltung enthält, den Effekt
beeinflussen, endlich über Maß und Richtung, in welcher, nach Berücksichti-
gung all dieser Umsnde, wirklich die individuelle Eigenart des Arbeiters den
Ablauf seiner Verdienstkurve bedingt, ein weit sicheres Urteil, als die größte
Massenstatistik und als der Anblick einer noch so schönen Zahlenreihe, die ein
a n d e r e r für ihn exzerpiert hat. Immerhin: in vielen Fällen wird der Bear-
beiter, wenn überhaupt, dann nur von der Fabrik selbst ausgezogenes Material
erhalten können; und n a c h d e m er selbst an einer Reihe von eigenen Rech-
nungen sich einen leidlich sicheren Eindruck von der Art, w i e die Zahlen
entstehen, verschafft hat, unterliegt es natürlich überhaupt keinerlei methodi-
schem Bedenken, wenn er die Hilfe der Betriebsbeamten, sofern sie für die Her-
stellung derartiger Auszüge zu haben ist, dankbar annimmt. Derartige Mithilfe
könnte ja, hrend der geschäftsstillen Jahreszeiten der betreffenden Betriebe,
für deren Buchführungsbeamte einen kleinen Nebenverdienst abwerfen und in
ihrem Resultat vielleicht auch den Betriebsleiter interessierendes Material lie-
fern. Die gegenwärtige Depressionsperiode würde an sich für die Inanspruch-
nahme der Betriebsleitungen mit derartigen Fragen ganz besonders günstig sein,
wennschon es freilich wenig wahrscheinlich ist, daß das Beispiel einer Setze-
rei, welche in einer ähnlichen Periode
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 46
einmal einige Maschinen für die Zwecke eines bestimmten psychophysischen
Experimentes laufen ließ, innerhalb der eigentlichen Großindustrie so leicht
Nachahmung finden würde.
Bei alledem wird in nicht wenigen llen, sei es, weil geeignete Rechnungen
nicht vorhanden sind, sei es, weil sie nicht oder nur teilweise zur Verfügung ge-
stellt werden können, der Bearbeiter auf weniger exakte Quellen für die Unter-
suchung der Leistungsfähigkeit der Arbeiter in ihrer Entwicklung und in ihren
Unterschieden angewiesen sein. Zunächst wäre in jedem Fall zu ermitteln,
a u f w e l c h e m W e g e sich innerhalb der betreffenden Industrie bzw.
Arbeiterkategorie die A u s l e s e d e r L e i s t u n g s f ä h i g e n im ein-
zelnen vollzieht. D a ß überhaupt eine Auslese der rentablen Arbeiter kontinu-
ierlich irgendwie stattfindet, ist für jede einzelne Industrie, gleichviel welches
Lohnsystem und welche sonstigen ökonomischen Grundlagen des Arbeitsver-
hältnisses sie besitzen möge, unter der Herrschaft des Kapitalismus ganz ebenso
Grundnotwendigkeit ihrer Existenz, wie die Auslese aller übrigen Produktions-
faktoren unter Rentabilitsgesichtspunkten. Die Frage ist jedesmal nur: in wel-
cher F o r m sie sich vollzieht. Sie kann wo die Fabrik Lehrlinge heranbildet
in groben Fällen von Unfähigkeit schon während der Lehre einsetzen. Wo Ak-
kordlohn besteht, werden Arbeiter, welche nach angemessener Anlernefrist sich
als offenbar unfähig erweisen, den der Akkordberechnung zugrundegelegten
Sollverdienst (ein solcher liegt bekanntlich j e d e r Akkordfestsetzung
zugrunde) und also das kalkulierte Durchschnittsmaß von Ausnutzung der Ma-
schinen zu erzielen, ausgeschieden. Unter englischen Verhältnissen spielt be-
kanntlich unter Umständen der Gewerkverein die gleiche Rolle, sofern er die
Fähigkeit, einen gewissen Mindestverdienst im Akkordlohn zu erreichen, zur
Bedingung der Zulassung zur Mitgliedschaft, und das heißt häufig: zur Mitar-
beit, macht. Es wäre in jedem Fall der Mühe wert, zu untersuchen, inwiefern
deutsche Arbeiterorganisationen auf anderen Wegen und indirekt ebenfalls eine
derartige »Auslese« ihrer Mitglieder vollziehen. Wo dieses der Fall sein sollte,
wäre natürlich die Vergleichung der Provenienz und Eigenart der organisierten
mit derjenigen der nichtorganisierten Arbeiter für die Erhebung von Bedeutung.
In anderen Fällen ist es die Akkordgruppe und ihr, sei es frei gewählter, sei es
ihr zugewiesener, Vorarbeiter, welche sich innerhalb gewisser Grenzen selbst
ergänzt und so die
III. Die Methodik der Erhebung. 47
Auslese der für eine bestimmte Arbeit Leistungsfähigen vollzieht. Unfähige
Mitglieder wird die Betriebsleitung durch Herabsetzung ihres Stundenlohnsatzes
(der den Divisor für die Verdienstverteilung bildet) zurückzusetzen, schließlich
zum Ausscheiden zu veranlassen genötigt. Die Aufgabe, wirklich Zuverlässiges
und vor allem zugleich Typisches über die Art und Richtung dieser Auslese in
Erfahrung zu bringen, ist natürlich stets ziemlich schwierig; aber der Versuch
dazu sollte unbedingt gemacht werden. Meist werden die Beobachtungen und
Angaben der Meister, Werkführer und Inspektoren über die Qualitäten der Ar-
beiter die Unterlage für die Zuweisung von Arbeiten an die einzelnen Arbeiter
und, eventuell, für die Zusammensetzung der Akkordgruppen bilden. Es wird
von Verhältnissen der einzelnen Industrien und ihrer Betriebe und auch von der
Geschicklichkeit der Herren Mitarbeiter abhängen, inwieweit es möglich ist, das
sehr oft große Kapital von Erfahrungen, welches speziell diese Betriebs b e -
a m t e n über die Unterschiede der Leistungsfähigkeiten und deren Bedingun-
gen im Laufe ihres Dienstes erworben haben, für die Zwecke dieser Erhebung
direkt oder indirekt nutzbar zu machen. Inwieweit dies durch eine persönliche
systematische und eingehende Befragung dieser Angestellten über die Gesichts-
punkte, nach denen, und über die Richtung, in welcher sich jene Auslese voll-
zieht, möglich sein würde: was naturgemäß immer das Erstrebenswerteste -
re –, hängt selbstverständlich in erster Linie von der ausdrücklichen Zustim-
mung der Arbeitgeber ab. Der Erfolg der Erhebung ist also sehr wesentlich da-
durch bedingt, daß die Arbeitgeber unbefangen und weitsichtig genug sind, um
die sichere Ueberzeugung zu gewinnen, daß hier nichts »herausgefragt« werden
soll, mit dessen Mitteilung sie nicht einverstanden sein nnten, ferner, daß ih-
nen die Persönlichkeit des Mitarbeiters Vertrauen zu dessen Unbefangenheit
einflößt, und endlich, daß sie erkennen, daß es sich um einen wissenschaftlich
wirklich wertvollen Zweck handelt. Wo der Mitarbeiter in dieser Hinsicht auf
entschiedenes und nicht zu beseitigendes Mißtrauen stößt, verspricht die Erhe-
bung keinen Erfolg. Im übrigen wird der Bearbeiter seinerseits selbstverständ-
lich alles, was er nicht selbst gesehen oder durch Einsicht in Lohnbuchungen
oder anderweit selbst authentisch feststellen konnte, stets mit der ausdrücklichen
Bemerkung wiedergeben ssen, daß es sich um
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 48
ihm gemachte Mitteilungen, nicht um eigene Feststellungen, handelt.
Was ein vertrauenswürdiger Bearbeiter bei jedem nicht übermäßig ängstli-
chen Betriebe ohne Schwierigkeiten durchsetzen wird, ist: die Erlaubnis, die
S t a m m r o l l e (Arbeiterbuch) einzusehen und zu exzerpieren. Jeder Fa-
brikbetrieb muß als Minimum von Ausweisen über die Personalien seiner Arbei-
ter zur Verfügung haben, was die I n v a l i d e n k a r t e ergibt, also: Ge-
burtsdatum und Geburtsort, daneben (was für die Frage der Länge des Arbeits-
weges von Wichtigkeit werden kann) die derzeitige Wohnung seiner Arbeiter.
Schon daß auf diese Weise die geschlechtliche und Altersgliederung und die
Provenienz der Arbeiter für jeden Betrieb ermittelt und mit ihrer (ebenfalls wohl
immer ohne Schwierigkeit zu ertragenden) derzeitigen Beschäftigungsweise zu-
sammengestellt, eventuell (da fast alle Betriebe solche Bücher aufbewahren) im
Zusammenhang mit dem Me des B e t r i e b s w e c h s e l s historisch zu-
rückverfolgt werden kann, daß ferner, bei Durcharbeitung einer größeren Anzahl
von Betrieben verschiedener Industrien in derselben Gegend oder derselben In-
dustrie in verschiedenen Gegenden, Unterschiede der Altersschichtung und Pro-
venienz herausgearbeitet werden nnen, ist für die Erhebung von großer Wich-
tigkeit. Meist enthalten die Stammrollen überdies Angaben über den Familien-
stand, (oft) die Konfession, zuweilen läßt sich die Art der Ansässigkeit (Miets-
besitz oder eignes Häuschen) daraus feststellen, ferner die Frage der ufigkeit
erblicher Arbeit im selben Betriebe nachgehen. Immer aber kann man so den
charakteristischen Gegensatz von Industrien mit lokalem Arbeiterstamme (ne-
ben dem sehr oft eine, eben dieser landsmannschaftlichen Kohäsion wegen, sehr
flottante Outsiderschaft steht, welche die D u r c h s c h n i t t s dauer der Be-
triebszugehörigkeit drückt) und mit freier Arbeiteranwerbung, ebenso die Ent-
wicklung nach der einen oder anderen Richtung ermitteln und durch verständige
Fragestellungen in ihren Gründen und Folgen aufklären. Es sollte im allgemei-
nen stets mit der Durcharbeitung d i e s e s Materials b e g o n n e n wer-
den, welches zuweilen weit interessantere Aufschlüsse bietet, als der Bearbeiter
– und oft auch: der Betriebsleiter – anfänglich erwartet. –
Mit demjenigen Material, welches von seiten der Arbeitgeber oder ihrer An-
gestellten gewonnen wird, wäre nun die B e f r a -
III. Die Methodik der Erhebung. 49
g u n g d e r A r b e i t e r zu kombinieren. An diesem Punkt erheben sich
voraussichtlich erhebliche prinzipielle methodische Schwierigkeiten. Diese wer-
den wahrscheinlich nicht in der Erlangung von Auskünften von seiten der Arbei-
ter an sich liegen. Die Arbeiterorganisationen haben in ihren eigenen Publika-
tionen sowohl wie gelegentlich verschiedener Erhebungen von amtlicher und
privater Seite gezeigt, daß sie nicht nur mit großer Bereitwilligkeit entgegen-
kommen, wo immer sie sich von dem wissenschaftlichen Wert einer Erhebung
überzeugen, sondern daß ihre Mitglieder auch in der keineswegs immer einfach-
sten Kunst der richtigen Beantwortung von Fragebogen für statistische Zwecke
oft recht gut geübt sind. Die Schwierigkeit läge vielmehr darin, Material von sei-
ten der Arbeiter zu gewinnen, welches mit dem von seiten der Unternehmer ge-
wonnenen zu einem Ganzen k o m b i n i e r b a r wäre. Das I d e a l wäre
in dieser Hinsicht natürlich das eingehende Studium einer möglichst großen An-
zahl von B e t r i e b e n mit Analyse der Ergebnisse ihrer Stammrollen und
Lohnbücher, Bearbeitung der Angaben der Arbeitgeber und ihrer Beamten auf
der einen Seite u n d einer vollsndig durchgeführten Befragung der gesam-
ten Arbeiterschaft der g l e i c h e n Betriebe in bezug auf: örtliche, ethnische,
soziale, kulturelle Provenienz, Berufsschicksal, Arbeitsstellung und alle anderen
objektiven und subjektiven Fakta, welche für diese Erhebung in Betracht kom-
men, auf der anderen. Wo immer dies durchgeführt werden kann, sei es selbst
nur für einen einzelnen (hinlänglich umfangreichen!) Betrieb, wäre es in erster
Linie anzustreben. Stößt dies auf technisch unüberwindliche Schwierigkeiten, so
würde, falls die Durcharbeitung der Stammrollen und des Kalkulations- und
Lohnbuchführungs-Materials oder der anderweitigen verwertbaren Auskünfte
das Bestehen charakteristischer Differenzen der Arbeitseignung wahrscheinlich
machen, zur Feststellung ihrer etwaigen ethnischen, sozialen und kulturellen
Bedingtheit natürlich nicht schlechthin unbedingt die Befragung der g e s a m -
t e n Arbeiterschaft der betreffenden Kategorien notwendig sein, sondern es
könnte die Untersuchung einer (immerhin: möglichst großen) Anzahl von sol-
chen Arbeitern, welche quantitativ oder qualitativ besonders charakteristisch dif-
ferenziert erscheinen, unter Umsnden den Zweck erfüllen. Allein selbst in die-
ser Beschränkung kann nach Lage der Verhältnisse n i c h t unbedingt darauf
gerechnet werden,
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 50
daß diese Fälle zahlreich genug sein werden, um in ihrer Gesamtheit ein hin-
länglich gesichertes Bild von dem, was die A r b e i t e r s c h a f t über diese
Verhältnisse auszusagen hat, zu gewähren. Auch wenn die Betriebsleitungen das
denkbar größte Entgegenkommen in bezug auf die Gestattung direkten Verkehrs
mit den Arbeitern und direkter Verteilung von Fragebogen an sie zeigen sollten,
so ist damit noch nicht immer gewährleistet, daß die Arbeiterschaften ihrerseits
gegenüber einer von den Betriebsleitungen zugelassenen oder unterstützten Er-
hebung sich nicht mehr oder minder ablehnend verhalten. Dieses Mißtrauen
wird nicht immer zu überwinden sein, trotz der nach meinen Erfahrungen meist
anzuratenden ausdrücklichen Aufforderung zur F o r t l a s s u n g d e r
N a m e n der Befragten in den Fragebögen und trotz der ausdrücklichen Ga-
rantie, daß das von b e i d e n Seiten gelieferte Material a u s s c h l i e ß -
l i c h den mit der Aufnahme und Verwertung beschäftigten wissenschaftlichen
Bearbeitern zur Verfügung stehen wird. Es wird also in vielen llen auf die an-
gegebene Art der Materialbeschaffung von der Arbeiterseite verzichtet werden
ssen, und die auf das Material und die Auskünfte der Betriebsleiter und An-
gestellten gestützte Erhebung wird alsdann vielfach nur die Mitteilungen dieser
Seite, ergänzt durch persönliche Beobachtungen des Bearbeiters, zum Ausdruck
bringen. Eine Ergänzung durch Ausgabe von Fragebogen an die für die betref-
fenden Regionen bestehenden örtlichen Organisationen der Gewerkschaften und
Gewerkvereine der verschiedenen Richtungen kann alsdann so erwünscht sie
ist einen wirklich vollen Ersatz für diesen Ausfall naturgemäß nicht liefern.
Die Arbeiterorganisationen erstrecken sich quer durch die Betriebe ihrer Bran-
che hindurch. Sie umfassen nicht regelmäßig mtliche Arbeiterkategorien eines
Betriebs. Andererseits umfassen sie nicht selten Arbeiter aus Betrieben ver-
schiedener Produktionsrichtung. Wenn also nicht alle Betriebe, in denen Mit-
glieder der Organisation bescftigt sind, analysiert werden und nicht annähernd
alle Arbeiterkategorien dieser Betriebe organisiert sind, was schwerlich je zu-
trifft –, findet schon aus diesen Gründen eine Kongruenz des zu bearbeitenden
Materials nicht statt. Vor allen Dingen stellen auch die kräftigst entwickelten
Organisationen regelmäßig nur eine Auslese aus der Gesamtheit der Arbeiter-
schaft der betreffenden Kategorie dar, die nicht selten in geringer persönlicher
Berührung, zuweilen
III. Die Methodik der Erhebung. 51
direkt im Gegensatz zu den nicht organisierten Arbeitern steht, so daß auch der
(stets zu erwägende) Versuch, durch ihre Vermittlung die Fragebogen an die
nicht organisierten Arbeiter der betreffenden Betriebe verteilen zu lasse, wohl
nicht immer aussichtsreich wäre. Eine annäherungsweise erschöpfendes Materi-
al für die Beurteilung des typischen Berufsschicksals e i n e r Arbeiterkatego-
rie kann naturgemäß am ehesten von gewissen hochqualifizierten »gelernten«
Arbeitern erwartet werden, wo die Arbeiterorganisationen zuweilen annähernd
die Gesamtheit der betreffenden Arbeiterkategorie umfassen.
Daraus ergibt sich, daß in vielen Fällen die Erhebung in zwei gesonderten
Typen von Erhebungsweisen auseinanderfallen muß:
1. Die eine wird, wo immer sie kann, die Analyse von B e t r i e b e n unter
Berücksichtigung vornehmlich der Fragen des » A r b e i t s p l a n s « zum
Ausgangspunkt nehmen. Sie wird zunächst die innere Gliederung der Arbeiter-
schaft nach Kategorien der Arbeiter, also: den Bedarf an Arbeitskräften be-
stimmter Art, den je eine bestimmte Maschine zu ihrer Bedienung und den je ei-
ne technische Betriebseinheit von bestimmter Größe nötig hat, z a h l e n -
m ä ß i g feststellen, alsdann das Lohnsystem in Voraussetzungen und Wir-
kungen. Sie wird ferner Stammrollen und, wenn irgend möglich, die Lohnbü-
cher zu analysieren suchen, weiter die Erfahrungen der Betriebsleiter und Ange-
stellten und diejenigen von Fachtechnikern, welche die Anforderungen der Ma-
schinen an die Arbeiter in ihrer Entwicklung in der letzten Zeit kennen, verwer-
ten, und alsdann tunlichst ihre Ergebnisse durch persönliche Erhebungen unter
der Betriebsarbeiterschaft ergänzen. Wo sie sich etwa mit Fragebogen an die ört-
lichen Organisationen der Arbeiterschaft wendet, wird sie daneben nach g-
lichkeit die persönliche Recherche über die vielleicht sehr abweichenden Ver-
hältnisse der nichtorganisierten Arbeiter versuchen müssen. Die Anregung zur
Ausbeutung des Materials der Berufsgenossenschaften und anderer Arbeiterver-
sicherungsanstalten für die Ermittelung der Betriebswechselfrequenz und ähnli-
cher Fragen, wie sie von geschätzter Seite gegeben wurde, erscheint sehr beach-
tenswert.
2. Die andere Art von Erhebung wird sich mit Hilfe des Fragebogens an die
A r b e i t e r o r g a n i s a t i o n e n wenden, und zwar, da in diesem Fall der
Wert des Materials mit der Zahl der beantworteten Fragebogen chst, mög-
lichst große Gebiete,
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 52
unter Umständen das Gesamtgebiet des Reichs, zugrundelegen, also nicht die
örtlichen, sondern, in erster Linie wenigstens, die zentralen Instanzen der Arbei-
terorganisationen um ihrer Mitwirkung, insbesondere um die Vermittelung bei
den kleineren Organisationen bitten, welche dann ihrerseits um Uebernahme der
Adressierung der ihnen in frankiertem Kuvert und adressiertem und frankier-
tem Rückkuvert zuzustellenden Fragebogen zu ersuchen ren. Dabei wird
die glichkeit, die Verhältnisse der nichtorganisierten Arbeiter mit zu erfas-
sen, regelmäßig nicht gegeben sein. Vielmehr würde diese Erhebungsweise auf
möglichst umfassende Auszählung des Materials unter möglichst vielen einzel-
nen und kombinierten Gesichtspunkten und alsdann, soweit möglich, auf Deu-
tung der so gewonnenen Zahlen aus bekannten oder mit Hilfe von erfahrenen
Technikern festzustellenden Entwicklungstendenzen der betreffenden Industrie
ausgehen.
Naturgemäß lassen sich aber außer diesen beiden Typen noch andere Kombi-
nationen von Ausgangspunkten denken, und jede Arbeit, welche auch nur ein
wichtiges T e i l problem der Erhebung unter einem selbstgehlten Gesichts-
punkt behandelt, kann willkommen sein, sofern sie nur sich innerhalb des Be-
reichs ihrer wesentlichen Ziele: Feststellung des Einflusses ökonomisch-
technischer Eigenarten der geschlossenen Großindustrien und ihrer Umgestal-
tungen auf die Eigenart ihrer Arbeiterschaft und umgekehrt hält. Wo infolge
geographischer Konzentriertheit einer Industrie jene hauptsächlich in Betracht
kommenden beiden Arbeitsrichtungen der Erhebung in der Hand eines Bearbei-
ters kombiniert werden nnen, ist dies besonders erfreulich. Allein dies wird
nicht immer der Fall sein nnen. Und da auf die Erhebung eines möglichsten
Maximums von Material bei den Arbeiterorganisationen k e i n e s f a l l s
verzichtet werden sollte, so wird jedenfalls n e b e n dem Typus Nr. 1 (auf Be-
triebs- bzw. Industrie- E n q u e t e eventuell unter Heranziehung des Mate-
rials der Arbeiterversicherungsanstalten basierte Darstellungen) der Typus Nr.
2 (auf Gewerkschafts- bzw. Gewerkvereins- S t a t i s t i k basierte Darstellun-
gen) vielfach selbständig in der Hand besonderer Bearbeiter auftreten und es be-
grüßt werden müssen, wenn sich auch Mitarbeiter finden, welche lediglich diese
Seite der Erhebung pflegen wollen. Andererseits wird es ebenso willkommen
sein, wenn eine Arbeit sich auf die Aus-
III. Die Methodik der Erhebung. 53
beutung des Stammrollen- und Lohnbuchführungs-Materials großer Betriebe
nach allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten beschränkt und dabei an der
Hand eigener genauer Bekanntschaft mit der Umgestaltung der Technik einer
Industrie lediglich die Verschiebungen in der inneren Gliederung der Arbeiter-
schaft, in den Ansprüchen an die Arbeitseignung und den typischen »Berufskar-
rieren« der Arbeiterschaft analysiert werden.
Ueber die Gesichtspunkte, welche für Bearbeitungen des e r s t e n Typus
in Betracht kämen, ist weiter oben bereits mancherlei gesagt und ergibt der »Ar-
beitsplan« das Erforderliche. Für den Fall, daß es bei derartigen Bearbeitungen
gelingt, mit der Arbeiterschaft persönliche Fühlung zu gewinnen, sei nur noch
auch hier ausdrücklich hinzugefügt, daß natürlich neben den oben vornehmlich
behandelten, weil kompliziertere Probleme bietenden Gesichtspunkten der ob-
jektiven Arbeitseignung und des objektiven Berufsschicksals der Arbeiterschaft
in ganz gleichem Maße auch ihre s u b j e k t i v e Attitüde zu ihrer Arbeitstä-
tigkeit in Betracht kommt. Dahin gehören Fragen wie die: welche Arbeitsstel-
lungen ihnen als relativ begehrenswerter gelten und warum
1)
? Ob dabei also
darauf kommt es an n e b e n dem selbstverständlichen Verdienstinteresse
a n d e r e Motive ausschlaggebend wirken und welche? Ob etwa bei den Ar-
beitern nach örtlicher, ethnischer, sozialer, kultureller Provenienz v e r -
s c h i e d e n e ? Inwieweit also etwaige Unterschiede in der Verteilung der
Arbeiter verschiedener Provenienz auf die einzelnen Arbeitsstellungen nicht nur
in Unterschieden der Arbeitseignung, sondern auch in solchen der Neigung oder
der sozialen Schätzung der betreffenden Arbeitsart ihren Grund finden? (Eins
von massenhaften Beispielen: die herinnen in Webereibetrieben, deren Arbeit
ihnen, der Sauberkeit und wohl auch der Verwandtschaft mit der Hausarbeit we-
gen, als s o z i a l der, höher gelöhnten, Arbeit der Weberinnen überlegen er-
scheint und daher oft sozial und örtlich stark abweichende Rekrutierung, na-
mentlich: stärker s t ä d t i s c h e Rekrutierung der herinnen, bedingt.)
Ferner: welche s u b j e k t i v e n Folgen die Arbeiter von der verschiedenen
Art der Arbeitstätigkeit physisch und psychisch verspüren oder zu verspüren
glauben, in welcher Art und Rich-
1)
Zu diesen Fragen sind namentlich die Ausführungen von H. H e r k n e r , Die Be-
deutung der Arbeitsfreude (Dresden 1901) und Die Arbeiterfrage (5. Aufl. 1908, bes. S. 27
ff.) zu vergleichen.
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 54
tung sich also die Ermüdung durch die Arbeit, durch den Maschinenlärm und
die sonstigen Bedingungen der Arbeit subjektiv fühlbar macht und wie sie im
außerberuflichen Leben nachwirkt? Ob die Arbeiter bestimmte Vorstellungen
über wünschenswerte Aenderungen z. B. der Arbeitspausen, der Lohnsysteme
haben, und welche (natürlich stets für die einzelnen Kategorien). Ferner, warum
sie selbst diesen und keinen anderen Beruf ergriffen haben bzw. ihm von den El-
tern zugewiesen worden sind? Inwieweit die Zuweisung zu dem Beruf ihren
Neigungen entsprach oder durch Verdienstinteressen oder andere objektive
Momente erzwungen wurde? Noch wichtiger: welchen Beruf und mit welcher
Vorbildung sie ihm ihre Kinder zuzuführen beabsichtigen oder zugeführt haben
und aus welchem Grunde? Endlich und namentlich die schon früher berührte
Frage: Wie stellen sich die Arbeiter s u b j e k t i v zu den beiden Möglichkei-
ten: der gleichförmigen Beschäftigung mit einer und derselben Arbeitsverrich-
tung oder der Abwechslung zwischen verschiedenen (natürlich unter Ausschei-
dung der Fälle, wo die Stellungnahme dazu durch reine Lohnfragen von vorn-
herein determiniert ist)? Können die Arbeiter für die in dieser Hinsicht, wie es
scheint, vorkommenden Unterschiede ihrer Stellungnahme Gründe angeben?
Scheinen diese durch ethnische, soziale, kulturelle Provenienz und dadurch be-
dingte Unterschiede der Eigenart bestimmt? Und inwiefern sind sie es anderer-
seits durch die Eigenart der betreffenden Arbeitstätigkeiten? Nach welcher Rich-
tung bewegt sich in den einzelnen Industrien die Entwicklung dieser Stellung-
nahme der Arbeiter, falls darin überhaupt eine Entwicklung kenntlich ist? In
welchem Maße und unter welchen Umständen (wenn überhaupt) findet insbe-
sondere eine Zunahme jener, wie es scheint, gelegentlich zu beobachtenden,
auch inneren psychischen Bindung der Arbeiter an ihre jeweilige Beschäfti-
gungsart statt (soweit nicht die früher erwähnten Momente: Gegensätze von Al-
ter und Familienstand, maßgebend sind)? Solche und ähnliche Fragen, wie sie
der »Arbeitsplaenthält, werden von den Arbeitern sehr oft nicht ohne weite-
res, oft überhaupt nicht mit Bestimmtheit beantwortet werden können. Der Um-
stand aber, d a ß sie dies nicht vermögen, erscheint alsdann wenn gleich-
wohl die betreffenden Entwicklungstendenzen als vorhanden zu konstatieren
sind schon an sich charakteristisch für ihre gesamte seelische Situation und ist
auch für die Zwecke
III. Die Methodik der Erhebung. 55
der Erhebung wichtig. Denn naturgemäß bildet einerseits gerade das, was einer
Bevölkerungsschicht so s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ist, daß es eben deshalb
nicht besonders ausgesprochen wird, andrerseits was ihr u n b e w u ß t bleibt,
weil es auf zahllosen unmerklichen Suggestionen durch ihre spezifische Umwelt
beruht, die wichtigsten Komponenten ihrer inneren Attitüde zu ihrer Lebenslage.
Ausdrücklich sei schließlich noch hervorgehoben, daß nach dem Zweck der Er-
hebung, wie er auch in dem Wortlaut des »Arbeitsplans« zum Ausdruck kommt,
neben dem »Berufsschicksal« auch der a u ß e r berufliche »Lebensstil« Ge-
genstand der Ermittelung sein soll. Selbstverständlich nicht die übersehbare,
durch keinerlei einheitliche Gesichtspunkte zusammenhaltende Mannigfaltigkeit
von Details, wie sie in biographischen und anderen Versuchen, typische Arbei-
terlebensläufe zu schildern, in zuweilen recht wertvoller Art in Angriff genom-
men worden ist. Sondern stets soll nur das herausgehoben werden, was erweis-
lich durch die E i g e n a r t der geschlossenen G r o ß industrie bedingt ist.
Zunächst wird sich dabei der Bearbeiter die Frage vorzulegen haben: Welche
Art von außerberuflichen Interessen k a n n überhaupt, produzierend oder re-
zipierend, ein normaler Arbeiter noch pflegen, nachdem er durch seine Berufs-
arbeit nicht überhaupt: »ermüdet«, sondern: i n d i e s e r , der betreffenden
Arbeitsleistung e i g e n t ü m l i c h e n A r t ermüdet worden ist? Alsdann
wird natürlich immer zu fragen sein: U n t e r s c h e i d e n sich, zunächst
ganz allgemein: – Familienleben, Kindererziehung, Erholungs- und Vergnü-
gungsformen, Formen und Gewohnheiten der Geselligkeit, Ernährungs- und
Trinkgewohnheiten, geistige und ästhetische Interessenrichtung und -Betätigung
nach Maß und Art (Lektüre), Beziehung zur Schule, zu den offiziellen Formen
des Kirchenlebens und zu religiösen und anderen »Weltanschauungs«-Fragen
usw. bei der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie merkbar gegenüber
den entsprechenden Lebensäußerungen anderer Bevölkerungsschichten, die über
ähnlich bemessene E i n k o m m e n und ähnliche S c h u l bildung verfü-
gen? Unterscheidet sich insbesondere die obere Schicht der bestgestellten Arbei-
ter darin von den Subaltern- und Privatbeamten und von dem Kleinbürgertum
ähnlicher Einkommens- und Schulbildungsstufen? Weiter aber: Unterscheiden
sich die einzelnen durch das Maß der Gelerntheit und die Stellung im Arbeits-
prozeß oder durch Alter
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 56
und Familienstand oder Herkunft gebildeten Kategorien der Arbeiterschaft der
Großindustrien in dieser Hinsicht u n t e r e i n a n d e r ? Stiften die Unter-
schiede der Beschäftigungsart, oder des Maßes der Gelerntheit, oder der Ar-
beitsstellung, abgesehen von den rein ökonomischen Interessengemeinschaften,
auch rein »gesellschaftliche« Gemeinschafts- und Verkehrsbeziehungen oder
nicht? Und im Fall der Bejahung: Wo liegt die Grenze, und nach welchen Krite-
rien scheiden sich die Arbeiter im geselligen Verkehr? Deine solche Schei-
dung vielfach vorkommt, ist bekannt. In den angelsächsischen Ländern besteht
zwischen den gelernten Gewerkschaftern und den darunter liegenden Schichten
der Arbeiter oft nicht der geringste gesellschaftliche Kontakt: sie setzen sich
zuweilen bekanntlich nur mit Schwierigkeit an denselben Tisch. Inwieweit und
warum in Deutschland ähnliche Differenzierungen bestehen oder im Entstehen
oder umgekehrt im Verschwinden begriffen sind, re von erheblichem Interes-
se zu untersuchen, ebenso natürlich die Frage, inwieweit Konnubium, gesellige
und sonstige gesellschaftliche Beziehungen zum Kleinbeamten- und Kleinbür-
gertum bestehen, im Entstehen oder Schwinden begriffen sind. Soweit sie in die
Fragestellung dieser Untersuchung gehören, also soweit sie durch die E i -
g e n a r t der einzelnen Industrien bedingt sind, wären endlich auch die oft tief
eingreifenden Einflüsse der Zugehörigkeit zu Arbeiterorganisationen der ver-
schiedenen Art auf die Art der Lebensführung darzustellen. Es wären dabei die
Betriebe sowohl nach G r ö ß e als nach Lohnsystem gesondert zu untersu-
chen, da je nach der ökonomischen und organisatorischen Avancementschance,
das Solidaritätsgefühl oder das Individualinteresse, »Klassenbewußtsein« oder
Sorge für den Aufstieg der Kinder, Auffassung der Organisation als ökonomi-
schen Rückhalts oder als Zelle einer idealen Zukunftsorganisation überwiegen.
Arbeiten des z w e i t e n (vorwiegend gewerkschaftsstatistischen) Typus
werden r die durchzuführenden Berechnungen entweder eigener Schulung des
Bearbeiters in der statistische Technik oder aber des steten Beirats geschulter
Statistiker nicht entraten nnen. Es wird bei der Auszählung wohl jedenfalls
1. die Z a h l der Orts- und Betriebswechsel nach den einzelne Arbeiterkatego-
rien und ferner nach deren Provenienz, altersklassenweise geordnet, t a b e l -
l a r i s c h dargestellt werden
III. Die Methodik der Erhebung. 57
ssen. Alsdann re 2. ebenfalls nach Kategorien der Arbeiter und innerhalb
dieser altersklassenweise gesondert, die » B e r u f s k a r r i e r e « derselben
festzustellen. Inwieweit dies in Tabellenform möglich ist oder nicht, kann wohl
erst der Befund des erhobenen Materials lehren. Es sei nochmals ausdrücklich
darauf hingewiesen, daß d i e s e F r a g e zu den a m m e i s t e n i m
M i t t e l p u n k t d e s I n t e r e s s e s der Erhebung stehenden gehört. 3.
wäre für die einzelnen Arbeiterkategorien deren örtliche Herkunft und diejenige
der beiden Eltern, sodann der Beruf des Vaters, des Großvaters, der Geschwister
und der etwa schon erwachsenen Kinder, weiter die Art der Schulbildung und
Lehre, all dies nach Möglichkeit t a b e l l a r i s c h darzustellen. Dabei re
eine vergleichende Darstellung gerade dieser Verhältnisse auch für die einzelnen
großen Gruppen von Arbeiterorganisationen (Gewerkvereine, freie Gewerk-
schaften, christliche Organisationen usw.) von Interesse, ebenso andererseits die
Feststellung der Verteilung dieser Gewerkschaftsarten auf die einzelnen Arbei-
terkategorien (Arbeitsstellungen) und: auf die G r ö ß e n klassen der Betriebe.
Sodann müßten 4. die einzelnen Arbeiterkategorien auf eigenen Nebenerwerb
oder den der Familie, Hausbesitz oder sonstige Ansässigkeit ausgezählt werden.
Was 5. die Milirtauglichkeit anlangt, so wäre von größerem Interesse, als die
Vergleichsziffern der Tauglichkeit der verschiedenen Generationen untereinan-
der, die Feststellung des Verhältnisses von Militärtauglichkeit und Qualifikation
(Berufschancen, wie sie in der Berufskarriere zum Ausdruck kommen) in den
einzelnen Industrien, soweit das Material eine solche gestatten sollte. 6. Die
Verteilung der konfessionellen Zugehörigkeit in den einzelnen Arbeiterkategori-
en könnte unter den heutigen Verhältnissen bei der anscheinenden Bedeutung
der Konfession für die Berufs n e i g u n g ein für die Aushlung ausreichen-
des Interesse bieten, falls es sich um Industrien handelt, welche starke konfes-
sionelle Mischung, die n i c h t (wie bei den Polen) mit ethnischer Mischung
kongruent ist, aufweisen.
In fast allen diesen Fällen liegt, wie bei allen Erhebungen von Berufen und
Beschäftigungsarten, die Schwierigkeit in der Art endgültig zugrundezulegenden
K l a s s i f i k a t i o n der Arbeiter auf Grund ihrer Arbeitsstellungen. Diese
Klassifikation kann in jedem Einzelfall kaum sorgfältig genug erwogen und
kaum zu detailliert durchgeführt werden. Inwieweit die fabriküblichen
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 58
Bezeichnungen der einzelnen Arbeiterkategorien ausreichen würden wäre stets
vorab zu prüfen und, soweit möglich, von ihnen auszugehen. Im übrigen müßte
sie bei der Würdigung der hlungsergebnisse nach zweierlei Richtungen erfol-
gen. Sie hätte 1. an die schon früher erörterte Fragestellung anzuknüpfen: auf
welche konkreten Qualitäten es in den betreffenden Arbeitsstellungen, nach ei-
genem Befund oder eingehend motivierter fachtechnischer Ansicht, vornehmlich
a n k o m m t , welche also im Einzelfall am stärksten dem Einfluß der »Ermü-
dung« und »Uebung« ausgesetzt sind; danach wären dann die Arbeiter in Kate-
gorien zu scheiden, je nach dem Grade, in welchem sie wesentlich auf Muskel-
leistungen hin oder wesentlich auf die verschiedenen, sorgsam zu u n t e r -
s c h e i d e n d e n Leistungen nervöser und psychischer Art in Anspruch ge-
nommen werden; 2. aber wäre auch das Maß und die Art der »Gelerntheit«,
beim »Anlernen« also die d u r c h s c h n i t t l i c h e D a u e r bis zur Er-
reichung der Normal- und Maximalleistung ihrer Arbeitsstellung einer Klassifi-
kation zugrundezulegen. Danach ren die Arbeiter möglichst a l l s e i t i g
nach Kategorien zu scheiden, welche nun unter den vorstehenden Fragestellun-
gen ausgezählt werden ßten, um auf ihre Provenienz und die sonstigen er-
fragten Verhältnisse untersucht werden zu können.
Alle vorstehenden Erläuterungen und Anregungen, welche wünschenswert
schienen, um den S i n n der Erhebung unzweideutig hervortreten zu lassen,
verfolgen übrigens in keiner Weise den Zweck, die Herren Mitarbeiter in der
Freiheit der eigenen Ausgestaltung ihrer Arbeit sozusagen zu schulmeistern. Die
wichtigste und lohnendste Aufgabe für sie wird vielmehr vielleicht gerade darin
liegen, die geeigneten Fragestellungen und Methoden s e l b s t zu erproben.
Und da erst die Inangriffnahme der Arbeit darüber belehren kann, wo die eigent-
lichen Schwierigkeiten derselben liegen, so wird dafür im reichsten Maße Gele-
genheit geboten sein. Von seiten des Vereins für Sozialpolitik als solchem wird
lediglich (für die Arbeiten, die unter s e i n e r Flagge zu segeln wünschen)
die Bearbeitung der in den o f f i z i e l l e n Schriftstücken (Arbeitsplan und
Fragebögen) festgelegten Fragen beansprucht. Mit welchen Mitteln sie erfolgt,
ist durchaus der Privatinitiative überlassen. Eines darf den Herren, welche ihr
Wissen und ihre Arbeitskraft in den Dienst dieser Erhebung zu stellen gewillt
sind, vorausgesagt werden: die unentbehrlichste
III. Die Methodik der Erhebung. 59
Eigenschaft, um i r g e n d welche (neuen!) Ergebnisse zu gewinnen, wird in
diesem Fall mehr als bei irgendeiner früheren Erhebung des Vereins ein außer-
gewöhnliches Maß von Z ä h i g k e i t in der Verfolgung des einmal gesteck-
ten Zieles sein. Wer diese Eigenschaft nicht besitzt, bleibe der Mitarbeit fern. Es
ist gänzlich a u s g e s c h l o s s e n , auf diesem Gebiet etwa in wenigen Mo-
naten Resultate zu erzielen, welche es wert sind, gedruckt zu werden. –
Weitausgreifend wie die Fragestellungen der Erhebungen jetzt schon sind,
stellen sie selbstverständlich doch nur einen (allerdings wichtigen) T e i l ei-
ner sozialwissenschaftlichen Analyse der modernen Großindustrie dar. Außer
der Erörterung der organisatorischen (»morphologischen«) Fragen kommerziel-
ler und technischer Art, von denen eingangs die Rede war, würde ferner auch
die Auslese und das Berufsschicksal der großindustriellen, namentlich der tech-
nischen, B e a m t e n s c h a f t 1. für die einzelnen Industrien und 2. für die
einzelnen, nach der Richtung der Vorbildung zu scheidenden Schichten der Be-
amten gesondert, zu untersuchen. Schließlich würde auch der keineswegs unin-
teressanten Frage nach der heute, gegenüber früher, erforderlichen Qualifikation
und Provenienz der U n t e r n e h m e r und ihrer Vermögen in den einzelnen
Industrien eingehend nachzugehen, sein.
Alle diese Untersuchungen vereint erst würden ein Bild von der K u l t u r -
b e d e u t u n g des Entwicklungsprozesses, den die Großindustrie vor unsern
Augen durchmacht, geben nnen. Die Kulturprobleme, welchen damit letzten
Endes nachgegangen wird, sind von ganz gewaltiger Tragweite. In einer (in der
Vorbemerkung erhnten) Denkschrift für den Unterausschuß hob A. Weber
in Uebereinstimmung mit der Auffassung vieler von uns – hervor: daß die Struk-
tur jenes eigentümlichen »Apparates«, welchen die großindustrielle Produkti-
onsorganisation der Bevölkerung »über den Kopf gestülpt« habe, in ihrer
schicksalsvollen Bedeutung selbst die Tragweite der Frage nach »kapitalisti-
scher« oder »sozialistischer« Organisation der Produktion übertreffe, weil das
Bestehen dieses »Apparates« a l s s o l c h e n von dieser Alternative u n -
a b h ä n g i g sei. In der Tat: die moderne Werkstatt mit ihrer amtlichen Hier-
archie, ihrer Disziplin, ihrer Kettung der Arbeiter an die Maschinen, ihrer Zu-
sammenhäufung und doch zugleich (im Vergleich etwa mit den Spinnstuben der
Vergangen-
Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft. 60
heit) Isolierung der Arbeiter
1)
, ihrem ungeheuren, bis in den einfachsten Hand-
griff des Arbeiters hinabreichenden Rechnungsapparat, i s t begrifflich da-
von unabhängig. Sie übt auf die Menschen und ihren »Lebensstil« weitgehende,
durchaus i h r eigentümliche spezifische Wirkungen. Aber freilich: darin lä-
ge wiederum die Grenze jenes Gesichtspunktes ein Ersatz der heutigen »Aus-
lese« nach dem Prinzip der privatwirtschaftlichen R e n t a b i l i t ä t , mit ih-
rer Kettung der ganzen Existenz aller in den Betrieb, leitend oder gehorchend,
Gebannten, an den Ausschlag des p r i v a t e n Kosten- und Gewinnkalkuls
des Unternehmers, durch i r g e n d eine Form von g e m e i n wirtschaftlicher
»Solidaritäwürde den G e i s t , der in diesem ungeheuren Gehäuse heute
lebt, grundstürzend ändern, und niemand kann auch nur ahnen, mit welchen
Konsequenzen. Für die vorliegende Erhebung kommen solche Perspektiven
nicht in Betracht, sie darf sich zu ihrer Rechtfertigung mit der Tatsache be-
gnügen, daß der »Apparat«, so wie er heute ist, und mit den Wirkungen, die er
ausübt und deren Untersuchung hier in Angriff genommen werden soll, das gei-
stige Antlitz des Menschengeschlechts fast bis zur Unkenntlichkeit verändert hat
und weiter verändern wird.
1)
Die Frage, inwieweit Konversation bei der Arbeit möglich ist oder (und warum) nicht,
die Frage: welche Qualitäten (berufliche und andere) im Kreise der Arbeitsgenossen G e l -
t u n g verschaffen, die Richtung e t h i s c h e r Werturteile innerhalb der Arbeiter-
schaft, alle solche und ähnliche Fragen wollen in der Art ihrer Bedingtheit durch die Werk-
statt-»Gemeinschaft«, (welche eben im Grunde k e i n e »Gemeinschaft« ist) und durch
das (auf seinen Grad hin zu untersuchende) Vorwiegen rein p e k u n i ä r e r Beziehun-
gen zur Arbeit studiert sein.
61
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908-09).
I n h a l t : Vorbemerkung S. 61; besprochene Literatur S. 63. 1. » E r m ü d u n g «
und »Erholung« S. 66. – 2. » U e b u n g « (»MechanisierunRhythmisierung, Summation
und Ausnutzung der »Reiznachwirkungen«, »Leistungsverschiebung«; »Uebungsfähigkeit«,
und »Uebungsfestigkeit«; »Mitübung« und »Vorübung«) S. 73. 3. Ermüdung und Uebung
in ihrem Z u s a m m e n w i r k e n (andere Komponenten der Arbeitskurve: »Anre-
gung«; »Willensantrieb«; »Gehnung«) S. 89. 4. Die G e w ö h n u n g bei Arbeitsstö-
rung und Arbeits k o m b i n a t i o n (Unterschiede der Arbeitskurve bei einfacher und
kombinierter Leistung; Arbeits w e c h s e l ) S. 94. 5. Arbeits u n t e r b r e c h u n g
(Pausenwirkung, Bedeutung der Pausenexperimente: »Methode der günstigsten Pause«) S.
106. 6. M e t h o d i s c h e F r a g e n S. 109. Kraepelins Methodik und die Ver-
wertbarkeit seiner Begriffe S. 111. Die hygienischen Erörterungen über die Wirkungen der
industriellen Berufsarbeit S. 121 Zur Frage der Methodik »exakter« Erhebungen über die
Psychophysik der industriellen Berufsarbeit S. 126. 7. Schwankungen der industriellen Ar-
beitsleistung: a) innerhalb des Arbeitstages S. 136. 8. b) Zwischen den einzelnen Arbeitsta-
gen S. 144. 9. c) Zwischen größeren Zeiträumen S. 153: Oekonomische Konjunkturen.
»Soziale« Konjunkturen: Das »Bremsen«, »Weltanschauung«, und Arbeitsleistung S. 155.
10. Geschlecht, Alter, Familienstand usw. in ihrem Einfl auf die Arbeitsleistung S. 163.
II. Akkordverdienste und Leistungsdifferenzen S. 175. 12. Stuhluhrmessungen und Lei-
stungsschwankungen S. 183. 13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung.
Anpassung der Leistung an die Lohnkalkulation S. 196. 14. Analyse einzelner Arbeitslei-
stungen und ihre Entwicklung: a) reine Handarbeit S. 219; b) Maschinenarbeit S. 222. 15.
Resumé S. 232. – 16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben S. 242.
Bei den außerordentlichen Fortschritten der anthropologischen, physiologi-
schen, experimentalpsychologischen, psychopathologischen Forschung erscheint
es auf den ersten Blick überraschend, daß bisher der Versuch, Resultate dieser
Disziplin mit der s o z i a l wissenschaftlichen Analyse der wirtschaftlichen
A r b e i t in Beziehung zu setzen, nur in einigen Ansätzen (die später erwähnt
werden) gemacht worden ist. Jeder Vorgang der »Arbeitsteilung« und »Speziali-
sierung«, insbesondere aber der »Arbeitszerlegung« innerhalb der modernen
Großbetriebe, jede Aenderung des Arbeitsprozesses überhaupt durch Neueinfüh-
rung und Aenderung von Arbeitswerkzeugen (Maschinen), jede Aenderung der
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 62
Arbeits z e i t und der Arbeitspausen, jede Einführung oder Aenderung eines
Lohnsystems, welche die Prämiierung bestimmter qualitativer und quantitativer
Arbeitsleistungen bezweckt, jeder dieser Vorgänge bedeutet ja in jedem ein-
zelnen Fall eine Veränderung der an den psychophysischen Apparat des Arbei-
tenden gestellten Ansprüche. Welche Erfolge eine jede solche Aenderung er-
zielt, hängt also von den Bedingungen ab, unter denen jener »Apparat« funktio-
niert und bestimmte Leistungen hergibt. Wenn also z. B. das Verhältnis von Ar-
beitszeit, Arbeitslohn und Arbeitsleistung diskutiert oder sonst die Bedingungen
und Wirkungen der Intensitätssteigerung der Arbeit erörtert werden, so spielen
n e b e n verschiedenen anderen Dingen doch stets a u c h jene grundlegen-
den Bedingungen der Arbeitsleistung hinein, deren Untersuchung zu den Aufga-
ben der erhnten naturwissenschaftlichen Disziplinen gehört. Gleichwohl be-
gnügen wir uns bei diesen Erörterungen innerhalb unserer Disziplin im allge-
meinen mit, in der Fachsprache der Psychologen geredet: »vulgärpsychologi-
schen« Erfahrungen und Erwägungen. Es könnte nun sein, daß dieser scheinbare
»Mangel« für gre Teile der Untersuchungen unserer Fachdisziplin seinen gu-
ten methodischen Grund hat: worin dieser liegt, wird späterhin zur Sprache
kommen. Allein hier stellen wir uns vorerst auf den, rein theoretisch, natürlich
unanfechtbaren Standpunkt: es müßte, im » P r i n z i p « , möglich sein, auf
Grund psychologischer, experimentalpsychologischer und vielleicht auch an-
thropologischer Erkenntnisse, auch Einsichten über die Voraussetzungen und
Wirkungen der technischen und ökonomischen Venderungen der Bedingungen
industrieller Arbeit zu gewinnen.
Zweck der nachfolgenden Zeilen ist es nun: 1. die Schwierigkeiten verständ-
lich zu machen, denen es zuzuschreiben ist, daß jene »im Prinzip« mögliche Zu-
sammenarbeit der verschiedenen Disziplinen zur Zeit noch so gut wie nicht
stattfindet, 2. zu fragen, in welchem Sinn und Maße vielleicht in Zukunft eine
solche Zusammenarbeit möglich werden könnte.
Es erscheint dabei unvermeidlich, zu diesem Behuf hier den Versuch zu ma-
chen, einen gegenüber der ausgedehnten Literatur freilich sehr summarischen
Ueberblick über eine Anzahl von experimentellen Untersuchungen zu gewin-
nen, auf deren Resultate es für unsere Gesichtspunkte wesentlich a n k o m -
m e n würde. Wenn ein auf jenen Gebieten so vollkommener Laie wie
Vorbemerkungen. 63
ich dies Wagnis unternimmt, so geschieht dies natürlich in jeder Hinsicht »cum
beneficio inventarii« und in der Erwartung, daß vielleicht gerade ein solcher
Laienversuch mit den ihm notwendigerweise anhaftenden ngeln den Fach-
männern es erleichtern könnte, uns an denjenigen Punkten beizuspringen, an de-
nen wir ihrer Hilfe am dringendsten bedürfen. An diesen Versuch muß sich dann
die Frage schließen, ob und welche Verbindungslinien sich etwa zwischen den
Untersuchungsmitteln der naturwissenschaftlichen Disziplinen zu denjenigen
Mitteln, welche unsrer eigenen Facharbeit zu Gebote stehen, herstellen lien,
oder inwieweit die breite, heute hier klaffende Lücke als, sei es vorläufig, sei es
dauernd, unausfüllbar anzusehen ist. Nur auf diese methodische Frage, nicht et-
wa auf den (wie sich leider zeigen wird, in fast jeder Einsicht verfrühten) Ver-
such, schon jetzt irgendwelche Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Diszipli-
nen direkt für die sozialwissenschaftliche Analyse zu verwerten, läuft diese Dar-
stellung hinaus.
Für alle sozialwissenschaftlichen Probleme der modernen (speziell der groß-
industriellen) Arbeit ßten »im Prinzip« die physiologischen und psychologi-
schen Bedingungen der Leistungs f ä h i g k e i t (für konkrete Arbeiten) den
Ausgangspunkt der Betrachtung bilden. Gleichviel nun, worauf der Besitz oder
Nichtbesitz einer »Leistungsfähigkeit« für bestimmte Arbeiten bei einem Indivi-
duum beruht: ob also ererbte Anlage, Erziehung, Ernährung oder andere Le-
bensschicksale ausschlaggebend an ihrer Entwicklung beteiligt waren, i m -
m e r äußert sich diese seine Arbeitseignung praktisch in der Art der Arbeits -
ö k o n o m i e seines psychophysischen Apparats. Daher stehen für die nach-
stehende Kompilation im Mittelpunkt der schwer zu übersehenden experimen-
talpsychologischen Literatur die umfassenden, auf äußerst intensiver Denkarbeit
und höchst sinnreichen und mühevollen, mehr als ein Jahrzehnt fortgesetzten,
Experimenten ruhenden Arbeiten des ausgezeichneten Psychiaters E. K r a e -
p e l i n und seiner Schüler über die psychophysischen Voraussetzungen und
Wirkungen von Arbeitsleistungen. In seinem, die Publikation dieser Arbeiten
einleitenden Artikel legt Kraepelin die Gesichtspunkte dar, unter denen er an
seine Untersuchungen herantrat: Von der Aphasielehre her habe sich die Psych-
iatrie gewöhnt gehabt, die Seele »monadologisch« in eine Anzahl von spezifi-
schen Mächten zu zersplittern und demgemäß
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 64
psychische Leistungen anzusehen als »Ergebnis von Majoritätsbeschlüssen des
Unterhauses der Wahrnehmungen und des Oberhauses der Erinnerungsbilder«.
Es sei demgegenüber nötig, als entscheidend für den Ablauf psychophysischer
Leistungen die »physiologischen Grundqualitäten« der Persönlichkeit anzuse-
hen, welche die Art und Weise entscheiden, wie der einzelne die »Reize«, auf
welche er »reagiert«, in sich »verarbeitet«. Auf die Ermittlung dieser »Grund-
qualitätedes Arbeiters ist also die Untersuchung letztlich abgestellt, und, um
diese zu ermitteln, muß von den möglichst einfachsten Grundkomponenten der
Arbeits l e i s t u n g ausgegangen werden. Es liegt auf der Hand, wie sehr die-
se F r a g e stellung dem Interesse unserer Disziplin entgegenkommt. Im nach-
folgenden wird daher durchweg von den Untersuchungen Kraepelins und seiner
Schüler ausgegangen (insbesondere überall da, wo nicht im Text das Gegenteil
ersichtlich gemacht ist). Andere Literatur ist nur ergänzend, insbesondere da, wo
sie sich zu Kraepelin und seinen Schülern kritisch stellt, herangezogen
1)
. Was an
n i c h t experimentalpsycho-
1)
U e b e r s i c h t : K r a e p e l i n selbst hat seine Auffassung 1. in der von ihm
verfaßten Einleitung zu dem fünfbändigen Sammelwerk: »Psychologische Arbeiten, heraus-
gegeben von E. Kraepelin«, 2. in der Festschrift für Wundt (Philosophische Studien XIX S.
475: auch als Heft separat: »Die Arbeitskurve«, 1902), 3. im Archiv für die gesamte Psycho-
logie Bd. I niedergelegt. Wesentlich auf seinen Forschungen beruhen die betreffenden Ab-
schnitte in den bekannten Werken von W u n d t , E b b i n g h a u s u. a. Für die Lei-
stungen des Muskels sind die einschlägigen Abschnitte in den physiologischen Kompendien-
werken von M u n k , T h i e r f e l d e r , und für die Bewegungslehre namentlich R.
D u B o i s R e y m o n d (Spezielle Muskelphysiologie und Bewegungslehre 1903, S.
210 ff.) zu benützen (vgl. auch in R a n k e s bekanntem Werke: Der Mensch, Bd. I, S. 476
ff., Bd. II. S. 163 ff.). Es ist das Verdienst des hübsch geschriebenen Aufsatzes von D e r -
s o n (im 10. Bande der Zeitschrift f. Sozialwissenschaft), den Versuch systematischer Ver-
wertung physiologischer Kenntnisse für sozial t h e o r e t i s c h e Zwecke zuerst gemacht
zu haben, so skeptisch man vielem, was er sagt, gegenüberstehen mag. Die nachstehende
Kompilation ist, wie im Text gesagt, im wesentlichen eine zusammenfassende Besprechung
der in dem genannten fünfbändigen Sammelwerk von Kraepelin herausgegebenen, im psycho-
logischen Laboratorium der Heidelberger Irrenklinik ausgeführten Arbeiten seiner Schüler,
kombiniert mit einiger anderer Literatur. Die schon in diesem Teile des Referats mit herange-
zogene differentialpsychologische und psycho-pathologische Literatur, namentlich auch die-
jenige zur Vererbungsfrage, wird besser zu dem zweiten Aufsatz angeführt. Hier sei nur zu
den einzelnen Abschnitten des Textes noch auf folgende Arbeiten speziell hingewiesen: Er-
müdung und Erholung: M o s s o , Die Ermüdung, deutsch von Glinzer. Dazu Ph. L.
B o l t o n , Kraepelins Arbeiten IV, S. 175 f. (speziell über die Methodik, auf welche im
zweiten Aufsatz zurückzukommen ist). Ferner (für die Nachwirkungen geistiger und körperli-
cher Arbeit): B e t t m a n n , Kraepelins Arbeiten 1, S. 182; M i e s e m e r , das. IV, S.
375 ff. T r è v e s , Le travail,
Besprochene Literatur 65
logischen
Arbeiten über Arbeitspsychologie und Physiologie sonst bereits exi-
stiert, bleibt vorläufig einmal beiseite. Wir stellen zunächst die wesentlichen Er-
gebnisse der Kraepelinschen und verwandter Arbeiten voran, um d a n n nach
der Methodik zu fragen, die ihrer Herausarbeitung zugrunde liegt, und sie mit
unseren eigenen methodischen Hilfsmitteln zu vergleichen.
Wenn man die Arbeits l e i s t u n g e n eines kontinuierlich in bestimmter
Art arbeitenden Menschen entweder direkt mittels geeigneter maschineller Vor-
richtungen im Laboratorium oder aber durch Feststellung des Produktes nach
Quantit und Qualität in möglichst kleinen Zeitintervallen mißt und das Ergeb-
nis in ein Koordinatensystem als »Leistungskurve« einträgt, so zeigt diese Linie
einen sehr unregelmäßigen, nicht nur auf den
la fatigue et l’effort. L’année psychologique XII (1906), S. 34 f. Für Muskelarbeit (Ergo-
gramm-Untersuchungen) O s e r e t z k o w s k y , Kraepelins Arbeiten III, S. 507 ff.;
Y o t e y k o , in l’Année psychologique V, 1899 (Alter und Ermüdungskurve: M a g -
g i o r a , Arch. ital. di biol. 29, 1898); T r è v e s , ebenda. Arbeit ohne Ermüdung:
B r o c a und R i c h e t , Arch. de physiol. normale et patholog. 5 Sér. X, 1898. Polemik
gegen den Kraepelinschen Ermüdungsbegriff bei: S e a s h o r e , Psychol. Bull. I, 1904, S.
87-101 (Bericht für die Versammlung der Amer. Psychol. Assoc. Uebung: von älteren Ar-
beitern, bes. F e c h n e r , Verh. d. Sächs. G. d. Wiss. (Math.-Phil. Kl.) IX (1857), S. 113;
X (1858), S. 70. Wirkung der Uebung: Bolton, Gerson a. a. O. E b e r t und M e u -
m a n n , Archiv f. d. ges. Psychologie IV, 1904, dazu die Besprechung von D. E. Müller in
der Ebbinghausschen Zeitschrift für Physiologie und Psychologie der Sinnesorgane 39, 1905.
v. V o ß (Schwankungen geistiger Arbeitsleistungen), Kraepelins Arbeiten II, S. 399 ff.
Reaktionstypen und Rhythmisierung: S p e c h t , Archiv f. d. ges. Psychologie III, 1904;
Y e r k e s (Variabilites of reaction times), Psychol. Bull. I, 1904, S. 137-146. T a r -
c h a n o f f , Atti del XI Congr. medico internaz. di Roma (Wirkung der Musik), im übri-
gen das zum 2. Aufsatz zu zitierende Buch von W. Stern und die andere dort angegebene Li-
teratur. Mitübung: F e c h n e r a. a. O. (1858), V o l k m a n n , Verh. d. Sächs. Ges.
d. Wiss. VIII (1856), W a s h b u r n , Philos. Stud. XI, 95. Versuche über Uebung mit
Setzern: A s c h a f f e n b u r g bei Kraepelin I, S. 611. (Ueber A b b é s d. 2. Arti-
kel.)
Ablenkung und Gehnung, Arbeitskombination: V o g t , Kraepelins Arbeiten III, S.
62 ff. Arbeitswechsel: W e y g a n d t , Kraepelins Arbeiten II, S. 118 ff. Kritik dieser
Arbeit bei S e a s h o r e a. a. O. Ueber Lerntechnik und Lernökonomie: Christo
P e n t s c h e w im Archiv f. d. ges. Psychologie I (1903). Ueber Uebungsfestigkeit z. B.:
S w i f t , Memory of shifted movements. Psychol. Bull. III (1906), S. 185-187. – Arbeitsun-
terbrechung, Pausenwirkung: H y l a n und K r a e p e l i n in Kraepelins Arbeiten IV,
S. 454 ff., O s e r e t z k o w s k y a. a. O., H e u m a n n , Kraepelins Arbeiten IV, S.
538 ff. Ueber die m e t h o d i s c h e Bedeutung der Pausenuntersuchungen: Kraepelin in
dem oben unter Nr. 3 zitierten Aufsatz. Weitere Literatur zum zweiten Aufsatz.
Wertvolle Hinweise verdanke ich den Herren Dr. H. Gruhle in Heidelberg und Privatdo-
zent Dr. W. Hellpach in Karlsruhe.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 66
ersten Blick, sondern auch nach bereits ziemlich eingehendem Studium schwer
erklärlichen Verlauf, an dem zuerst nur ein gewisses M von Ansteigen bei
Beginn der glichen Arbeitszeit, ein gewisses (aber sehr verschieden starkes
und abgestuftes) Fallen gegen Ende hin gemeinsam scheint. Auf die K o m -
p o n e n t e n dieses Verlaufs der »Arbeitskurve«, die man sich gleichfalls
einzeln als Kurven darstellbar denkt, beziehen sich nun die folgenden Begriffe:
1.
Dem Grundbegriff der » E r m ü d u n g « steht derjenige der » E r h o -
l u n g « gegenüber. Beide werden praktisch auf die Abnahme bzw. Wiederzu-
nahme der Fähigkeit bezogen, konkrete Leistungen in gegebenen Zeiteinheiten
zu w i e d e r h o l e n . Es wird angenommen, daß jene Abnahme der Lei-
stungsfähigkeit, welche das Symptom der »Ermüdung« bildet, auf einem zwie-
fachen Grunde ruhe, nämlich: 1. auf der direkten Hemmung der Leistung
durch stetig zunehmende Anhäufung von Ermüdungsstoffen; 2. der Abnahme
der (bzw. einiger) für die Leistungsfähigkeit unentbehrlicher Stoffe (»Erschöp-
fung«). Diese Hypothese dient zur Deutung des Verlaufs der »Erholung«. Für
die Beseitigung jener direkten »Hemmung« genügen kurze, die Fortschaffung
der Ermüdungsstoffe vermittels Durchspülung des betreffenden Organs mit fri-
schem Blut ermöglichende, evtl. nur wenige Minuten dauernde Zwischenräume
zwischen den Leistungen. Für die Beseitigung der »Erschöpfung«, die Herstel-
lung also der physiologischen Anfangsqualitäten des Organs, sind dagegen län-
gere, nach Kraepelin stets, auch bei kurzer Arbeit, über mehrere Stunden sich
erstreckende Zeiträume erforderlich. Es steht, wie es scheint, physiologisch vor-
erst nicht endgültig fest, ob der Ermüdungsvorgang bei vorwiegend n i c h t
muskulären Leistungen, insbesondere also bei Leistungen des nervösen Zentral-
apparates, jener von J. Ranke u. a. entwickelten chemischen Auffassung der
Muskelermüdung unbedingt gleichartig ist. Jedenfalls aber scheint die Ermü-
dung in beiden Fällen in ihrem Effekt auf die Leistungsfähigkeit wesentlich
gleichartig zu verlaufen. »Ermüdung« ist im übrigen bekanntlich nicht n u r
die Folge von »Arbeit« im Sinn der Vollziehung irgendwelchen bewußten »äu-
ßeren« oder »innere A n s t r e n g u n g e n . Erfahrungsgemäß ist vielmehr
ausreichender S c h l a f als Mittel für die Beseitigung
1. »Ermüdung« und »Erholung«. 67
derjenigen allgemeinen Ermüdung, welche durch den Kräfteverbrauch des blo-
ßen wachen Lebensprozesses als solchen, gleichviel ob die Wachezeit in »Ar-
beit« oder in absoluter »Ruhe« zugebracht wird, entsteht, stets schlechthin uner-
setzlich.
Von der »Ermüdung« durch A r b e i t wird nun, offenbar behufs leichterer
Anpassung an gewisse naturwissenschaftliche Grundhypothesen, angenommen
und empirisch wahrscheinlich zu machen gesucht, daß sie mit dem ersten Mo-
ment des Beginns der Arbeit einsetze und sofern nicht durch Pausen eine Er-
holung herbeigeführt werde, – unaufhörlich fortschreite, genau entsprechend
dem Kräfteverbrauch, welcher seinerseits der »wirklicheArbeitsleistung par-
allel gehe. Soweit der Ablauf der Arbeitsleitung dem Anscheine nach dieser
Hypothese widerspricht, wird dies auf die Einwirkung bestimmter anderer, wei-
terhin zu besprechender, ursächlicher Komponenten des äußeren Hergangs zu-
rückgeführt. Insbesondere wird deshalb streng geschieden von der »objektiven«,
d. h. auf materiellen Stoffverbrauch- Stoffersatzvorgängen ruhenden »Ermü-
dung« das subjektive Gefühl »Müdigkeit«, dessen psychisches Wesen, Entste-
hung und Verlauf auf ein (ziemlich komplexes) Problem der Psychologie ist. So
gewiß diese Gefühlslage in einem gewissen durchschnittlichen Zusammenhang
mit jenen physiologischen Tatbesnden zu stehen pflegt und so wünschenswert,
hygienisch gewertet, das Bestehen des normalen Maßes von Parallelismus bei-
der ist, so häufig fallen im Einzelfall beide auseinander, weil von pathologi-
schen, Abnormitäten ganz abgesehen die subjektive Müdigkeit auch Funktion
zahlreicher außerhalb der »wirklichen« Leistung selbst liegender Bedingungen,
darunter namentlich auch des psychischen Sichverhaltens zu der geforderten
Arbeitsleistung, namentlich des Maßes des Arbeitsinteresses, ist. Diese psy-
chisch bedingte »Müdigkeit« läßt nun zwar die effektive Arbeitsleistung kei-
neswegs unberührt (sie wirkt auf gewisse weiter unten zu besprechende Kompo-
nenten ein, welche Kraepelin als »Anregung« und »Willensantrieb« bezeichnet)
und sie kann auf die Dauer wohl zweifellos einen allgemeinen ungünstigen,
schließlich auch physisch sich äußernden Gesamthabitus hervorrufen. Dagegen
ihr direkter Einfluß, und damit auch der direkte Einfluß solcher Momente, »Ar-
beitsfreude«, »Stimmung« usw. auf die Leistungs f ä h i g k e i t wird, gegen-
über jenem p h y s i o logischen Tatbestand der »Ermüdung«, von Kraepelin
und seinen Schülern (und auch von
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 68
anderen Psychologen) ganz wesentlich geringer eingeschätzt, als dies heute zu-
weilen geschieht. Solche Momente beeinflussen also, von pathologischen
»Hemmungs«vorgängen abgesehen, wesentlich die Arbeits n e i g u n g , nicht:
die »objektive« Arbeits e i g n u n g . T r o t z grer Arbeitsunlust und sub-
jektiver »Müdigkeit« wurden nicht nur gleiche, sondern sogar (infolge der Ue-
bung) steigende Leistungen erzielt. Die Leistungs f ä h i g k e i t (soweit sie
als abhängig von der »objektiveErmüdbarkeit zu denken ist) gilt darnach als
etwas psychologisch n i c h t K e n n z e i c h n e n d e s « und also darf
hinzugefügt werden auch nicht psychisch B e d i n g t e s , eine für die
Kraepelinsche Schule charakteristische Auffassung, welche sicherlich noch zu
manchen prinzipiellen Auseinandersetzungen führen wird.
Natürlich gilt dauernde erhebliche Diskrepanz zwischen »subjektiver« Mü-
digkeit und »objektiver« Ermüdung als ein, die K o n t r o l l e über die Kräf-
teökonomie und damit die organische Selbststeuerung der Arbeit empfindlich
beeinträchtigendes, daher i n d i r e k t auch die dauernde Leistungsfähigkeit
gefährdendes Moment.
Die A r b e i t s ermüdung, mit welcher wir hier allein zu tun haben, ist stets
Folge konkreter Leistungen. Auf rein »muskulärem« Gebiet bedeutet dies: daß
sie die Folge der Inanspruchnahme bestimmter e i n z e l n e r Muskeln oder
Muskelgruppen ist. Aber ihre Wirkung ist dennoch nicht rein lokal. Ermüdung
nur e i n e s Muskels ist, wie es scheint, selbst im Wege des Experiments
vermittels eigens dazu eingerichteter Apparate, z. B. des Mossoschen »Ergogra-
phen« n i c h t zu erzielen, weil, physiologisch betrachtet, nie mit nur einem
Muskel agiert wird. Stets ist vielmehr die Arbeitsleistung Resultante einer Rei-
he, sozusagen, übereinander gelagerter Wirkungen verschiedener Muskelgrup-
pen, und namentlich sind sehr häufig, speziell im Falle der Ausschaltung oder
der Erschöpfung eines oder einiger von diesen, andere Gruppen vorhanden, wel-
che in die betreffenden Funktionen einspringen nnen. Vor allen Dingen aber
haben bei allen Leistungen ein ganzer Apparat von peripherischen motorischen
Endorganen, Nervenleitungen und, vor allem, das nervöse Zentralorgan z u -
s a m m e n zu wirken. Und wenn von den Nerven bestritten zu sein scheint, in
welchem Sinne sie überhaupt oder wenigstens: im Verlauf welcher Zeiten sie
durch Inanspruchnahme ermüden können, so ist dies bei dem Gehirn, auch bei
1. »Ermüdung« und »Erholung«. 69
körperlicher Arbeit, unzweifelhaft innerhalb normaler Tagesleistungen der Fall.
In der Theorie re also »peripherische« Ermüdung (Muskel und motorische
Endapparate) und »zentrale« Ermüdung zu scheiden. Schon die durch die Kräf-
teökonomie des M u s k e l s selbst bedingte Ermüdung desselben folgt nun
aber, für sich allein (vermittels der Zuckungsexperimente) betrachtet, ziemlich
verwickelten Gesetzen (z. B. Aenderung wesentlich der Intensit, nicht der
Quantit, der in Betracht kommenden Stoffwechselvorgänge, zunehmende
Trägheit des Oxydationsprozesses ohne wesentliche Abnahme der Menge der
oxydierten Stoffe, nach Volkmann). Durch die Kombination mit den Zentral-
vorgängen und durch die Aenderung der Lage und Spannung des Muskels im
Verlauf seiner Inanspruchnahme kompliziert sich die kausale Analyse noch wei-
ter. Und da beide in Praxis, z. B. in den Kurven- der Ergogramme ungeschieden
vereint sind, begegnet die gesonderte Messung beider Komponenten natürlich
den größten Schwierigkeiten. Wie dem nun sei, jedenfalls ist anerkannt, daß
auch rperliche Ermüdung nicht nur über die konkret ermüdende Einzel l e i -
s t u n g , sondern auch über diejenige Funktion des psychophysischen Appara-
tes, welche durch jene Einzelleistung in Anspruch genommen wurde, hinaus-
greift. Sie ist also mindestens insoweit eine n i c h t rein lokale, sondern
g e n e r e l l e psychophysische Zuständlichkeit (oder w i r d dies doch bei
hinlänglich fortgesetzter Inanspruchnahme des Organismus). Von der »geisti-
gen« Ermüdung nimmt Kraepelin, welcher auf dem Gebiet der Körperleistungen
partielle Ermüdbarkeit des Organismus ziemlich weitgehend anerkennt, unbe-
dingt an, daß sie ein für allemal eine g e n e r e l l e sei. Vielleicht geht er dar-
in zu weit (s. u.), jedenfalls aber ermüdet geistiges Arbeiten bestimmter Art das
Zentralorgan auch für a n d e r e geistige Leistungen, als diejenige, deren an-
haltender Vollzug die Ermüdung herbeiführte. Ferner aber ermüdet starke »kör-
perliche« Arbeit in gewissem Maße auch für geistige Leistungen, ein Effekt,
der experimentell festgestellt zu sein scheint, wennschon er, wie auch die All-
tagserfahrung lehrt, zeitweise durch die »psychomotorische« Erregung, welche
körperliche Leistungen zu hinterlassen pflegen, sowohl subjektiv als in der Kur-
ve der objektiven Leistung »verdeckt« werden kann. Es scheint weiter, daß um-
gekehrt auch körperliche Leistungsfähigkeit durch voraufgehende intellektuelle
Anstrengung ge-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 70
hemmt wird, obschon die Tragweite bestritten und vielleicht, je nach dem (»sen-
sorischen« oder »motorischen«) Charakter der Leistung verschieden ist. Daß z.
B., wie Hylan zur Erklärung gewisser experimentell gewonnener Ergebnisse als
möglich annahm, die vorangegangene physische Arbeit ihre Ermüdungswirkung
stärker auf die Gedächtnisleistung, ihre Erregungswirkung stärker auf die Leich-
tigkeit der Reaktion bei einer nachfolgenden »geistigeLeistung wirken läßt,
scheint an sich plausibel, wenn auch wohl noch nicht erwiesen. Und endlich er-
müdet auch e i n e spezifisch körperliche Leistung, wenigstens bei hinlänglich
starkem Fortschritt der Ermüdung, für a n d e r e , und zwar wie es scheint, un-
ter Umständen auch für ganz heterogene Leistungen ganz anderer Muskeln. Man
wird a priori geneigt sein anzunehmen, daß in allen diesen llen die Ermüdung
der n i c h t direkt ermüdeten, sondern nur »mitermüdete Leistungsfähigkei-
ten eine geringere sei, als wenn sie unmittelbar in Anspruch genommen werden,
ebenso, daß durch eine bestimmte Arbeit die Fähigkeiten zur Leistung anderer
Arbeiten, je nach der Beschaffenheit beider, möglicherweise v e r s c h i e -
d e n stark mitermüdet werden. Es läge namentlich die Annahme nahe, daß,
speziell auf »geistigem« Gebiete, Leistungen, welche ihrer Art nach psychophy-
sisch miteinander näher »verwandt« seien, von der Mitermüdung durch ange-
strengte Ausübung einer von ihnen stärker, heterogenere Leistungen dagegen
weniger mitbetroffen würden. Indessen die weiter unten, bei Erterung des
»Arbeitswechsels«, zu besprechenden Erfahrungen scheinen diese Vorausset-
zung n i c h t zu bestätigen, oder doch jedenfalls der Aufstellung eines a l l -
g e m e i n gültigen Satzes dieser Art eher ungünstig als günstig zu sein. Es ist
dabei auch zu erwägen, daß die Frage einer heren oder entfernteren »Ver-
wandtschaft« verschiedener Leistungen untereinander, von welcher ebenfalls
(bei Erörterung der Arbeitskombination) noch zu reden sein wird, nicht so ganz
einfach zu entscheiden ist, und daß, falls für die »Mitermüdung« überhaupt ir-
gendwelche Verwandtschafts g r a d e der Leistungen mit in Betracht men
(was z. B. von Kraepelin bestritten wird), wohl jedenfalls nicht der rein »psy-
chologische«, sondern der » p h y s i o l o g i s c h e « Charakter der Leistun-
gen Ausschlag gebend sein würde, daneben vielleicht eine Reihe bisher ganz
unbekannter Umsnde. Vorerst scheint nur das eine sicher zu sein: daß die Er-
müdung durch Arbeit zwar stets, auch bei »rein
1. »Ermüdung« und »Erholung«. 71
körperlichen« Leistungen, über den Bereich der unmittelbar beanspruchten
Funktion des Organismus hinausgeht, schon weil s t e t s das Zentralnerven-
system mitbeteiligt ist, daß dies aber um so höher in höherem Grade der Fall
ist, je m e h r eine Leistung »geistigen« Charakters ist, d a s h e i ß t :
v o r n e h m l i c h Funktionen des Zentralnervensystems in Anspruch nimmt.
Maß und Tempo der objektiven »Ermüdung«, wäre theoretisch betrachtet, di-
rekt durch die Abnahme der Leistung, unter den erforderlichen Kautelen zur
Ausschaltung von Nebeneinflüssen, meßbar, Mund Tempo der »Erholung«
durch den Vergleich der Leistungsfähigkeit nach einer eingeschalteten Pause bei
Feststellung des zu Beginn der Pause eingetretenen Ermüdungsgrades, unter den
gleichen Kautelen. In Wahrheit stellt aber schon die Messung des Einflusses,
den die Ermüdung in Kraepelins Sinn des Wortes auf den Verlauf der wirk-
lichen »Arbeitskurve« ausübt, wegen der Fülle von Komponenten, welche in
ganz verschiedener Art deren Gestalt beeinflussen, ein ungemein schwieriges
Problem dar, dessen Lösungsversuch durch Kraepelin, trotzdem er auf der Ar-
beit eines Jahrzehnts beruht, doch nach seiner eigenen Ansicht im einzelnen
noch stark hypothetisch geblieben ist. Soweit eine einigermaßen plausible Her-
ausschälung des Verlaufs der Ermüdung gelingt auf welchem Wege? davon
später soll, nach Kraepelins Ansicht, es wahrscheinlich gemacht sein, daß sie
zwar je nach der variierenden Tages-Disposition einer Person erheblich variiert,
dennoch aber bei ein und demselben Menschen ein bedeutendes Maß von Kon-
stanz der Rhythmik aufweist. Von der hiernach in M und Tempo bestimmba-
ren » E r m ü d b a r k e i t « eines Individuums und ebenso von seiner
» E r h o l b a r k e i t « nimmt Kraepelin an, daß sie n i c h t nur für konkre-
te Leistungen, sondern regelmäßig für Leistungen jeder Art, im wesentlichen in
gleichem Me bei ihm vorhanden seien, daß sie ferner zwar durch Uebung (s.
u.) erheblich modifizierbar seien, aber in ihrem Grundbestande doch der konkre-
ten Persönlichkeit als solcher dauernd generell charakteristische Eigenarten dar-
stellten, die also an e i n e r (beliebigen) Leistung desselben gemessen werden
könnten. Die Erholbarkeit soll dabei u. a. mit der Schlaffestigkeit des Indivi-
duums meist proportional gehen. Dieser Standpunkt Kraepelins ist namentlich
von amerikanischen Psychologen (Seashore) angefochten und behauptet wor-
den, daß »Ermüdung« weder etwas Homogenes,
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 72
noch etwas Generelles sei, daß vielmehr Art und Umfang der Ermüdung durch-
aus von Art und Grad der ermüdenden Arbeit abhänge, die »Ermüdbarkeit« ei-
ner Person also nicht eine am Verlauf e i n z e l n e r Arbeitskurven meßbare
einheitliche Qualität sei. Der Nichtfachmann wird hier nicht urteilen nnen,
für die Wirkungen »geistigeund »körperlicher« Arbeit aufeinander könnten
auch einzelne Resultate von Arbeiten aus Kraepelins Schule einen von dem sei-
nigen abweichenden Standpunkt nahelegen. Inwieweit übrigens mit Kraepelins
Standpunkt zur Sache zugleich statuiert sein würde, daß jene von ihm ange-
nommene »Grundqualitäte durchweg »angeboren«, und was damit nicht
identisch »ererbt« seien, steht natürlich dahin. Dauernde allgemeine »Disposi-
tionen« kann man ja auch »erwerben«; von der Akquisition erhter Ermüdbar-
keit durch Krankheit und andere Schädlichkeiten, insbesondere alkoholischer
und sexueller Provenienz abgesehen, ist sicherlich das ganze Jugendschicksal,
darunter wohl auch die Art der Ernährung, von Einfluß, z. B. nach neueren Be-
hauptungen die Länge der Stillungszeit der uglinge auf das Maß der später
von ihnen erreichten rperlichen und, wie gelegentlich nachzuweisen versucht
worden ist, auch geistigen Leistungsfähigkeit.
2.
Ein weiterer Grundbegriff ist derjenige der » U e b u n g « . Sie bedeutet: Stei-
gerung der Leichtigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit und Gleichmäßigkeit einer be-
stimmten Leistung durch deren oftmalige Wiederholung. Die »Uebung« in die-
sem Sinn ist nun schon bei einfachen, das heißt: praktisch nicht weiter zerlegba-
ren Leistungen ein komplexen Vorgang, bei welchem eine Reihe von Einzelur-
sachen zusammenwirken, um jene Verbesserung der Kfteökonomie zu errei-
chen, welche das Wesen des Uebungsvorgangs ausmacht
1)
. Sein Effekt ist: spar-
samere und erfolgreichere Ausnutzung des Kräftevorrats und der »Kraftkapazi-
tät« des gegebenen psychophysischen Apparats, also Erzielung einer (absolut)
zunehmenden Leistung unter Aufwendung (mindestens: relativ) abnehmender
Kräftequanta. Diese Kräfteökonomie wird nun vor allem bewirkt durch Aus-
schaltung oder Beschnkung
1)
Das Hineinspielen des Zentralorgans zeigt z. B. die Einwirkung der Uebung von Mus-
keln der einen Körperhälfte auf die der anderen.
2. »Uebung«. 73
der Inanspruchnahme aller der Teile des psychophysischen Apparates, welche
für die konkrete Leistung entbehrlich sind. »Körperlicher« und »geistigeAr-
beit gemeinsam ist in dieser Hinsicht vor allem der Vorgang der » M e c h a -
n i s i e r u n g « , »Automatisierung« möglichst vieler, anfänglich in allen ihren
Einzelheiten durch gesondert bewußtwerdenden Willensimpuls und unter kon-
stanter Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit vollzogenen Bestandteile der Lei-
stung. Das heißt also: mit häufiger Wiederholung einer Leistung stellt sich all-
mählich die Fähigkeit ein, sie auch ohne jene bewußte Inanspruchnahme des
Willens und der Aufmerksamkeit für die erforderlichen Einzelfunktionen des
psychophysischen Apparates, schließlich sogar besser o h n e Hinlenkung der
Aufmerksamkeit auf sie, zu vollziehen. Abgesehen davon, daß dieser, aus der
Alltagserfahrung ja genugsam bekannte Vorgang den bewußten Willen und die
Aufmerksamkeit für anderweitige Inanspruchnahme disponibel macht, und daß
er daher insbesondere die unentbehrliche Grundlage aller kombinierten und
komplizierten Leistungen ist, bedeutet er vermutlich auch ganz direkt eine
Kraftersparnis durch Entlastung des nervösen Zentralorgans. Die »Mechanisie-
rung« scheint nun in hohem Grade durch » R h y t h m i s i e r u n g « der Ar-
beit gefördert zu werden, weil diese die Hervorbringung der typischen Reaktio-
nen o h n e artikulierten Willensimpuls wesentlich erleichtert, und zwar so-
wohl bei »körperlichen« als bei »geistigeLeistungen. Die Zusammenhänge
von physischer Arbeit und Rhythmus hat Bücher in seinem bekannten schönen
Buch kulturgeschichtlich beleuchtet. r die psychophysische Analyse kommt
nun aber wesentlich in Betracht, daß die einzelnen Individuen sich 1. in dem
G r a d e ihrer Beeinflußbarkeit durch Rhythmen ziemlich verschieden zu ver-
halten scheinen: wesentlich »muskulär« (s. u.) reagierende Personen werden von
Aenderungen eines die Arbeit begleitenden Rhythmus nach den Beobachtungen
von Specht unbewußt sehr stark beeinflußt, »sensorielle« Reaktionstypen dage-
gen unter Umsnden gar nicht. Ferner aber scheint es 2. ein unter Umsnden
erheblicher Unterschied zu sein, ob der Rhythmus dem Arbeitenden von außen
aufgenötigt wird, oder aber ein ihm, nach den individuellen Strukturverhältnis-
sen seines psychophysischen Apparates, adäquates Tempo hat. Awranoff nimmt
zur Erklärung dessen an, daß die Rhythmisierung der Arbeit ihren Erfolg we-
sentlich der Anpassung an die natürlichen Willens- und Aufmerksam-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 74
keitsoszillationen (s. u.) verdankt. Jedenfalls ist die Bedeutung dieser individuel-
len Differenzen wohl verschieden je nach der Art der Leistung und des Rhyth-
mus. Es scheint durchaus glaublich, daß es zahlreiche einfache Leistungen und
zu ihnen gehörige Rhythmen: z. B. Marschrhythmen u. dgl. gibt, an welche sich
die große Mehrzahl der Menschen leicht anpaßt. Dagegen ist andererseits auch
die Behauptung plausibel, daß bei differenzierten und komplizierten Arbeiten
der einzelne auf verschiedene Rhythmen sehr verschieden reagiert. Gerade bei
kombinierten Leistungen ist die Rhythmisierung als Mittel der »Gewöhnung« (s.
u.), und zwar insbesondere, um die wie später zu erörtern sein wird, für den
Vollzug komplizierter Leistungen sehr wichtige glichkeit zu gewinnen, die
einzelnen miteinander kombinierten Teilleistungen gegenseitig in ihre kleinsten,
unmerklichen Pausen hineinzupassen, anscheinend von Wichtigkeit.
Die Mechanisierung der Leistung scheint ferner, wenn auch nicht immer, so
doch häufig, und zwar gerade da, wo sie den höchsten Grad erreicht, mit einer
Umgestaltung des Reaktionsablaufes Hand in Hand zu gehen, welche, physiolo-
gisch gesprochen, die A u s n u t z u n g d e r » R e i z n a c h w i r k u n -
g e n « durch »Summatioermöglicht. Der Vorgang findet, scheint es, bei al-
len Arten von Arbeit statt. Auf dem Gebiet der Muskelinanspruchnahme bedeu-
tet er in einfachster Form: daß, durch Beschleunigung des Aufeinanderfolgens
der einzelnen Reize, derjenige Reiz, welcher die folgende Muskelzuckung her-
vorruft, v o r dem vollen Ablauf der voraufgehenden Zuckung wirksam wird,
womöglich im Moment der Maximalhöhe der ersten Zuckung oder sogar schon
vor ihrem Beginn (im sog. »Latenz«zustande des ersten Reizes). Ist dies letztere
der Fall, so kann die starke, stets m e h r als proportionale Mehranstrengung,
welche eine so starke Beschleunigung der Leistung erfordert, dennoch m e h r
als aufgewogen werden durch den Effekt der »Superposition der Reize«. Das
heißt praktisch: eine Summe kleiner, unter Umsnden unmerklicher, und daher
nicht artikuliert zum Bewußtsein gelangender Reize kann dann eine summierte,
kontinuierliche Wirkung ausüben, welche selbst von (summiert gedacht)
wesentlich stärkeren Reizen, wenn sie in größeren Zeitintervallen erfolgen, nicht
erreicht werden nnte, weil im ersten Falle weit weniger von den Wirkungen
der Einzelreize u n g e n u t z t verloren geht als in letzteren. Solche tetanus-
(krampf-)artigen
2. »Uebung«. 75
Muskelzustände, – deren arbeitsökonomische Wirkung man, wie es scheint,
auch am Ergographen bei großer Beschleunigung des Tempos an den Arbeits-
kurven beobachten kann, scheinen nun auf dem Gebiet des vorwiegend nicht
»muskulären«, »geistigen« Arbeitens eine Parallele zu finden in der Ausnutzung
des ebenfalls »krampfartigen« Erregungszustandes, welcher bei größtmöglich-
ster Beschleunigung z. B. des Zahlenaddierens entsteht, überhaupt aber in dem
Ablauf, welchen der Vollzug sehr e i n f a c h e r Arbeitsverrichtung bei sehr
h o h e m Grade der »Uebung« nimmt. Die Arbeitsleistung wird dann in ho-
hem Maße stetig: die Leistung scheint von e i n e r kontinuierlichen Anspan-
nung getragen: v. Voß beobachtete, daß diese Gleichmäßigkeit als Folge der
Uebung sowohl (und namentlich) auf Kosten der langsamsten, als auch auf Ko-
sten der allerschnellsten Reaktionen, die bei unstetigerer Arbeit vorkommen,
entsteht. Daß sie in Wahrheit auch dann von lauter einzelnen, stoßweise sich
folgenden, W i l l e n s impulsen hervorgebracht wird, kommt bei der großen
Schnelligkeit, mit welcher diese aufeinanderfolgen, nicht zum Bewußtsein.
Ebenso nicht, daß die »kontinuierliche« A u f m e r k s a m k e i t in Wahr-
heit aus einer Serie von stets neuen Impulsen zur Einstellung auf diese konkrete
Leistung besteht. Beides läßt sich aber, scheint es, experimentell wahrscheinlich
machen, und gewisse im Experiment nachweisbare, kleine Oszillationen, welche
sowohl die Willensspannung, als die Aufmerksamkeit bei hoch geübten und
möglichst einfachen Arbeiten zeigen, scheinen zu ergeben, daß dabei eine Art
von »Rhythmisierung« des Stärkegrades der einzelnen Willens- und Aufmerk-
samkeitsimpulse sich entwickelt
1)
. Die arbeitsökonomische Zweckmäßigkeit der
A r b e i t s z e r l e g u n g beruht, wie angenommen wird, zum nicht gerin-
gen Teil auch darauf, daß bei den e i n f a c h s t e n Leistungen jene krampf-
artige Ausnutzung der Reiznachwirkungen und ihrer »Superpositiodie voll-
ständigste sein kann, vollständiger als bei Leistungen, von denen jede eines an-
ders gerichteten Impulses bedarf, und daher jede, infolge der Verlangsamung
durch
1)
Im übrigen scheint die Frage der »Superposition« von Reizen speziell für die Leistun-
gen des Zentralorgans noch äußerst ungeklärt zu sein, schon weil dasselbe nicht imstande zu
sein scheint, überhaupt e i n z e l n e Reize auszusenden und weil nach fachmännischer
Ansicht jeder Impuls eine in ihrem Rhythmus anscheinend unbeeinflbare »natürliche
Reizfrequenz« hat. Dies würde die D e u t u n g der im Text erwähnten Erscheinungen
modifizieren, ohne ihrer p r a k t i s c h e n Tragweite Eintrag zu tun.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 76
die erforderliche, Einschaltung anders gerichteter Reize und Reaktionen, Verlu-
ste an Ausnutzung der »Reiznachwirkungen« erleiden muß.
Mit diesen Vorgängen gehen nun bei der »Uebung« eine Reihe von anderen
Prozessen parallel, welche gleichfalls der Kräfteökonomie des psychophysi-
schen Apparates dienen. So zunächst bei der Uebung der für eine bestimmte Re-
aktion verwendeten M u s k e l n . Schon an sich ist der Muskel – nach Munks
Ausdruck die »vollendetste Dynamomaschine, die wir kennen«, weil er unter
Umständen bis zu 40 % von den chemischen Spannkräften der verbrauchten
Stoffe in Arbeitsleistung umzusetzen vermag (während der als unbenutzte Wär-
me entweichende Bruchteil bekanntlich bei jeder »Maschine« bis
9
/
10
und mehr
beträgt). Die fortschreitende Uebung bedeutet nun die stets fortschreitende Re-
duktion der ohne Nutzen für die betreffende Leistung verbrauchten Spannkräfte,
oder, anders ausgedrückt, die stete Verbesserung des Verhältnisses zwischen
physiologischer (Arbeits-) Leistung zur physikalischen (Energie-) Leistung.
Dies geschieht vor allem durch die möglichste B e s c h r ä n k u n g der Be-
wegung 1. auf die an der betreffenden Arbeit direkt mitbeteiligten Muskeln:
Ausschaltung der im Anfang der Uebung massenhaft auftretenden unwillkürli-
chen Mitbewegung anderer, für die Leistung entbehrlicher, Muskeln, welche ja
das äußerlich charakteristische Symptom der »Ungeschicklichkeit« und, vor al-
lem, eine Verletzung der Kräfteökonomie ist, 2. auf diejenigen unter den, nicht
selten, mehreren möglichen Muskeln, welche die betreffende Arbeit unter dem
kleinstmöglichen Kräfteaufwande vollbringen können. Ob bei diesen Vorgängen
ferner auch eine allmähliche Beseitigung irgendwelcher gegenseitiger innerer
physischer Hemmungen des möglichst freien Spiels der Muskeln durch diese
selbst untereinander wirksam wird, scheint vorerst seitens der Fachmänner nicht
entschieden zu sein. Von den beiden erwähnten Richtungen, in welchen bei
der Uebung die Kräfteökonomie fortschreitet, ist nun die Verschiebung der Lei-
stung auf diejenigen Muskeln, welche den geringsten Kräfteaufwand erfordern,
die prinzipiell interessanteste. Ueber sie hat neuerdings soviel ich sehe, unter
dem Gesichtspunkt der Arbeitsökonomie zuerst – Gerson in einem geistreich ge-
schriebenen Essay ansprechende, teilweise auch der Laienerfahrung entspre-
chende, natürlich aber in allem einzelnen und in ihrer Tragweite n u r durch
den phy-
2. »Uebung«. 77
siologischen Fachmann nachprüfbare Theorien entwickelt. Die Mechanisie-
rung und Beschleunigung, welche Bedingungen der Kräfteersparnis sind, sollen
darnach ihr Maximum bei solchen Bewegungen erreichen, die von k l e i n e -
r e n Muskeln ausgeführt werden, deren »Reizschwelle«
1)
niedrig sei und deren
Kraftverausgabung bei der einzelnen Zuckung leicht unterhalb der Bewußtseins-
schwelle bleibe. Von den Bewegungen der größeren Muskeln erfordere dagegen
im allgemeinen jede einzelne einen starken Reiz, um überhaupt in Betrieb zu
kommen (»hohe Reizschwelle«. Es erfolge ferner sowohl die Wirkung des Rei-
zes als der Ablauf der Reaktionen bei den großen Muskeln so langsam, und es
stelle jede E i n z e l bewegung einen so bedeutenden Kraftaufwand dar, daß
sie schwerer automatisiert werde (z. B. die Bewegungen etwa des Schmiedes
oder des Ruderers; anders steht es mit den Gangbewegungen, solange die Gang-
art nicht besonders anstrengend ist), als dies bei Bewegungen kleinerer Muskeln
(z. B. Schreibbewegungen usw.) gelinge. Die Verschiebung möglichst aller Lei-
stungen, welche ein bestimmter Arbeitszweck erheischt, auf die möglichst klein-
sten Muskeln, namentlich die Muskeln der Hand, und die Entlastung der größe-
ren Muskeln bedeute daher, selbst wenn der von den kleinen Muskeln i n s -
g e s a m t für einen Arbeitszweck zu leistende Kraftaufwand n i c h t gerin-
ger ist, als ihn (für den gleichen Zweck) die großen zu leisten hätten, dennoch
eine vollsndigere Ausnutzung der umgesetzten Spannkräfte, weil die Ausnut-
zung der Reizwirkungen und die Mechanisierung dabei vollständiger sein n-
ne. Daß die modernen Maschinen, im gren und ganzen, die Entlastung spe-
ziell der großen Muskeln zu Lasten der kleinen besorgt haben, wird nicht bestrit-
ten werden nnen. Es wäre durchaus fruchtbar, die Entwicklung der Technik
unter diesem Gesichtspunkt eingehender zu analysieren, so wenig es natürlich
angeht, die ganze Kulturgeschichte oder auch nur die ganze Geschichte der
Technik sozusagen aus einem »Prinzip des kleinsten Muskels« erklären zu wol-
len. Noch mehr der heren Untersuchung berftig erscheint, inwieweit diese,
wohl innerhalb gewisser, a priori nicht sicher feststellbarer, Grenzen, für die
K u l t u r geschichte zutreffende Entwickelung auch für die individuellen
U e b u n g s vorgänge eine Rolle spielt. Soweit überhaupt die glichkeit ei-
ner annähernd
1)
Nach einer übrigens unter den Fachleuten anscheinend noch durchaus bestrittenen An-
sicht.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 78
gleichwertigen Verwendung verschiedener Muskelgruppen zu der gleichen Ar-
beitsverrichtung besteht (wo und wie oft dies überhaupt der Fall ist, nnte nur
die Einzelanalyse der Fachmänner zeigen), da wird auf die Dauer zweifellos die
möglichste Ausschaltung aller übrigen mit Ausnahme des unter der größten
Kraftersparnis verwendbaren Muskels stattfinden. In vielen Fällen wird dies
vermutlich zugleich der möglichst kleinste Muskel sein. Ob immer, nnte nur
fachmännische Untersuchung entscheiden. Jedenfalls findet nicht selten, so in
der Arm- und Handmuskulatur – im Wege der »Uebung« in Wahrheit eine
V e r s c h i e b u n g in den für eine Leistung aufgewendeten Mitteln statt.
Eine solche Verschiebung in der Art der Leistungsmittel findet sich nun, in
charakteristischer Weise, auch auf dem Gebiet des »geistige Arbeitens. In
nicht wenigen Fällen kann eine und dieselbe Leistung mit sehr verschiedenen
Mitteln vollzogen werden. Man pflegt z. B. die Art des Gedächtnisses zu unter-
scheiden, je nachdem die Einprägung etwa von Zahlen- oder Silbengruppen un-
ter Benutzung visueller Mittel ( G e s i c h t s bilder der Zahlen bzw. Silben)
oder akustisch (Gehörsbilder: man h ö r t sich »innerlich« sprechen) oder aber
motorisch (man f ü h l t sich »innerlich« flüstern) erfolgt, bzw., da sehr oft nur
von einem Ueberwiegen des einen Mittels über das andere die Rede sein kann:
je nachdem vorwiegend das eine oder das andere von ihnen sich im Betrieb be-
findet. Kraepelin wollte darnach überhaupt »Erlernung« (sensorische Einprä-
gung) von »Uebung« (motorische Einschulung) grundsätzlich scheiden (denen
beiden, wie er andeutete, vielleicht die »assoziative Uebung« als dritter Typ zu-
zugesellen sei). Praktisch scheint bei Gedächtnisleistungen meist nur ein mehr
»visueller« und ein mehr akustisch-motorischer Typ leicht unterscheidbar: das
bekannteste und oft angeführte Beispiel waren die beiden Rechenkünstler Inaudi
und Diamandi, von denen der letztere nur mit Gesichtsbildern, der erstere (bis
zum 20. Jahre Analphabet) rein akustisch-motorisch sich die Zahlengruppen
einprägte. Es handelt sich hier um »Anschauungstypen«, die zwar in einem ge-
wissen, oft vielleicht hohen Me, auf a n g e b o r e n e r Anlage ruhen, an-
dererseits aber auch, wie Henry betont hat, in ziemlich erheblichem Maße
durch die faktisch einmal eingeschlagene Richtung der »Uebung« ausgeprägt
und oft geradezu geschaffen werden. Die Zugehörigkeit zum einen oder anderen
Typus und vor allem die, bei der Mehrzahl der Individuen in
2. »Uebung«. 79
irgendeinem Grade vorhandenen Möglichkeit, zwischen der Art der »Auffas-
sung« zu w e c h s e l n , ist, wie später zu erörtern, für die glichkeit der
K o m b i n a t i o n mehrerer Teilleistungen miteinander vermutlich ziemlich
wichtig. In ähnlicher Art pflegt man auch »Reaktionstypen« zu unterscheiden, je
nachdem bei dem Ablauf der Reaktion auf einen Reiz die Aufmerksamkeit vor-
nehmlich auf den Reiz oder auf die auszuführende Bewegung gerichtet ist: »sen-
sorielle« oder »motorische« Reaktionsweise vorherrscht. Man hat (Baldwin)
diese Gegensätze mit den Anschauungs- und Sprachtypen kombinieren und, da
man auf Grund einiger Beobachtungen annahm, daß die Reaktion bei »sensori-
schem« Ablauf l a n g s a m e r erfolge, deren Z e i t d a u e r für das ent-
scheidende Merkmal der Eigenart eines jeden Individuums hinstellen wollen. In
der Tat ngt jener Gegensatz der Reaktionsweise, obwohl auch er in der Mehr-
zahl der Fälle relativ ist, anscheinend oft mit praktisch weitgehenden Unter-
schieden der Persönlichkeiten (der »Temperamente«) zusammen. Die größere
Fähigkeit zur »Kritik« z. B. pflegt, bei gleichzeitig größerer »Passivität«, den
»sensorischen«, die größere Promptheit und »Aktivität«, Vielseitigkeit, den
»motorische Typ auszuzeichnen. Allein schon der Umstand, daß »sensori-
sche« Sprachtypen bestimmter Art (auditive) häufiger sind als sensorische Reak-
tionstypen, scheint es auszuschließen, daß man einfach »sensorische« und »mo-
torische« P e r s ö n l i c h k e i t e n scheidet. Auch »Anschauungstype
und »Reaktionstypedecken sich nicht. Und ebenso glaubt Flournoy gezeigt
zu haben, daß die sensorische Reaktionsweise zwar häufig, aber nicht immer,
die langsamere sei, eine Behauptung, die von anderer Seite als durch die stets
nur relative »Reinheit« der Typen (»Uebergangstypen«: Götz-Martius) veranlaßt
angesehen wird. Es scheint immerhin möglich, daß zahlreiche Individuen gerade
darnach klassifiziert werden nnten: w e l c h e von beiden Reaktionsarten
bei ihnen schneller und leichter abläuft, daß es ferner auch Individuen gibt, die
keinen von beiden Typen angehören oder die sich zu beiden indifferent verhal-
ten, das heißt: bei denen die Reaktion gleich schnell abuft, mögen sie nun ihre
Aufmerksamkeit dem Reiz, der Reaktion oder keinem von beiden vorwiegend
zuwenden. Gleichwohl bleibt in sehr vielen Fällen der Unterschied der einem
Individuum g e w o h n t e n Reaktionsweise, ebenso die Art seines »An-
schauungstyps« und
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 80
vor allem: die größere oder geringere Fähigkeit, mit der Art der Benutzung sei-
nes psychophysischen Apparates in diesen Hinsichten zu w e c h s e l n , eine
wichtige Komponente seiner Leistungsfähigkeit, und zwar speziell seiner Fähig-
keit, k o m b i n i e r t e Leistungen zu vollbringen. Es zeigt sich nun, daß
durch die » U e b u n g « nicht selten bei einer und derselben Person ein Wan-
del in diesen Verhältnissen eintritt, namentlich dann, wenn die Uebung in be-
sonders starkem Me auf die steigende S c h n e l l i g k e i t der Leistung
abgestellt wird. Es findet sich dann namentlich oft, daß der Uebende unvermerkt
von der »sensorischezur »motorischen« Uebung übergeht, um auf diese Wei-
se die Beschleunigung und Mechanisierung der Leistung zu erleichtern. Denn
wenn auch, wie gesagt, in Abrede gestellt wird, daß »motorische« Leistung a n
s i c h schon größere Schnelligkeit bedeute, so hängt doch wohl allerdings die
möglichste Verdrängung der Leistung aus dem Bereich der bewußten Aufmerk-
samkeit und Willensimpulse (die »Automatisierung«) mit dem Ueberwiegen der
motorischen Reaktionsweise ziemlich eng zusammen, und ebenso hat die moto-
rische Reaktionsweise für die Schnelligkeit der Leistung (im Gegensatz zur
P r ä z i s i o n derselben) den Vorteil, die allgemeine ((»psychomotorische«)
Erregung, welche jede vorwiegend »motorisczu vollziehende Arbeit hervor-
bringt, als »Anregung« (s. u.) für die Steigerung der Leistungskurve verwerten
zu können. Ueber die Bedeutung derjenigen Fälle von Wechsel in den techni-
schen Mitteln der Erzielung einer Leistung, welche durch die Notwendigkeit,
diese mit andern Leistungen zu kombinieren und also diese verschiedenen Lei-
stungen möglichst auf verschiedene Mittel des psychophysischen Apparates zu
verteilen, geschaffen werden, wird weiter unten zu handeln sein. In jedem Falle
zeigt das Vorkommen solcher Aenderungen des psychophysischen Charakters
einer Arbeit bei G l e i c h b l e i b e n ihres L e i s t u n g s e f f e k t s ,
daß man sich hüten muß, diesen Effekt und also den »Sinn« und »Zweck« einer
Leistung zur Grundlage einer Klassifikation der Arbeit nach ihrer psychophysi-
schen Eigenart zu machen. Und ebenso zeigt sich: daß die »Uebung« einer Lei-
stung unter Umsnden deren q u a l i t a t i v e A e n d e r u n g , ja gerade-
zu: die Substitution eines dem Wesen nach a n d e r e n p s y c h o p h y s i -
s c h e n G e s c h e h e n s bedeuten kann.
2. »Uebung«. 81
Die Wirkung der Uebung äußert sich in erkennbarer Weise am unmittelbar-
sten natürlich in den Fortschritten des Leistungsmes in der Zeiteinheit im Ver-
lauf einer kontinuierlichen Arbeit. Allein in diesem Fall »wirkt«, vom Stand-
punkt der Kraepelinschen Betrachtungsweise aus gesehen, die stetig fortschrei-
tende Ermüdung ihr »entgegen«. hrend anfangs die zunehmende Uebung die
beginnende Ermüdung überwiegt und also die Arbeitskurve, im ganzen, sich
aufsteigend bewegt, beginnt, bei immer weiterer Fortsetzung der Arbeit, die Er-
müdung gegenüber der Uebungszunahme im Effekt auf die Arbeitsleistung mehr
und mehr zu überwiegen. Man pflegt daher den Uebungsfortschritt zu messen
nach dem Maß des Zuwachses, den die Leistungsfähigkeit bei Beginn einer neu-
en, durch eine zur Erholung ausreichende Pause von der vorangehenden ge-
trennten, Arbeitsperiode, insbesondere eines neuen Arbeitstages gegenüber dem
Niveau bei Beginn des vorhergehenden, aufweist. Als erfahrungsgemäß (und
experimentell) feststehend wird aber andererseits angesehen, daß das erreichte
Niveau der Geübtheit sich mit Aufhören der kontinuierlichen Wiederholung der
Leistung sofort, zunächst schnell, dann langsamer, zu senken beginnt (»Ue-
bungsverlust«); es wird also auf diese Weise nur der bei Beginn der neuen Ar-
beitsperiode noch verbliebene Rest des Uebungszuwachses (»Uebungsrück-
stand«) gemessen. Der Uebungsverlust hrend des Schlafs scheint geringer zu
sein als derjenige während des Wachens, offenbar weil der Einfluß andersartiger
Einstellungen des psychophysischen Apparates die Spuren der Uebung alteriert.
Durchweg nimmt ferner im Verlauf immer weiter fortgesetzter Uebung und im-
mer höheren Niveaus der Geübtheit der Uebungszuwachs, r e l a t i v betrach-
tet, ab, bis zur Erreichung eines Maximums von Geübtheit, welches natürlich für
jede Person und jede Leistung verschieden sein kann. Je mehr sich das Maß der
Geübtheit diesem Maximum annähert, desto f r ü h e r muß in den Arbeits-
kurven der einzelnen Tage, die nunmehr infolge des hohen Standes der Geübt-
heit ja mit viel höheren Anfangsleistungen einsetzen als die Arbeitskurven Un-
geübter (aber dafür auch weniger steigerungsfähig sind) die Ermüdung die Ar-
beitskurve zum Sinken bringen. Andererseits scheint die experimentelle Erfah-
rung zu lehren, daß bei hohem Uebungsstande diesem früheren Manifestwerden
des Einflusses der Ermüdung eine größere Langsamkeit in der Senkung der Ar-
beitskurve also eine geringere
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 82
E r m ü d b a r k e i t entspricht. Die Arbeitskurve des »Geübte setzt also
höher ein, steigt mäßiger an, beginnt früher zu sinken, sinkt aber langsamer und
verläuft also im ganzen 1. auf höherem Niveau, 2. flacher und stetiger, als die
des »Anfängers«.
Das T e m p o des Uebungszuwachses stellt nach Kraepelins Terminologie
das Maß der » U e b u n g s f ä h i g k e i t « dar. Das bei verschiedenen Per-
sonen sehr verschiedene Tempo des Uebungsverlustes oder vielmehr das M
des nach Pausen, insbesondere nach dem Nachtschlaf, noch verbliebenen Ue-
bungsrückstandes, bezeichnet er als » U e b u n g s f e s t i g k e i t « . Die Ue-
bungsfestigkeit äußert sich zunächst in dem Grade der Stetigkeit, mit welcher,
infolge der zunehmenden Uebung, die Leistungsfähigkeit beim Arbeitsbeginn
von Tag zu Tag zunimmt, bis die m a x i m a l e Geübtheit erreicht ist. Als-
dann in der Stetigkeit, mit der dies Maximum bestehen bleibt. Endlich aber auch
in der Schnelligkeit, mit welcher nach lange dauernden Perioden der Arbeitsun-
terbrechung das früher erreichte Niveau der Geübtheit wieder erlangt wird. Es
scheint, daß, während die Geübtheit bei Unterbrechung der Arbeit zunächst
ziemlich schnell zu sinken beginnt, dieses Sinken sich allmählich verlangsamt
und auf sehr lange Perioden hinaus eine Disposition zu beschleunigter Wiederer-
langung des einmal vorhanden gewesenen Grades der Geübtheit haften bleibt.
Ein (amerikanischer) Versuch an Schreibmaschinen zeigte z. B., daß dasjenige
Maß der Geübtheit, welches beim erstmaligen Erlernen des Maschinenschrei-
bens am 50. Tage erreicht wurde, nach einer Pause von mehr als 2 Jahren, h-
rend deren die Versuchsperson sich des Maschinenschreibens völlig entwöhnt
hatte, schon am 13. Tag wieder erreicht war. In der Verkürzung der erforderli-
chen Uebungszeit auf ca.
1
/
4
, zeigt sich der »Uebungsrest«. Andererseits scheint
auch durch experimentelle Nachprüfung bekannter Alltagserfahrungen festzu-
stehen, daß selbst ein noch so hoher Grad von Geübtheit niemals gegen »Ue-
bungsverlust« immun macht, vielmehr jede Unterbrechung auch des höchstge-
übten Arbeiters (Setzer, Buchhalter, Klaviervirtuose) in der fortdauernden Ue-
bung a l s b a l d sich fühlbar macht, was für die Frage der Arbeitsabwechs-
lung (s. u.) von praktisch erheblicher Bedeutung ist.
Die Arbeiten der Kraepelinschen Schule haben nun, nach Ansicht ihres Lei-
ters, auch gewisse wichtige Aufschlüsse über die gegenseitigem Beziehungen
zwischen Ermüdung und Uebung und
2. »Uebung«. 83
die Dispositionen zu beiden gegeben. Zunächst hält Kraepelin es für experimen-
tell wahrscheinlich gemacht, daß »Ermüdungsarbeit«, d. h. Arbeit im Zustande
starker Erschöpfung, geringe oder keine Uebungsrückstände hinterlasse, also
spezifisch geringeren Uebungswert habe. Und ferner was noch wichtiger wäre
hält er für ziemlich sicher, daß das Maß der » E r m ü d b a r k e i t « und das
Maß der » U e b u n g s f ä h i g k e i t « bei ein und derselben Person einander
annähernd zu entsprechen scheinen. Die Allgemeingültigkeit dieser Beobach-
tung ist zwar von anderer Seite in Abrede gestellt worden. Kraepelin seinerseits
hält es aber ferner auch für wahrscheinlich, daß großer »Uebungs f ä h i g -
k e i t « geringe »Uebungs f e s t i g k e i t « zu entsprechen pflege, so daß al-
so durch die häufige Kombination der Dispositionen zu: rascher Uebung, ra-
scher Ermüdung, raschem Uebungsverlust, ein spezifischer, labiler, psychischer
Typus konstituiert würde. Jedoch ist auch dies, wenigstens wenn man darunter
eine einheitliche Klassifikation der möglichen Verhaltungsweisen menschlicher
Konstitution verstehen soll, noch nicht unbestritten. Festzustehen scheint ande-
rerseits, daß Uebungsfähigkeit und absolute Leistungsfähigkeit n i c h t in Be-
ziehung zueinander stehen. Ein Mensch von (für eine bestimmte Arbeit) eng be-
grenzter Maximalleistungsfähigkeit kann dies Maximum sowohl schneller als
auch langsamer erreichen, als ein anderer mit höherem Maximum.
»Ermüdung« und »Uebung« verhalten sich in ihrem Gesamtablauf in mehre-
ren Hinsichten gegensätzlich zueinander. Die Wirkungen der Ermüdung sind
pathologischelle beiseite gelassen ihrem Wesen nach f l ü c h t i g e .
Hingegen sind die Wirkungen der Uebung stets, nur dem Grade nach individuell
verschieden, d a u e r n d e . Von der Ermüdung scheint, wie erwähnt wurde,
festzustehen, daß sie mindestens bei srkeren Graden und bei »geistigen« Lei-
stungen universell wird, den gesamten Organismus beeinflußt und die Höhe
a l l e r , nicht nur der speziell in Anspruch genommenen, Leistungen, wenn
auch wohl in verschieden starkem Maße, herabsetzt. Die Uebung dagegen ist ih-
rem Wesen nach spezialistisch und »einseitig«. Sie vollzieht sich ja bei rein
physischen Leistungen teils durch A u s s c h a l t u n g der anfänglichen, un-
ökonomischen Mitbewegungen möglichst vieler für die beanspruchte Leistung
entbehrlichen Muskeln, durch Begrenzung der Inanspruchnahme auf diejenigen
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 84
Muskeln, welche im gegebenen Falle mit der günstigsten Kräfteökonomie arbei-
ten, dann bei fortgesetzter Uebung durch Wachstum dieser, und daneben durch
möglichste »Automatisierung« ihres Funktionierens, d. h. Ersparnis von Inan-
spruchnahme bewußter Willensimpuls, – durchweg also auf dem Wege der
A u ß e r b e t r i e b setzung des möglichen Maximums von Organen. Und bei
der Einübung »geistiger« Leistungen handelt es sich gleichfalls um die Aufsu-
chung derjenigen Art der Inanspruchnahme des psychophysischen Apparates,
welche den Vollzug der Leistung mit dem Minimum von Anstrengung gestattet,
und, nachdem diese Art und Weise z. B. die »auditiv-motorische« Form des
Lernens einmal gefunden ist, ebenfalls um möglichst maximale »Automatisie-
rung«. In allen Fällen also wird durch die »Uebung« einer bestimmten Leistung
das Feld derjenigen psychophysischen Funktionen, welche zu ihrem Vollzug in
Anspruch genommen und beschäftigt werden, v e r e n g t . Fraglich und vor-
erst anscheinend nicht zu entscheiden ist nur, w i e w e i t diese Einengung
der Inanspruchnahme im Einzelfall gehen kann. Diese Frage kann man nun auch
in umgekehrter Form stellen und sie gewinnt alsdann erhebliche Wichtigkeit,
weil die Mit i n a n s p r u c h n a h m e anderer Funktionen unter Umständen
vielleicht auch deren Mit ü b u n g bedeuten könnte.
Man hat vielfach versucht, »Uebung« entweder mit »Gedächtnis« zu identifi-
zieren oder unter diesen Begriff als Spezialfall zu subsumieren, oder umgekehrt
von ihm zu scheiden. Diese Fragen nnen uns hier unberührt lassen. Denn so-
viel steht fest: versteht man unter »Gedächtnis« nur die Aufbewahrung von Ein-
drücken und die Fähigkeit der absichtlichen oder zufällig-assoziativen Repro-
duktion dieser selben speziellen Eindrücke, dann greift der Effekt der »Uebung«
darüber hinaus: es steht, ganz unbeschadet des über den Unterschied der spezia-
lisierenden Wirkung der Uebung im Verhältnis zu dem der Ermüdung soeben
Gesagten, dennoch durchaus fest, daß die Uebung jedenfalls in manchen llen,
und speziell für gewisse geistige Leistungen, n i c h t n u r der Wiederho-
lung der speziell geübten Einzelleistung, sondern der ganzen betreffenden
R i c h t u n g psychischer Tätigkeit, deren Einzelfunktion jene war, zugute zu
kommen pflegt. So wird durch Uebungen im Reproduzieren bestimmter konkre-
ter Eindrücke nicht nur die Merkfähigkeit für diese Eindrücke, sondern nach un-
zweideutigen experimentellen
2. »Uebung«. 85
Erfahrungen die Merkfähigkeit ü b e r h a u p t gesteigert, also »geübt«. In
einzelnen llen von Gedächtnisleistungen hat man sogar nach einer längeren
Zwischenepoche (mehrere Monate) diesen generellen »Uebungsrückstand« an-
scheinend g r ö ß e r gefunden als das am Schluß der früheren Uebungsperio-
de erreichte Uebungsniveau. Die Deutung dafür ist bestritten: »Latente Fortbil-
dung einmal geweckter Dispositionen« in Verbindung mit Erholung (so G. E.
Müller) oder: »Ueberfütterung« des Gedächtnisses am Schluß der ersten Ue-
bungsperiode mit konkretem Material, welches assoziativ hemmend auf die
Aufnahme weiteren Materials wirkte, so daß jenes erst vergessen sein mußte,
ehe die Fortbildung der generellen Disposition durch die Uebung zur Wirksam-
keit gelangen konnte (so: die Experimentatoren, Ebert und Meumann, selbst).
Bei jeder von beiden Interpretationen ist es jedenfalls eine Disposition zu Lei-
stungen bestimmter g e n e r e l l e r Qualität, welcher die »Uebung« zugute
kam. Wegen ihrer, in M und Art, wie gesagt, nicht unbestrittenen Wirkung
über die direkt geübte Leistung hinaus hat man die Uebung gelegentlich mit ei-
ner (sachlich vielleicht nicht ganz einwandsfreien) Terminologie: »eine Art von
Generalgedächtnis« genannt und versucht, jenen Effekt als eine Ausbreitung der
psychophysischen Erregung auf Gebiete, die von der ersten Erregung nicht di-
rekt betroffen waren, zu deuten. Ob diese, ebenfalls nicht unbestrittene, Annah-
me eine für die naturwissenschaftliche Theorie adäquate Interpretation ist, kann
weder der Nichtfachmann beurteilen noch interessiert es für die Aufgaben, um
die es sich bei Untersuchungen über die Tragweite der Uebung handelt. Dage-
gen wäre es von der allereinschneidendsten Bedeutung, wenn festgestellt werden
könnte, w i e w e i t der Uebungseinfluß sich, je nach dem Objekt der Ein-
übung, über die eingeübte Spezialleistung hinaus erstreckt, wo also die
G r e n z e des Einflusses der Uebung in dieser Hinsicht liegt. Denn dies erst
würde zeigen, welche a n d e r e n konkreten Leistungen an dem erleichtern-
den Effekt der Einübung einer oder mehrerer bestimmter Leistungen partizipie-
ren, durch sie sozusagen »vorgeübt« oder »mitgeübt« werden, also mit der oder
den geübten Originalleistungen sozusagen in psychophysischer Uebungsge-
meinschaft stehen? wobei es selbstverständlich re, daß die »Vorübung« ei-
ner Leistung durch eine andere niemals die direkte »Uebung« der ersteren selbst
er-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 86
setzen könnte. Hierfür scheinen nun, abgesehen davon, daß es, wie gesagt, an
prinzipiellen Ablehnungen der ganzen Formulierungsweise nicht fehlt, kaum die
ersten Anfänge von Untersuchungen vorzuliegen
1)
und (außerhalb der erwähnten
Experimente über das Lerngedächtnis) gar keine solchen, die ausdrücklich gera-
de auf diese Frage abgestellt ren, begreiflich genug schon bei den ungeheu-
ren technischen Schwierigkeiten, welchen derartige Experimente begegnen wür-
den. Die Behauptung, daß auf dem Gebiet der Merkfähigkeit die Mitübung sich
gradweise, je nach dem Maß der Verwandtschaft der »mitgeübteLeistungen
mit der direkt eingeübten, abstufe, ist auf Widerspruch gestoßen. Man hat dem-
gegenüber behauptet, daß wesentlich die generell gesteigerte »Konzentrations-
fähigkeit«, die Verbesserung der »Lerntechnik« und die Verbesserung der sub-
jektiven »Gefühlslage« als Ursachen der generell gesteigerten Leistungsfähig-
keit in Betracht men. Wie dem sei, jedenfalls werden auch bei dieser letzte-
ren Annahme durch konkrete Leistungen bestimmte, über diese Einzelleistungen
übergreifende »Fähigkeiten«, welche der Vollziehung auch a n d e r e r , als
der direkt geübten Leistungen, zugute kommen, mitgeübt, und es me nun eben
darauf an, w e l c h e Leistungen von diesem indirekten Uebungseffekt im
Einzelfall betroffen werden nnten. Wüßte man darüber Genaueres, so wäre
das für die mannigfachsten Probleme von Bedeutung. Die teils beobachtete, teils
behauptete weitgehende Abhängigkeit der Berufsqualifikation von den in der
Zeit größter Plastizität des Individuums: in der frühen Jugend, erfahrenen Ein-
flüssen nnte man z. B. zum erheblichen Teil unter einen weitesten Begriff der
»Vorübung« subsumieren. Die Bedeutung, welche die Art der S c h u l bildung
auf die Qualifikation für die moderne gewerbliche Arbeit anscheinend ausübt,
ferner die auch für die Gegenwart nicht selten behauptete und in einzelnen l-
len wahrscheinliche Beeinflussung dieser Qualifikation durch die von den reli-
giösen Konfessionen »eingeübten« Lebensstile, dann die Beeinflussung indus-
trieller Leistungsfähigkeit durch städtische Aufzucht oder Herkunft aus be-
stimmten ökonomischen Milieus, endlich die Art der Jugendbeschäftigung, spe-
ziell z. B. im haus-
1)
Die Frage der Mitübung der korrespondierenden Glieder der anderen Körperhälfte und
Erscheinungen wie die Mitübung des Tastsinns symmetrischer Hautstellen kommen in
d i e s e m Zusammenhang nicht oder doch nur insofern in Betracht, als sie zeigen, daß je-
denfalls die »Uebung«, kein peripherisch lokalisierter und spezialisierter Vorgang ist.
2. »Uebung«. 87
industriellen Betriebe der Eltern, und andere derartige g e n e r e l l e Jugend-
einflüsse, zu denen vor allem auch der moderne Militärdienst zu zählen ist,
betrachtet man wohl mit Recht als in hohem Grade entscheidend für die Ent-
wicklung derjenigen higkeiten, welche auch für die industrielle Brauchbarkeit
einer Bevölkerung von Belang sind. Sehr zweifelhaft ist freilich, ob, oder viel-
mehr: wie man die Art des Einwirkens solcher Umwelteinflüsse unter die Be-
griffe der »Vorübung« und »Mitübung« wird unterbringen nnen, wenn man
die letzteren einigermaßen streng, im Sinne der F a c h psychologie, auffaßt.
Denn es fehlt bisher durchaus an einigermaßen exakten Kenntnissen gerade dar-
über, w e l c h e Fähigkeiten eigentlich in ihrer »Vorgeübtheit« und »Mitge-
übtheit« durch solche Einflüsse bestimmt und »bestimmbar« sind, und daher
kommt man dabei über vage Allgemeinheiten in dieser Hinsicht vorerst kaum
hinaus.
Die Untersuchungen, welche dies Thema wenigstens berühren, bewegen sich
auf dem allerdings sehr wichtigen Gebiet der rein i n t e l l e k t u e l l e n
Leistungsfähigkeit. Es wurde (durch Bolton) experimentell einigermen wahr-
scheinlich (?) zu machen versucht, daß bestimmte Arten von motorischen Lei-
stungen, speziell bestimmte Bewegungen, welche Schnelligkeit und Exaktheit
des Reagierens erfordern (z. B. Einstechen einer Nadel in die Lücken eines sich
bewegenden Bandes), bei Kindern verschiedener sozialer Provenienz mit dem
Maß der Entwicklung des Intellektes in Korrelation stehen. Aus solchen und
ähnlichen Beobachtungen wird dann gelegentlich z. B. etwa geschlossen: Die
stärkere Anreicherung des psychophysischen Apparates mit motorischen hig-
keiten führe zu einer entsprechend stärkeren Anreicherung des Geisteslebens mit
»Bewegungsvorstellunge und dadurch zu dessen Entwicklung (»Uebung«) in
der Richtung lebhaften Reagierens überhaupt. Mit einiger Phantasie nnte man
daraus die Psychologie der Völker auf bergigem und welligem Terrain im Ge-
gensatz zu den Ebenenvölkern ableiten und das bekannte »Körnchen Wahr-
heit« würde dabei vielleicht nicht fehlen; aber wissenschaftlich wertvoll wäre
nur, wie g r o ß dieses »Körnchen« etwa sein nnte. In dem obigen Beispiel
dürfte nun das Kausalverhältnis doch wohl so liegen: daß die Schulung des
Intellektes, speziell: die Uebung der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähig-
keit, für welche die Kinder der sozial höher stehenden Schichten so viel bessere
Chancen haben, die Ursache jener höheren
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 88
Leistungsfähigkeit für exakte Bewegungen ist, nicht aber umgekehrt. Neben die-
sem »Schulungs«effekt der intellektuellen Anreicherung kommen aber in sol-
chen Fällen sicherlich auch die Unterschiede der Ernährung und des hygieni-
schen »Milieus« mit ihren Konsequenzen für die Leistungshigkeit in Betracht:
die ungünstige Relation der Ermüdbarkeit gegenüber der Uebungsfähigkeit,
welche bei den ärmeren Kindern beobachtet wurde, kommt sicherlich ebenso
auf ihre Rechnung, wie ihre von Bolton, nach seiner Angabe, experimentell er-
mittelte Neigung zu Entwicklungsrückständen im 8. und 9. Lebensjahre, soweit
sie wirklich eine allgemeine Erscheinung sein sollte. Wie die allgemeine Schu-
lung gewisser intellektueller Fähigkeiten es re noch zu untersuchen: wel-
cher? –, so ist natürlich noch spezieller die jugendliche Beschäftigungsart ein,
für die Entwicklung bestimmter Leistungsfähigkeiten, auch anderer, als des spe-
ziell benützten, »vorübender« Faktor, wie auch umgekehrt ein Moment, welches
für die N i c h t entwicklung und Verkümmerung bestimmter Qualitäten mitbe-
stimmend werden kann. Zuweilen freilich fällt ihr Einfluß nicht unter dieses
Schema (»Vorübung«, »Mitübung« einer Fähigkeit, oder umgekehrt: Schwund
infolge Nichtübung), sondern stellt einfach eine d i r e k t e Veränderung des
physiologischen Habitus dar. Die Disqualifikation aller Männer, die in ihrer Ju-
gend anhaltende Ackerarbeit getan haben, für die Verwendung an gewissen mo-
dernen Textilmaschinen z. B. ist wohl einfach direkte Folge der, infolge der Art
und des Milieus der Feldarbeit, eintretenden Verdickung der Epidermis, welche
ihrerseits die Spezialisierung und Anpassung der in Betracht kommenden Mus-
keln im Sinn der physiologischen Kräfteökonomie hindert. – In jedem Fall bleibt
auch in allen obigen llen der Begriff der »Vorübung« ein ziemlich vager.
Denn es fallen alle jene entscheidend wichtigen Einflüsse, welche die Jugend-
schicksale durch Entwicklung oder Nichtentwicklung der allgemeinen physi-
schen und intellektuellen Fähigkeiten ausüben, eben n i c h t unter den spezi-
fischen Begriff, von dem oben ausgegangen wurde, wo es sich fragte: welche
s p e z i e l l e n andern Leistungen durch anhaltende Uebung in einer be-
stimmten s p e z i e l l e n Leistung mitgeübt werden bzw. o b ein solcher
mitübender Einfluß überhaupt allgemein besteht und sich über seine Tragweite
Aussagen machen lassen. Darüber stehen eben Untersuchungen exakter Art
vorerst m. W. nicht zur Verfügung. Denn die Wirkung der vor-
3. Ermüdung und Uebung in ihrem Zusammenwirken. 89
hergehenden Leistung auf die nachfolgende beim Arbeits w e c h s e l , von der
später die Rede sein wird, fällt unter ganz andere Gesichtspunkte.
3.
Uebung und Ermüdung in ihrem Gegeneinanderwirken bestimmen vorwie-
gend den Verlauf der auf- und absteigenden Tageskurve der Leistungsfähigkeit.
Sie beeinflussen sie nicht nur bei jedem Individuum je nach dessen Disposition
für »Ermüdbarkeit«, »Uebungsfähigkeit« usw. anders, sondern auch für das ein-
zelne Individuum verschieden je nach der Art der Arbeit: z. B. ist beim gleichen
Individuum die Leistungskurve für Zahlenadditionen und die für Memorieren
sehr oft ganz verschieden, weil beides ganz verschiedene Arten des Funktionie-
rens des psychophysischen Apparates und ganz verschiedene Grade von An-
strengung erfordert und dadurch die Resultanten aus dem Antagonismus zwi-
schen Ermüdung und Uebung anders ablaufen ssen. Aber der Ablauf und die
Unterschiede der Arbeitskurven, je nach Individuum und Art der Leistung, un-
terstehen noch anderen Bedingungen. Ermüdung und Uebung bestimmen sie 1.
nicht ausschließlich und 2. auch nicht in dem Sinne: daß ein bei Beginn des Ar-
beitstages vorhandener Status der Leistungsfähigkeit, welcher »an sich« die
Tendenz hätte, konstant zu bleiben, nun lediglich unter dem Einfluß dieser bei-
den Momente sich abwandelte. Zunächst scheint von generellen Faktoren z. B.
der Einfluß der Nahrungszufuhr sich direkt, und zwar anfänglich, hrend der
Verdauungsarbeit, lähmend, dagegen weiterhin, z. B. in den späteren Nachmit-
tagsstunden, anregend fühlbar zu machen. Wenn dabei die Verschiedenheit der
Vor- und Nachmittagsleistung am »Ergographen« speziell darin hervortreten
soll, daß die Z a h l der Hübe entweder gleichbleibt oder herabgesetzt wird,
ihre Höhe dagegen steigt, so nnte man versucht sein, diese Beobachtung ent-
weder mit der – bestrittenen und schwerlich sicher erweislichen – Behauptung in
Zusammenhang zu bringen, wonach die letzteren wesentlich Muskelleistungen,
die ersteren dagegen durch Zustände des Zentralorgans bedingt seien. Wie dem
nun sei, jedenfalls scheint soviel sicher, daß die Tageskurve der Leistungsfä-
higkeit auch spontanen, von der Arbeitsermüdung unabhängigen, Schwankun-
gen unterworfen ist, welche bei den einzelnen Individuen charakteristisch ver-
schieden
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 90
verlaufen (wie dies zuerst Mosso behauptet hat). Es gibt, jedenfalls auf dem Ge-
biete »geistiger« und »nervöser« Leistungen, »Morgen«- und »Abendarbeiter«,
wie dies die Alltagserfahrung zeigt und das Experiment zu bestätigen scheint,
und es wird behauptet, daß diese Differenz im wesentlichen eine solche der An-
lage (?) sei. Kraepelin hat, um auch hier seinen streng physiologisch orientierten
»Ermüdungs«begriff festzuhalten, die Hypothese aufgestellt, daß die Schlaftiefe
und das ihr entsprechende Tempo der Stoffersatzvorgänge: der Grad also, in
welchem des Morgens die Aufnahme neuer Teile in das arbeitende Gewebe
schon vollendet oder noch unvollendet sei, r die »scheinbare« Morgenermü-
dung entscheide. Fest steht jedenfalls, daß es auch außer den schon früher erör-
terten Elementen der »Ermüdungsfähigkeit«, »Uebungshigkeit«, »Uebungsfe-
stigkeit« noch andere derartige, den Ablauf der Arbeitskurve weitgehend beein-
flussende, dauernde, wenn auch nicht notwendig ererbte, individuelle Differen-
zen des psychophysischen Apparates gibt. Man hat, auf Grund solcher Beobach-
tungen, zur Feststellung der Art, wie beim Einzelindividuum die Leistungskurve
oder, noch allgemeiner, die »psychische Energiekurve« verläuft, bestimmte
Maßmethoden (so z. B. W. Stern den Rhythmus einfachen Taktklopfens als
nach seiner Ansicht Charakteristikum des »psychischen Tempos« der Persön-
lichkeit) vorgeschlagen, über deren Wert oder Unwert nur die Fachleute zu ur-
teilen berufen sind. Jedenfalls steht wohl zu befürchten, daß es hier eindeutige,
und vollends so einfache, Maßmittel schon um deswillen zur Zeit nicht geben
kann, weil wohl der Tatbestand einer einheitlichen »psychischen Energie« doch
recht problematisch erscheinen muß. Die empirische Untersuchung scheint
vielmehr durchweg von der Voraussetzung auszugehen, daß diese »Energie«
nicht Determinante, sondern Resultante aus einer ganzen Serie von Einzelkom-
ponenten ist, ebenso wie (ad 1 oben) die »Arbeitskurve«.
Von den Komponenten der letzteren haben Kraepelin und seine Schüler neben
»Ermüdung« und »Uebung« noch einige weitere festzustellen und begrifflich zu
formulieren gesucht. Und zwar sind dies solche, welche, ihrer mehr oder minder
»effektiven«, zum Teil direkt psychischen, Provenienz wegen, in das Kraepelin-
sche Spiel von mechanisch gegeneinander wirkenden Stoffumsatzvorgängen am
wenigsten leicht einzuordnen waren. Dahin gehört zunächst jene allgemeine
Veränderung des psychischen
3. Ermüdung und Uebung in ihrem Zusammenwirken. 91
Habitus, welche die Arbeit selbst beim Arbeiter erzeugt, die »Anregung«, wel-
che Kraepelin als »Beseitigung der Organträgheit«, als »Inbetriebsetzung« aller
für die betreffende Arbeit in Betracht kommenden psychophysischen Zonen de-
finiert: ein unbewußt oder jedenfalls ungewollt eintretender »psychomotori-
scher« Zustand also, eine E r r e g u n g , welche die Arbeit, unabhängig von
dem M der Geübtheit, erleichtert, und deren Charakteristikum es ist, daß sie
kurze Zeit nach Beginn der Arbeit einzutreten pflegt und schon nach ziemlich
kurzen Arbeitspausen (oft genügen 15 Minuten) wieder restlos verschwunden
ist. Aus diesem Vorgang, in Verbindung mit den Ermüdungs-, Erholungs-, Ue-
bungs- und Uebungsverlustverhältnissen, werden (s. u.) die verschiedensten
Konsequenzen für das Optimum der Wirkung von Arbeits p a u s e n , je nach
ihrer Dauer und Verteilung, gezogen. Jedenfalls gilt das Maß der » A n r e g -
b a r k e i t « dabei als nicht nur individuell, sondern auch nach der Art der Ar-
beit (besonders nach dem Maß des Arbeits i n t e r e s s e s ) verschieden. Von
dieser, durch die Arbeit als solche, ohne aktives Eingreifen von Willensimpul-
sen, rein mechanisch bewirkten und den Ablauf der Arbeit fördernden aber
auch entsprechend die Ermüdung beschleunigenden Erregung unterscheidet
die Kraepelinsche Schule die Wirkung des »Willensantriebs«. Im Gegensatz zu
jenem mittleren Grade der »Willensanspannung«, der dem gesamten Ablauf der
Arbeitskurve zugrunde liegt, wird darunter ein durch besondere Bedingungen
herbeigeführter, plötzliche Steigerungen bewirkender Impuls verstanden. In ty-
pischer Weise soll er in einem stoßweisen und nur kurzen Ansteigen der Lei-
stungskurve bei Beginn der Arbeit, ferner nach etwaigen Störungen derselben
und dann, ebenso, mit ziemlicher Regelmäßigkeit, gegen den Schluß hin auftre-
ten, außerdem aber: sobald die Ermüdung subjektiv fühlbar wird und doch der
Entschluß besteht, die Leistung nicht sinken zu lassen. In besonders starkem
Maße soll er sich, in Gestalt großer Unstetheit der Arbeitskurve, da bemerklich
machen, wo die besondere S c h w i e r i g k e i t der Leistung ein öfteres
Eingreifen des Willens zu ihrer immer erneuten Ueberwindung herausfordert.
Negativ beeinflußt wird der »Antrieb« anscheinend namentlich auch durch
»Langeweile« der Arbeit und, im Beginn der Arbeit, durch das Bewußtsein einer
bevorstehenden langen Arbeitszeit. Während also die größere oder geringere
»Unlust« und die durch sie erzeugte psy-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 92
chische »Müdigkeit«, ebenso eine jede andere Art der »Müdigkeit« (s. o.) bei
der Arbeit die Leistungs f ä h i g k e i t , insbesondere den Verlauf der (»objek-
tiven«) E r m ü d u n g nicht oder fast nicht zu beeinflussen imstande sein, für
diese vielmehr das Verhältnis zwischen Arbeit und Erholung allein entscheiden
sollen, soll die Beeinflussung der Leistungs r e s u l t a n t e durch den (psy-
chisch bedingten) »Willensantrieb« trotz (oft: g e r a d e bei) weit vorgeschrit-
tener »objektiver Ermüdung« in gleichem Maße möglich bleiben. Der Einfluß
der psychischen Faktoren also, wie zum Beispiel der »Langeweile« und also
auch der »Arbeitsfreude« und jeder andern »Gefühlslage«
1)
, auf die Leistung
kam bei diesen Laboratoriumsversuchen lediglich in dem, stets nur flüchtigen,
Einfluß des »Antriebe und, eventuell, in der ebenfalls, wenn auch nicht in
gleichem Grade, flüchtigen »Anregung« zur Wirkung. Man hat sich dabei aber
immer gegenwärtig zu halten, daß ebensolche Versuche stets, auch dann, wenn
sie mit der Anweisung: »bequem« zu arbeiten, gemacht werden, nach Erziehung
und ideellen Eigeninteressen der Versuchspersonen und nach der ganzen Natur
des Versuches, ein hohes Niveau von Durchschnittsanspannung des Willens be-
dingen, also mit den Arbeiten im Alltagsleben (etwa in der Fabrik) keineswegs
direkt vergleichbar sind. In diesem spielt jedenfalls stets das ö k o n o m i -
s c h e , unter Umständen auch das ideelle oder durch die psychische Beziehung
zur Arbeit bedingte Arbeitsinteresse eine ganz gewaltige, oft dominierende Rol-
le.
Auf dem Gebiet der experimentell gewonnenen Arbeitskurven, welche immer
auf einem erheblichen Maße von Anspannung ruhen, äußert sich der Einfldes
in dieser Anspannung steckenden W i l l e n s momentes in dem verschiedenen
Maße der E r m ü d u n g , welche Arbeiten erzeugen, bei deren Ergebnis der
W i l l e stark mitspricht, gegenüber solchen, die er nicht oder in nur geringe-
rem Maße zu beeinflussen vermag. Wenn beispielsweise, bei gewissen »Stö-
rungs«experimenten, die Ermüdungskurve für anhaltendes Zahlen a d d i e -
r e n wesentlich steiler verläuft, als bei Zahlen- und Silben l e r n e n , obwohl
ersteres unstreitig die leichtere Arbeit ist, dann würde dies (mit Vogt) wohl mit
Recht auf
1)
Die Behauptung, daß musikalische Dur- und Mollpartien generell steigernd bzw. herab-
setzend auf die Arbeitsleistung wirkten, wird von der Kraepelinschen Schule (Oseretzkowsky
und Kraepelin) abgelehnt. Nur der R h y t h m u s wirke dabei, in der ihm eigenen Art, auf
die Arbeitsleistung ein.
3. Ermüdung und Uebung in ihrem Zusammenwirken. 93
den Umstand zurückgeführt werden müssen, daß reine Gedächtnisleistungen
vom Willen nicht oder doch ungleich weniger beeinflußt werden, als dies bei der
Geschwindigkeit des Addierens der Fall ist. Damit, daß, wie auch anderweit
festgestellt erscheint, die Leistungen der Merk f ä h i g k e i t nur unwesentlich
vom Willen abhängen, steht natürlich nicht im Widerspruch, daß 1. experimen-
tell wahrscheinlich gemacht ist, daß das I n t e r e s s e von ganz ausschlagge-
bender Bedeutung für die A u s l e s e des tatsächlich im Gedächtnis H a f -
t e n d e n ist. (An diesem Umstande scheiterten oft genug die Versuche, indi-
viduelle Differenzen der Merkfähigkeit als solcher festzustellen, indem z. B. die
einzelnen Schüler, welche als Untersuchungsobjekt dienten, je nach der Rich-
tung ihres Interesses, bei an sich vielleicht gleicher Merkfähigkeit, doch die
größten Differenzen der Gedächtnisleistung für die gleichen Objekte zeigten.)
Ebenso widerspricht es jenem Satze nicht, daß 2. das Maß der Konzentration der
A u f m e r k s a m k e i t die Gedächtnisleistung natürlich entscheidend be-
einflußt, und daß diese ihrerseits zweifelsohne eine »Willensleistung« ist, sofern
man an dem psychologisch komplexen Begriff des »Willens« überhaupt in ir-
gendeinem Sinn festhält. Denn es handelt sich bei jenem Satz darum, daß, bei
gleicher Konzentration im einen wie im anderen Falle, doch in dem einen (Ad-
dieren) das Tempo und der Umfang des Arbeitserfolges stärker durch Anstren-
gung g e s t e i g e r t werden kann, als bei der anderen. Es wäre natürlich
wenn jene Deutung Vogts richtig ist von grem Interesse, möglichst viele
einzelne Arten von Arbeit daraufhin analysiert zu sehen, in welchem Sinn und
Maß »Willenseinflüsse« bei jeder von ihnen den Leistungs- (und damit auch:
den Ermüdungs-) erfolg mitbestimmen nnen. Soviel ich weiß, liegen wenig-
stens systematische Untersuchungen dieser Art noch nicht vor. –
Eine fernere Komponente der Arbeitskurve findet Kraepelin (und, nach ihm,
Wundt) in der » G e w ö h n u n g « . Gelegentlich wird sie, oder werden mit ihr
wesensgleiche psychophysische Zuständlichkeiten, auch als »Eingestelltheit«
auf eine konkrete Arbeitsleistung bezeichnet. Die B e k a n n t s c h a f t mit
der betreffenden Art der Arbeit äußert sich in dem stetigeren Verlauf des Ue-
bungszuwachses, nachdem die, in dem Gefühl des »Ungewohntebei einer,
längere Zeit nicht geübten, Arbeit sich psychisch äußernde innere »Unangepaßt-
heit« des psychophysischen
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 94
Apparates an die Aufgabe geschwunden ist. Bei einfachen Leistungen geschieht
dies schon nach wenigen Tagen. Der Effekt jenes »Gewöhnungs«prozesses wird
dabei in einer sprunghaft schnell, schneller als die normale Zunahme der Ue-
bung es erklärlich macht, ansteigenden Zunahme der Leistung gefunden.
4.
Der Begriff der »Gewöhnung« gewinnt nun, in etwas anderer Wendung, erheb-
liche Bedeutung speziell auf dem Gebiet der »Arbeits s t ö r u n g « und »Ar-
beits k o m b i n a t i o n « . Das Milieu, in welchem sich eine Arbeit vollzieht,
übt fortgesetzte Einflüsse aus, welche die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
also von der Arbeit »abzulenken« trachten. Das Maß der »Ablenkungsfähigkeit«
oder umgekehrt der Widerstandsfähigkeit dagegen: der »Konzentrationsfähig-
keit«, ist individuell sehr verschieden. Sie gilt als eine generelle, häufig in ererb-
ten Anlagen begründete, Disposition, was jedoch nicht ausschließt, daß Indivi-
duen von gleicher g e n e r e l l e r Sammlungsfähigkeit sich den g l e i -
c h e n Arten von störenden Einflüssen gegenüber sehr v e r s c h i e d e n
ablenkbar verhalten: Die individuelle Geschichte der Persönlichkeiten sowohl
wie die sonstigen Unterschiede ihrer Veranlagung (z. B. etwa der musikali-
schen) begründen eben sehr oft tiefgehende Verschiedenheiten der »Empfäng-
lichkeit« für ganz die gleichen Eindrücke. In jedem Falle stellt die, sei es ange-
borene oder erworbene, Fähigkeit zur »Konzentration« eine äußerst wichtige
Komponente der Arbeitsleistungsfähigkeit eines Individuums dar. Sie kann so-
wohl dem erreichbaren Grade, wie dem Tempo nach, in welchem diese gegen-
über störenden Einflüssen erreicht wird, verschieden sein. Das M a ß der
Wirkung ablenkender Einflüsse ist natürlich am stärksten bei solchen, die neu,
»ungewohnt« sind, um dann rasch abzunehmen. Die S c h n e l l i g k e i t ,
mit der ein Individuum an Widerstandsfähigkeit gegen bestimmte, ihm unge-
wohnte, Ablenkungen z u nimmt, sich an sie »gewöhnt«, seine G e w ö h -
n u n g s f ä h i g k e i t , ist daher ebenfalls von erheblicher Tragweite für sei-
ne Leistungsfähigkeit. Die »Gewöhnungsfähigkeit« in diesem Sinn ist vermut-
lich in nicht unerheblichem Me durch »Uebung« erwerbbar. Das heißt: die
zunehmende Gewöhnung an bestimmte Störungen bei Arbeiten einer konkreten
Art wirkt – dies scheint auch experimentell nachweisbar – auch beim Uebergang
zu Arbeiten a n d e r e r
4. Die Gewöhnung bei Arbeitsstörung und Arbeitskombination. 95
Art nach. Inwieweit die »Gewöhnung« an bestimmte Arten von Störungen auch
die Gewöhnungsfähigkeit für andersartige S t ö r u n g e n steigert, scheint
noch nicht festgestellt zu sein.
»Störungeund »Ablenkungennen nun auch bestehen in der Nötigung,
n e b e n einer kontinuierlichen Arbeit noch eine andere Leistung, sei es nur
gelegentlich, sei es diskontinuierlich wiederkehrend, sei es endlich ebenfalls
dauernd, zu vollziehen, also: in der zeitlichen K o m b i n a t i o n einer Lei-
stung mit einer anderen Nebenleistung. Unter den Begriff von »Störungeim
eigentlichen Sinne des Worts wird diese allerdings nur dann fallen, wenn 1. die
eine von beiden Leistungen als »Hauptleistung«, die andere als »Nebenlei-
stung«, die störend zu jener hinzutritt, angesehen werden kann, und wenn 2. bei-
de Leistungen untereinander heterogen sind, so daß sie sich nicht zu einer aus
Einzelleistungen bestehenden Gesamtleistung zusammenfügen. Indessen ist, ad
1, der Fall, daß k e i n e der beiden Sonderleistungen als Hauptleistung ange-
sehen werden kann, dem Prinzip nach dem Fall der »Störung« (im engeren Sinn)
gleichartig, und ad 2 ist, falls etwa praktische Unterschiede bestehen sollten,
doch der Uebergang von »kombiniertezu »Gesamtleistungen« natürlich ein
gänzlich flüssiger. Denn letztlich läßt sich zum mindesten eine sehr große An-
zahl von »einheitlichen« Arbeiten des Alltagslebens, wohl die übergre Mehr-
zahl aller, in eine Mehrheit von Einzelleistungen zerlegen, die keineswegs im-
mer als schon ihrer Natur d. h. der Art der Inanspruchnahme des psychophysi-
schen Apparates nach aneinander angepaßte Teilstücke einer Einheitsleistung
erscheinen. Selbst ein so »einfacher« Vorgang z. B. wie das »Lernen« von Sil-
ben erscheint gegenüber dem »Lernen« von Zahlen, wenn dies letztere rein
»motorisch« erfolgt, dadurch kompliziert und »gestört«, daß beim Silbenlernen
das »akustische B i l d « stärker mitwirkt und dadurch kompliziertere innere
Anpassungen notwendig macht. Erst recht aber bestehen massenhafte Arten ge-
werblicher Arbeitsleistungen aus einem Ineinandergreifen und aus gelegentli-
cher Abwechslung mehrerer Verrichtungen, die ganz verschiedene Organe und
Fähigkeiten oder dieselben Organe in verschiedenem Sinn in Anspruch nehmen.
Insofern ist also mit Recht die (bisher wesentlich »geistige« Leistungen betref-
fende) experimentalpsychologische Untersuchung der »kombinierte und »Ge-
samt«leistungen von dem Begriff der »Störung« ausgegangen. Natürlich liegt
eine »Kombinatio
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 96
mehrerer Leistungen in dem hier erörterten Sinne nur da vor, wo es sich nicht
wie, am einfachsten, bei der Aufeinanderfolge von »Auffassung« des »Reizes«
und »Reaktion« auf den Reiz um einen sukzessiven Ablauf innerer Vorgänge
handelt, von denen jeder folgende durch den vorhergehenden bedingt wird. Da-
gegen kann natürlich der Ablauf der Reaktion auf e i n e n Reiz durch die
gleichzeitige Aufnahme eines a n d e r e n »gestört« werden, wie ebenso die
Aufnahme zweier verschiedener Reize oder die Reaktionen auf sie miteinander
im Sinne von »Störungekollidieren nnen. Prinzipiell kann man ferner von
gegenseitiger »Störung« zweier Leistungen nur dann sprechen, wenn sie s i -
m u l t a n vollzogen werden. Allein nun ist wenn man unter »Gewöhnung«
auch den Vorgang innerer Anpassung der verschiedenen simultanen, einander
»störenden«, Einzelleistungen aneinander bezeichnet – es fraglich, ob dieser
»Gewöhnungs«vorgang nicht wesentlich gerade in der Verwandlung »simulta-
ner« in »sukzessive« Leistungen b e s t e h t ? Ziemlich wahrscheinlich scheint
es jedenfalls gemacht zu sein, daß ein erheblicher Teil ihrer derart verläuft: daß
eine der miteinander kombinierten Leistungen in die (subjektiv oft unmerkli-
chen) kleinen P a u s e n , die im Rhythmus des Ablaufs der anderen sich fin-
den, hineingezwängt wird, die »innere Anpassung« also in einer solchen Ausge-
staltung des Rhythmus der Einzelleistungen besteht, daß dies: das heißt also: ei-
ne Verwandlung kontinuierlicher simultaner in rhythmisch alternierende Lei-
stungen, möglich wird. Ein Teil der Bedeutung des »Rhythmus« für die Arbeit
würde wenn diese Hypothese richtig re vielleicht eben hierauf beruhen.
Immerhin erschöpft dies die Art des Verlaufes der »Gewöhnung« anscheinend
keineswegs. Eine andere Form ihres Ablaufes scheint in einer Umwandlung der
psychophysischen T e c h n i k einer der beiden Leistungen zu bestehen, der-
art, daß der psychophysische Apparat für die andere frei wird. Unter dieses
Schema fällt, ganz allgemein, schon die Erfahrung, daß bei komplizierten Lei-
stungskombinationen ein möglichstes Maximum der Einzelbestandteile mög-
lichst schnell (durch erhöhte Anfangsanstrengung) »mechanisiert« und dadurch
das Zentralorgan für die Inanspruchnahme durch andere Leistungen freigesetzt
wird. Aber jenes Prinzip beherrscht auch die technischen Einzelhergänge der
Arbeit in ihrer qualitativen Gestaltung. So hat z. B. Vogt wahrscheinlich ge-
macht, daß bei einer Kombination von fortlaufenden Additions-
4. Die Gewöhnung bei Arbeitsstörung und Arbeitskombination. 97
leistungen mit (gleichzeitigem) Hersagen eines (bekannten) Gedichtes für den
Vollzug der von der Versuchsperson gewöhnlich unter Benützung des Sprach-
klangbildes ((»akustisch-motorisch«) vollbrachten Additionsleistung nunmehr
(unbewußt) die o p t i s c h e n Zahlenbilder als Mittel substituiert, der Ablauf
des (dadurch wesentlich anstrengender gestalteten) Addierens also von demjeni-
gen Teil des psychophysischen Apparates, welcher für die andere Leistung (Ge-
dichthersagen) benötigt wurde, sozusagen auf eine Surrogatmaschinerie ge-
drängt wurde. Die K o m b i n a t i o n mehrerer simultaner Einzelleistungen
ist also nicht einfach eine Summe dieser, sondern kann qualitative Aenderungen
ihrer Ableistungsart bedingen. Derartige Vorgänge komplizieren die »techni-
sche« Art, wie sich die »Einübung« kombinierter Leistungen vollzieht, unge-
mein, und sie entscheiden zugleich über den Grad, in welchem die Einzellei-
stungen sich gegenseitig »stören«, also auch über die S c h w i e r i g k e i t
der Kombination. Es scheint, daß mehrere simultane Leistungen sich um so we-
niger stören, je w e n i g e r sie zu ihrem Vollzuge auf die g l e i c h e n
technischen Mittel angewiesen sind: »den gleichen Draht benütze müssen,
wie Vogt es ausdrückt. Leistungen, die sich in den technischen Mitteln, die sie
erstreben, besonders nahestehen, stören sich also gegenseitig am stärksten. Zwei
untereinander in dieser »technischen« Hinsicht völlig i d e n t i s c h e
Leistungen können nie wirklich simultan, sondern in Wahrheit stets nur alternie-
rend vollzogen werden. Je heterogener dagegen in jenem rein »technischen«,
psychophysischen (nicht etwa, wie schon oben gesagt, im logischen oder sachli-
chen) Sinn geistige Leistungen sind, desto l e i c h t e r sind sie ceteris paribus
(im Prinzip) simultan psychophysisch kombinierbar. Womit nicht gesagt ist, daß
es nicht (vielleicht!) auch Leistungen geben nnte, die umgekehrt infolge allzu
starker psychophysischer Heterogenität s c h w e r e r kombinierbar, weil et-
wa schwerer in der Rhythmisierung aneinander anpaßbar oder etwa auch,
schwerer zu einer, die »Aufmerksamkeit« weniger in Spannung haltenden »Ge-
samt«leistung zusammenziehbar sein nnen. Aus dem Gesagten ergibt sich,
daß die größere oder geringere Fähigkeit der Kombination mehrerer Leistungen
in hohem Grade auch Funktion individueller Differenzen in der T e c h n i k
ist, die dem einzelnen für den Vollzug bestimmter e i n z e l n e r in der
Kombination enthaltener Leistungen die adäquateste ist: je
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 98
nachdem er also z. B. das »Lernen« visuell, oder auditiv, oder motorisch voll-
zieht, oder je nachdem er die eine oder die andere »Reaktio leichter oder
schwerer zu mechanisieren oder in einer für die Anpassung an die übrigen Lei-
stungen geeigneten Art zu rhythmisieren imstande ist usw. Es folgt daraus fer-
ner, daß die Frage, ob die K o m b i n a t i o n mehrerer Einzelleistungen zu
einer simultanen Gesamtleistung oder umgekehrt die möglichste Z e r l e -
g u n g einer Gesamtleistung in sukzessiv zu vollziehende Einzelleistungen
»ökonomischer« ist, d. h. in einer gegebenen Zeiteinheit mehr Gesamteffekt
einbringt 1. je nach den psychophysischen Verwandtschaftsverhältnissen der be-
treffenden Einzelleistungen, und 2. je nach den individuellen sei es auf ererb-
ter Anlage, sei es auf anhaltender Gewöhnung beruhenden Differenzen der
psychophysischen Arbeitstechnik des einzelnen I n d i v i d u u m s beim
Vollzug jeder dieser Einzelleistungen, gänzlich verschieden sein können, was
für die Theorie der Arbeitszerlegung und »Spezialisierung« nicht unwichtig ist.
Es erklären sich ferner, wie es scheint, aus der Eigenart jener Anpassungsvor-
gänge auch gewisse Eigenmlichkeiten des Verlaufs der Arbeitskurven kombi-
nierter Leistungen. Bei einer von Anbeginn an (z. B. durch ungewohntes Milieu,
ebenso aber durch Kombination mit einer anderen Leistung) »gestörteLei-
stung tritt die Steigerung der Leistung, wie es scheint, oft wesentlich
s c h n e l l e r und s t ä r k e r ein, als der ble Einfluß des Uebungspro-
zesses es nach den Erfahrungen bei u n gestörten Leistungen bedingen würde,
insbesondere, wie der Versuch zeigt, auch schneller, als wenn die gleiche Arbeit
ohne »Störung« begann und weitergeführt wird. Andererseits stellt sich die
»Ermüdung« bei der »gestörte resp. kombinierten Arbeit nicht selten
l a n g s a m e r ein als bei der »ungestörten«, ja, die Leistungen in späteren
Arbeitsstunden scheinen bei der »gestörten« Arbeit sehr oft größere zu sein, als
der normale Uebungszuwach erwarten läßt. Diese Ergebnisse, welche die
k o m p l i z i e r t e r e Arbeit als die w e n i g e r ermüdende und leichter
einübbare erscheinen lassen, würden die Richtigkeit der Beobachtungen vor-
ausgesetzt nur dem Anschein nach paradox sein, wie Vogt überzeugend dar-
legt. Sie erklären sich einfach daraus, daß die »gestörte« Leistung also, bei ei-
ner kombinierten Leistung, j e d e der Einzelleistungen, in die sie sich zerle-
gen läßt – infolge der »Störung« auf wesentlich niedrigerem Niveau e i n -
4. Die Gewöhnung bei Arbeitsstörung und Arbeitskombination. 99
s e t z t als die ungestörte. Daher erhebt sich die Leistung mit fortschreitender
»Gewöhnung« und innerer Anpassung an die »Störung« bzw. an die übrigen
Leistungen wesentlich schneller zu ihrem Maximum, als bei ungestörten Lei-
stungen, weil eben nicht nur die fortschreitende Uebung, sondern auch die zu-
nehmende Anpassung an die »Störung« zur Geltung kommt und weil diese oft
gerade gegen Ende der Arbeit erst ihre volle Höhe erreicht. Das Maximalniveau
der »gestörten« Leistungen, also: bei kombinierter Leistung dasjenige jeder Ein-
zelleistung, f ü r s i c h betrachtet, bleibt hinter dem Niveau jeder von ihnen,
wenn sie ungestört verläuft, natürlich regelmäßig (auf die Dauer n i c h t im-
mer) sehr merklich zurück. Es kann dadurch, u n t e r U m s t ä n d e n , der
E r m ü d u n g s einfluß nicht nur jeder Einzelleistung, sondern auch mehrerer
simultan kombinierter Einzelleistungen zusammen, geringer, also i n s o f e r n
die Leistungskombination arbeitsökonomischer sein, als bei sukzessivem geson-
dertem Vollzug der Einzelleistungen. Ob dies der Fall ist oder nicht, ngt unter
anderem natürlich von der größeren oder geringeren Schwierigkeit ab, die kom-
binierten Einzelleistungen in die gegenseitigen rhythmischen Pausen hineinzu-
verlegen, überhaupt aber davon, ob die Anpassung derselben aneinander beson-
ders schwierig ist, ob sie also nicht nur, wie stets, eine Verzögerung, sondern
auch spezifische Anstrengungen verursacht oder nicht, endlich auch davon, ob
dabei das M der Arbeit wie das bei motorischen im Gegensatz zu sensori-
schen Leistungen der Fall ist durch den Willen stark steigerungsfähig, damit
aber auch stark ermüdend, ist. Aehnlich steht es mit der Uebung bei gestörten
oder kombinierten Leistungen. Ihr Effekt tritt bei solchen w e n i g e r rein zu-
tage, als bei einfachen Leistungen, und die Kombination ihrer Wirkungen mit
denjenigen der »Gewöhnung« gibt oft stark abweichende Bilder der Leistungs-
kurven. Die »Gewöhnungs«anstrengung scheint, vielleicht weil sie oft auf einer
ziemlich komplizierten Anpassungstechnik, besonders auf der Hineinpressung
einer Leistung in die Pausen der anderen nach voraufgegangener Rhythmisie-
rung beruht, f l ü c h t i g e r zu wirken, als die Uebung. Wäre dies richtig,
dann wäre es auch begreiflich, daß, wie Vogt für einige Fälle »gestörter« bzw.
kombinierter Arbeiten feststellt, im geraden Gegensatz zu dem rascheren An-
steigen der Leistung w ä h r e n d des einzelnen kontinuierlichen Arbeitstages,
der Fortschritt der Arbeitsleistung von
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 100
einem Arbeitstage zum anderen kleiner re, als dies bei ungestörten Einzellei-
stungen der Fall sein würde. Dem starken Gewöhnungsfortschritt i n n e r -
h a l b des einzelnen Arbeitstages stände dann ein starker Gewöhnungsverlust
von einem Arbeitstage zum andern gegeber. Bei Individuen mit besonders
starker »Ablenkbarkeit« oder geringer »Gewöhnungsfähigkeit«, ebenso auch bei
Arbeiten, welche die innere Anpassung ihrer Einzelbestandteile aneinander sehr
erschweren, würde daher auch die Arbeitskurve der gestörten Arbeit oft d a u -
e r n d ihre charakteristische Abweichung von derjenigen der ungestörten Ar-
beit beibehalten. Gerade Individuen mit geringer Gewöhnungsfähigkeit könnten
daher, da r ihre Arbeitskurven die jeden Tag n e u zu vollziehende innere
Anpassung ausschlaggebend wäre, speziell bei komplizierten Arbeiten den Ein-
druck spezifisch g e r i n g e r Ermüdbarkeit, also stark während des Ar-
beitstage ansteigender und lange anhaltender Arbeitsfähigkeit, mithin: eines be-
sonders günstigen »Uebungs«verlaufs, vortäuschen. Bei Vorherrschaft kombi-
nierter Arbeitsleistungen nnten, aus den gleichen Gründen, unter Umsnden
l a n g e A r b e i t s z e i t e n , spezifisch zweckmäßig sein oder doch schei-
nen. Je mehr umgekehrt ein Arbeitsprozeß in seine einfachsten Elementarlei-
stung zerlegt, also »Störunge und »Kombination« b e s e i t i g t würden,
desto mehr gelangte lediglich der Antagonismus von Ermüdung und Uebung zur
Geltung, und desto f r ü h e r machte, sich also, nach erreichtem Uebungsma-
ximum hrend des Arbeitstages, die Arbeitsermüdung durch Leistungsabnah-
me fühlbar, desto w e n i g e r also würde durch lange Arbeitszeiten das Lei-
stungs o p t i m u m erreicht werden nnen, alles dies unter der Vorausset-
zung, daß jene psychophysischen Gedankengänge wirklich zutreffend sind.
Eine gewisse Rolle könnten denkbarerweise für die Frage der Arbeitsökono-
mie kombinierter oder fraktionierter Leistungen schließlich auch gewisse allge-
meine »geistige« Bedingungen des Funktionierens der »Aufmerksamkeit« spie-
len. Auf dem Gebiet der L e r n ökonomie hat, bei Behandlung der Streitfrage:
ob Lernen (z. B.: eines Gedichtes) im ganzen oder in Einzelteilen arbeitsökono-
mischer sei, Christo Pentschew experimentell wahrscheinlich zu machen ge-
sucht: daß das Lernen im g a n z e n 1. nach der Z a h l der erforderlichen
Wiederholungen, 2. nach der insgesamt erforderlichen Z e i t , 3. nach dem
E f f e k t :
4. Die Gewöhnung bei Arbeitsstörung und Arbeitskombination. 101
der Festigkeit des Haftens im Gedächtnis also, günstigere Resultate erziele, weil
die Aufmerksamkeit dabei besser ausgenutzt werde, als bei fraktioniertem Ler-
nen. Dies hängt, wenn es generell zutrifft, letztlich wohl sicherlich mit dem Um-
stand zusammen, daß ein s i n n v o l l e s Gebilde geistig ungleich leichter
aufgeft und, als Ganzes, dem geistigen Besitzstande einverleibt werden kann,
als seine entweder direkt sinnlosen oder doch wie in diesem Fall jedenfalls
nicht den vollen »Sinn« enthaltenden, insofern also immerhin minder »sinnvol-
leEinzelbestandteile: sinnlose Einzelsilben z. B. erfassen und erlernen gerade
Kinder der weit schwerer als Erwachsene. Eine einfache Uebertragung dieses
Gesichtspunktes von dem Gebiet der Gedächtnisleistungen auf andere Arbeits-
gebiete ist natürlich nicht möglich. Immerhin re es wenigstens denkbar ob
irgend wahrscheinlich, darf der Laie nicht zu beurteilen wagen –, daß in gewis-
sen Fällen die Einübung eines zweckvoll und leicht v e r s t ä n d l i c h , im
Hinblick auf einen bestimmten Leistungs e r f o l g , kombinierten gewerbli-
chen Arbeitsvorgangs wenigstens in den Anfangsstadien des Lernprozesses die
Einübung psychisch mehr erleichterte als bei Zerlegung in sinnlose Handgriffe.
Doch fehlen darüber offenbar exakte Erfahrungen und es ist sehr möglich, daß
etwas Aehnliches nicht besteht. Im übrigen treten die allgemeinen psychophy-
sischen Unterlagen der »Einübung« auch in dem von Pentschew erörterten Fall
darin zutage, daß, entsprechend der nach Tempo und Effekt (beim Lernen im
Ganzen) gesteigerten Leistung auch die Ermüdung infolge der gesteigerten In-
anspruchnahme der Aufmerksamkeit s t ä r k e r ist.
Ueber die, wie alles vorstehend Gesagte zeigt, arbeitsökonomisch sehr wich-
tige Frage der größeren oder geringeren S c h w i e r i g k e i t der (simulta-
nen) Kombination mehrerer Leistungen zu einer »Gesamtleistung« liegen erst
einige, einer systematischen Zusammenfassung wohl vorerst noch nicht fähige,
Erfahrungen vor. Das oben erwähnte allgemeine Prinzip, wonach die psycho-
physische Verwandtschaft (die Benutzung des »gleichen Drahtes«) entscheiden
soll, erleidet im einzelnen mancherlei Komplikationen. Zunächst setzt sich jede,
auch die psychophysisch »einfachste« Leistung, doch aus einem Ablauf mehre-
rer aneinander geketteter Vorgänge zusammen, »geistige« Leistungen insbeson-
dere zum mindestens aus irgendwie gearteten »Auffassungs«vorgängen und
der entsprechenden »Reaktion«. Beide können wieder sehr
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 102
mannigfaltig kombinierte Leistungen darstellen, es können Leistungen der
»Merkfähigkeit« dazutreten, usw. Wenn nun mehrere »Einzel«leistungen kom-
biniert werden, so fragt es sich stets, welche von den sukzessiven T e i l vor-
gängen jeder einzelnen von ihnen durch die »Störung«, welche sie gegenseitig
aufeinander ausüben, am s t ä r k s t e n betroffen wird und wie sich also die
Wirkung auf die sukzessiven Teilvorgänge verteilt. Dies ist natürlich je nach den
Qualitäten der Leistungen ganz verschieden. Es scheint, daß die R e a k t i -
o n s leistung an Schnelligkeit und Sicherheit stärker durch Störung leidet,
als die ble Auffassung, und diese auch weniger als etwaige in Anspruch ge-
nommene Gedächtnisleistungen. Motorische Störungen scheinen auf motorische
Leistungen (wenn diese generell heterogener Art sind, s. o.), auf die Dauer rela-
tiv wenig beeinträchtigenden Einfluß auszben. Dagegen erleidet z. B. ein un-
ter Störung »motorisch« Lernender (s. o.) anscheinend um d e s w i l l e n ei-
ne stärkere r e l a t i v e Herabminderung seiner Leistungsfähigkeit, weil er (s.
o.) spezifisch s c h n e l l e r zu arbeiten pflegt, und deshalb die Pausen, in
welche die »Störungsleistung« hineinverlegt werden nnte, geringer sind als
bei optisch (durch Gesichtsbilder) Lernenden. Handelt es sich ferner um die
Kombination mehrerer in sich schon psychophysisch betrachtet komplizier-
ter Leistungen, dann werden die Wirkungen der gegenseitigen Störungen bei je-
der solchen weiteren Kombination immer komplizierter. Namentlich tritt auch
hier dem Verständnis der Vorgänge die »vulgärpsychologische« Gewöhnung in
den Weg, die Leistungen nach dem Effekt, nicht nach der psychophysischen
Technik, zu klassifizieren. Was, vom »Effekt« aus betrachtet, als »Hauptbe-
standteil« einer Leistung erscheint, ist es keineswegs immer auch der psycho-
physischen Relevanz nach. Eine vom Standpunkt des E f f e k t s der Lei-
stung aus angesehen geringfügige Aenderung einer Leistung, namentlich eine
Modifikation der Reaktions f o r m , kann für ihre Kombinationsfähigkeit mit
andern entscheidend wichtig werden
1)
. Was die verschiedenen G a t t u n g e n
von Leistungen des psychophysischen Apparats anlangt, so glaubt Vogt feststel-
len zu können, daß Willens-, Gedächtnis- und Assoziationsleistungen sowohl
selbst, beim Hinzu-
1)
So: das bloße Hinzutreten des jedesmaligen Durchstreichens eines aus einen sinnlosen
Text auszuzählenden Buchstabens, welches sehr bedeutende Differenzen ergibt.
4. Die Gewöhnung bei Arbeitsstörung und Arbeitskombination. 103
tritt zu anderen Leistungen, auf diese letzteren am stärksten »störend« wirken,
als auch umgekehrt ihrerseits durch jene anderen am stärksten gestört werden.
In welchem M a ß e also die Einzelleistungen durch Kombination herabge-
setzt werden, ist je nach ihrer Qualität ganz verschieden und darnach auch die
arbeitsökonomische Bedeutung der Kombination oder umgekehrt der Zerlegung
komplizierter Leistungen. Es scheint vorzukommen, daß, nach einer gewissen
Gewöhnungszeit, mehrere kombinierte Leistungen ohne jeden Störungseinfluß
vollzogen werden (natürlich aber: mit entsprechender Steigerung der E r m ü -
d u n g s wirkung). Und ebenso gestaltet sich, wie schon früher angedeutet,
(vermutlich) die Arbeitsökonomie der Kombination beziehungsweise Zerlegung
durchaus verschieden, je nach den psychophysischen Mitteln, welche der Arbei-
tende zur Hervorbringung einer bestimmten Leistung verwendet, je nachdem er
z. B. in bestimmten Fällen »sensorisch« oder »motorisch« reagiert.
Mit dem Probleme der Beeinflussung verschiedener s i m u l t a n e r Lei-
stungen durcheinander ist die andere Frage, wie die S u k z e s s i o n ver-
schiedenartiger Leistungen die Einzelleistung beeinflußt, nahe verwandt. Expe-
rimentell untersucht ist dabei bisher (begreiflicherweise) nur die Frage: wie der
unmittelbare Arbeitswechsel während eines kontinuierlichen Arbeitstages wirkt,
nicht aber die andere, für die ökonomische Betrachtung wichtigere: wie ein in
längern Perioden – z. B. Monaten oder doch Arbeitswochen – einsetzender
Wechsel der ganzen Beschäftigungsart wirken würde. Was nun den stundenwei-
sen Arbeitswechsel anlangt, so interessierte die Experimentatoren im wesentli-
chen die Frage: wie der Verlauf der E r m ü d u n g beeinflußt, ob insbesonde-
re das Fortschreiten der Arbeitsermüdung durch Einschaltung möglichst hetero-
gener Arbeiten in eine kontinuierliche Leistung gehemmt oder gar aufgehoben
werden nne. Kraepelins auf Grund der eigenen Experimente und derjenigen
seiner Schüler (namentlich Weygandts) gewonnene Meinung zur Sache ist ei-
gentlich schon in seiner früher wiedergegebenen Auffassung des Wesens der
geistigen Ermüdung resümiert. Er bestreitet in Konsequenz jener Auffassung
und im Gegensatz zu dem frühern »Dogma« der Schulmänner, daß »im Wechsel
die Erholung liege«: eine Ansicht, auf der ein erheblicher Teil der Stundenplan-
ordnung der Schulen ruhte – j e d e n derartigen Einfluß: » N u r die Schwie-
rigkeit der Leistung ist r
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 104
den allgemeinen Ermüdungsgrad maßgebend, n i c h t ihre Art.« Ein Wechsel
der Arbeit setzt nur dann das Tempo des Ermüdungsfortschrittes herab, wenn
die eingeschaltete Arbeit leichter ist als die Hauptarbeit, im umgekehrten Fall
dagegen steigert die Einschiebung auch die Ermüdung entsprechend, und wenn
man mit zwei Arbeiten abwechselt, so wird folglich die an sich schwerere von
ihnen infolge der geringeren Ermüdung leichter, die an sich leichtere dage-
gen infolge der stärkeren Ermüdung schwerer ertragen, als dies (in den be-
treffenden Arbeitsabschnitten) geschehen re, wenn nur eine von ihnen konti-
nuierlich geübt worden wäre.
Da auch Weygandt zu dem Ergebnis kam, daß sich ein Unterschied je nach
der A r t der Wechselarbeiten nicht finden lasse, daß insbesondere auch die
Meinung, man könne durch den Wechsel mehrerer möglichst heterogener Arbei-
ten »Erholung« schaffen, sich experimentell n i c h t jedenfalls nicht für die
bisher untersuchten Arbeitsarten bestätige, so wird (s. o.) von ihm und auch
von Kraepelin die glichkeit partieller geistiger Ermüdung überhaupt abge-
lehnt, und darin ein strikter Gegensatz gegen die Arbeit der Muskeln, welche ei-
ne große Zahl voneinander unabhängiger Tätigkeitsgebiete darstellen, deshalb
einzeln ermüden und sich erholen können, gefunden. Es scheint nach den Er-
gebnissen anderer Arbeiten und auch nach manchen anderweiten Aeußerungen
Kraepelins selbst, immerhin mit der M ö g l i c h k e i t gerechnet werden zu
ssen, daß diese Auffassung, wenigstens in dieser Schärfe, nicht aufrecht er-
halten werden kann. Es handelt sich, praktisch betrachtet, ohnehin doch nur um
Gradunterschiede. Denn was die Muskelermüdung anlangt, so steht ja, wie frü-
her erwähnt, fest, daß auch sie in immerhin nicht ganz geringem Umfang »gene-
reller« Art ist: anhaltendes Marschieren ermüdet z. B. auch die Arme, und schon
ein bloßer Spaziergang von langer Dauer scheint auf die nachfolgende geistige
Arbeit ermüdend zurückzuwirken. Kraepelin selbst bestreitet diese Erfahrungen
keineswegs und führt sie (s. o.) darauf zurück, daß diese Ermüdungswirkungen
dem Bereiche der Willensauslösungen, also dem Zentralorgan, entstammten. In-
sofern ist also, im praktischen Effekt, natürlich auch nach Kraepelins Ansicht
der Einfluß auch physischer Leistungen ein indirekt (durch Vermittlung des
Zentralorgans) genereller.
Auch Kraepelin gibt ferner doch eine glichkeit der Leistungssteigerung als
Folge eingeschobener andersartiger Ar-
4. Die Gewöhnung bei Arbeitsstörung und Arbeitskombination. 105
beiten zu. Die (von ihm als möglicherweise richtig zugestandene) Beobachtung:
daß der Vollzug leichterer geistiger Arbeiten durch voraufgegangene oder ein-
geschobene schwerere Arbeiten vielleicht direkt erleichtert, werde, begründet er
damit, daß die größere W i l l e n s anspannung von der vorangegangenen
schwereren Leistung hier noch nachwirke. Was also bedeuten würde, daß unter
Umständen d u r c h den Arbeitswechsel die Leistung natürlich aber damit,
nach Kraepelins Theorie, auch, die »objektive« G e s a m t ermüdung gestei-
gert werden kann. Auch an prinzipiellen Ablehnungen der Theorie von der stets
generellen Wirkung geistiger Ermüdung überhaupt fehlt es in der Literatur nicht
ganz. Eine solche Ablehnung müßte sich freilich, wenn sie prinzipiell sein woll-
te, in letzter Linie wohl gegen Kraepelins Ermüdungsbegriff überhaupt richten.
In praktischer Hinsicht ist bisher gelegentlich behauptet (wenn auch wohl noch
nicht einwandsfrei erwiesen) worden: Es sei möglich, einen Arbeitstag aus Ar-
beitsleistungen verschiedener Art, bei geeigneter Unterbrechung durch Pausen,
der Art zusammenzusetzen, daß überhaupt keine Arbeitsermüdung stattfinde.
Der Nichtfachmann wird sich hier keinerlei Meinung anmaßen wollen. Nach
manchen von Weygandts Einzelexperimenten könnte man den Eindruck gewin-
nen, daß vielleicht, je nach der Arbeitstechnik, jeder Einzelfall verschieden liegt.
Im übrigen sind die Schwierigkeiten w e n n sie vorliegen offenbar durch
die ebenso sinnreichen wie komplizierten B e g r i f f e von Ermüdung usw.,
welche Kraepelin geschaffen hat, bedingt.
Gar nicht (oder so gut wie gar nicht) untersucht ist, wie gesagt, die Wirkung
des Arbeitswechsels innerhalb längerer Arbeits p e r i o d e n . Wo in eine ex-
perimentell geprüfte Leistung ganze Erholungstage oder Tage mit andersartigen
Leistungen: z. B. Spazierengehen statt Addieren usw. eingeschoben wurden, ge-
schah dies wesentlich behufs Messung des für jenes Problem allerdings sehr
wichtigen Uebungsverlustes oder zu ähnlichen Zwecken, nicht aber um die
O e k o n o m i e der Leistung bei Arbeitswechsel zu erproben, und es liegt
auch auf der Hand, daß dies von anderen Schwierigkeiten abgesehen expe-
rimentell nur in weit längeren Zeiträumen durchführbar wäre, als vermutlich ei-
ne und dieselbe Versuchsperson zur Verfügung stehen nnte. A priori, d. h. in
diesem Fall: auf Grund anderweitiger bisher festgestellten Tatsachen, läßt sich
über die Chancen des p e r i o -
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 106
d i s c h e n Arbeitswechsels wenig, und mit Sicherheit eigentlich nur sagen:
daß er je nach der Eigenart der Leistungen sowohl wie der Person vermutlich
sehr verschiedene Ergebnisse zeitigen müßte. Neben der »Uebungsfähigkeit«
und »Uebungsfestigkeit« der betreffenden Person me vor allem ihre »Gewöh-
nungsfähigkeit« in Betracht. Die Leistungen würden sich also wohl jedenfalls je
nach dem Maße der Kompliziertheit, je nach dem Grade also, in welchem »Ge-
wöhnung« eine Rolle für die Leistung spielt, verschieden gestalten. Bei kombi-
nierten Gesamtleistungen, welche nicht leicht in ihre Elemente zerlegbar ren,
könnte, bei einem sehr »gewöhnungsfähige Arbeitspersonal, der Wechsel
vielleicht günstig, bei starker Zerlegung der Leistungen in ihre einfachsten Ele-
mente und Arbeitern von großer »Uebungsfähigkeit« vielleicht die Festhaltung
bei der gleichen Leistung zweckmäßiger sein; je nach Lage der Dinge könnte al-
so aus Gründen der Eigenart des Arbeitsprozesses u n d der Eigenart der Ar-
beiterschaft heraus ein bestimmter Fortschritt der Arbeitsspezialisierung und die
Festhaltung jedes Arbeiters bei seiner Spezialität arbeitsökonomisch ganz ver-
schieden wirken. Doch läßt sich darüber allgemein gar nichts sagen, es me
darauf an, die Einzelfälle zu studieren.
5.
Eine sehr bedeutende Rolle spielt in den Arbeiten der Kraepelinschen Schule
die Erörterung der Wirkung von Arbeits u n t e r b r e c h u n g e n gemeint
sind hier zunächst: kürzere Pausen i n n e r h a l b des einzelnen Arbeitstages
und zwar nicht nur aus sachlichen, sondern auch aus wichtigen methodischen
Gründen. Die Messung der Veränderungen der Leistungsfähigkeit vor und nach
Pausen von verschiedener Länge, die nach verschiedener Dauer der Arbeit in
diese eingeschoben werden, ist mlich das einzige brauchbare Mittel, welches
zur Verfügung steht, um festzustellen, w e l c h e s Mvon Einfluß auf den
Verlauf einer Arbeitskurve die einzelnen, vorstehend erörterten, Komponenten
der Leistung im Einzelfall gehabt haben. Die glichkeit, Pausenexperimente
zu diesem Zwecke zu verwerten, folgt aus dem schon in der vorangehenden
Darstellung mehrfach erwähnten Umstande, daß jene einzelnen Komponenten in
verschiedenem Mund T e m p o in Wirksamkeit treten und was jetzt spezi-
ell in Betracht kommt – auch in verschiedenem
5. Arbeitsunterbrechung. 107
Maß und Tempo in ihren Nachwirkungen s c h w i n d e n . Grundlegend für
die Möglichkeit, ü b e r h a u p t Fortschritte in der Arbeitsleistung zu erzie-
len, ist ja zunächst: daß die Uebung, im Gegensatz zur (normalen) Ermüdung,
dauernde Rückstände hinterläßt. r die P a u s e n wirkung tritt noch hinzu,
daß der »Uebungsverlust«, obwohl auch er anscheinend unmittelbar nach Unter-
brechung der Arbeit sich am schnellsten vollzieht, dennoch gerade hrend der
ersten Zeit der Pause ganz wesentlich langsamer wirksam wird als die durch die-
se bewirkte »Erholung«, während auf der anderen Seite die Pause auch die
durch die Arbeit selbst hervorgebrachte »Anregung« und den etwa vorhandenen
(s. o.) »Willensantrieb« zum Schwinden bringt. Die gegenseitige Relation des
Schwindens von 1. Ermüdung, 2. Anregung, 3. Antrieb, 4. Uebung bestimmt
nun diejenige nge der Pause, welche jeweils arbeitsökonomisch am günstig-
sten wirkt, d. h. ein Optimum von Leistungsfähigkeit n a c h der Pause ge-
währleistet. Nach welcher Zeitdauer diese »günstigste« Pausenwirkung erreicht
wird, ist nun je nach der Ermüdbarkeit, Uebungshigkeit, Anregbarkeit, Ue-
bungsfestigkeit der einzelnen Individuen, ferner aber je nach dem vor der Pause
erreichten Grade der Ermüdung: – also der Art und dem Quantum der vorher ge-
leisteten Arbeit, ebenso je nach dem Maße der vorhandenen »Anregung« und
des etwaigen »Willensantriebs«, endlich auch nach dem Grade des Uebungs-
fortschritts – der ja (s. o.) mit steigenden Graden der Ermüdung sinkt und
schließlich ganz ausbleibt sehr verschieden. Ebenso ist von diesen Umsnden
das Maß der Erholungswirkung von Pausen ü b e r h a u p t bedingt. Ueber-
wog vor der Pause die Arbeitsermüdung über die Arbeitsanregung, war also die
erstere, nicht aber die letztere, im S t e i g e n , so wirkt die Pause auf die
nachfolgenden Leistungen günstig, im umgekehrten Fall, wenn die Erholung
durch die Pause nicht ausreicht um den Verlust der Anregung auszugleichen,
ungünstig. War der Willensantrieb vor der Pause schwach, so pflegt er nach der
Pause stärker einzusetzen und also die Leistung stark zu steigern, war dagegen
die Willensanspannung stark (was z. B. in Fällen des Ankämpfens gegen Ermü-
dung der Fall sein kann), so wirken Pausen, welche jene Anspannung erschlaf-
fen lassen, oft direkt nachteilig. Es gibt also neben den jeweils »günstigsten«
auch eine und, unter Umsnden, mehrere »ungünstige« Pausenlängen. Denn der
Verlauf der Pausenwirkungen scheint normalerweise der zu
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 108
sein, daß zunächst die Ermüdung sich rasch auszugleichen und die Anregung,
langsamer als die Ermüdung, zu schwinden beginnt, daß aber von einem be-
stimmten Moment ab der Ausgleich der Ermüdung langsamer vor sich geht, als
der Verlust der »Anregung«. Nach lligem Schwinden der letzteren ist der er-
ste Tiefpunkt der Pausenwirkung erreicht; dieselbe beginnt nun wieder zu stei-
gen, bis nach Beseitigung des »Ermüdungsstoffes«, gegenüber dem nur langsam
erfolgenden Schwund der »Erschöpfungs«-Wirkungen (s. o. Absatz 1) der Ue-
bungsverlust zu überwiegen beginnt; damit ist das Optimum der Pausenwirkung
überschritten und diese senkt sich bis zu einer zweiten »ungünstigePausen-
länge, um dann, mit Verlangsamung des Uebungsverlustes und der beginnenden
Ausgleichung der »Erschöpfung«, wieder zu steigen. Durch Komplikation mit
den Verhältnissen des »Willensantriebs« und der »Eingestelltheit« auf die Ar-
beit entstehen unter Umständen noch wesentlich verwickeltere Bilder der Pau-
senwirkungen. Arbeitsökonomisch kommt neben dem Prinzip, daß im allgemei-
nen bei stark ermüdenden Arbeiten, namentlich aber gegen Ende der Arbeitszeit,
k u r z e Pausen, welche die »Angeregtheit« durch die Arbeit und die »Einge-
stelltheit« auf die Arbeit nicht schwinden lassen, günstiger wirken als lange,
hauptsächlich in Betracht, daß h ä u f i g e und zugleich kurze (wenige Minu-
ten hrende) Pausen bei stark ermüdbaren und gleichzeitig leicht erregbaren
und übungsfähigen Personen angebracht sind, seltene (und eventuell entspre-
chend längere) bei Personen, die schwerer geübt werden und langsamer ermü-
den. Wie Kraepelin die Pausenexperimente: die »Methode der günstigsten Pau-
se«, zur Zerlegung der Arbeitskurve in ihre Komponenten benutzt, hat, so müs-
sen darnach die U n t e r s c h i e d e der Pausenoptima 1. für ein und dieselbe
Person, beim Vollzug untereinander verschiedenartiger Arbeiten, und ebenso
umgekehrt 2. bei den gleichen Arbeiten, wenn sie von verschiedenen Personen
ausgeführt werden, als wichtiges Hilfsmittel für die Analyse der psychophysi-
schen Eigenart der Arbeiten dort, der Personen hier, gelten. Daß nach Kraepelins
(übrigens von ihm selbst nur als »wahrscheinlich« bezeichneter) Ansicht dabei
die »Grundqualität« der »Ermüdbarkeit« und, obwohl er dies nicht sagt, wohl
auch andere der von ihm statuierten »Grundqualitäten«: Uebungsfähigkeit, Ue-
bungsfestigkeit, Gewöhnbarkeit, Ablenkbarkeit, derart als g e n e r e l l e Ei-
genschaften der betreffenden Persön-
6. Methodische Fragen. 109
lichkeit zu gelten hätten, daß sie im Prinzip schon an dem Verlauf e i n e r
Arbeit allein bei genügend eingehender Analyse derselben gemessen werden
könnten, ist eine wichtige freilich (wie schon bemerkt) nicht ganz unbestritte-
ne – Konsequenz seiner Auffassungsweise.
Andererseits hat gerade Kraepelin auf das Nachdrücklichste dahin gewirkt,
den Glauben: man nne durch ein einfaches System von Stichproben innerhalb
kurzer Frist ein annähernd adäquates Bild der für eine Person oder für die Wir-
kung einer bestimmten Arbeit charakteristischen psychophysischen Zuständ-
lichkeiten gewinnen, zu zerstören. Von dieser methodischen Seite all dieser Un-
tersuchungen ist nunmehr zusammenfassend noch einiges zu sagen, da sie für
die Frage ihrer Verwertbarkeit für die sozialökonomischen Probleme ausschlag-
gebend ist.
6.
Die methodischen Prinzipien Kraepelins und seiner Schüler stehen in schar-
fem Gegensatz gegen die Versuche, welche in den 90er Jahren in Deutschland
vornehmlich wenn auch nicht ausschließlich von dagogisch interessierter
Seite, im Ausland, speziell in Frankreich und Amerika, von einer ganzen Reihe
geistreicher Fachpsychologen, gemacht worden waren, um von den Maßmetho-
den des Laboratoriums aus den Weg zu M a s s e n untersuchungen zu finden.
In Frankreich und Amerika stand dabei das Interesse an demjenigen Problem-
komplex im Vordergrund, welchen William Stern später »Differenzialpsycholo-
gie« getauft hat und den andre unter dem Namen »Ethologie«, »Charakterolo-
gie« usw. zum Objekt einer selbständigen Disziplin zu stempeln versucht hatten.
Während auf dem Gebiet der Anthropologie die Bertillonsche anthropometri-
sche Methode nach »signaletischephysischen Merkmalen, d. h. nach Kombi-
nationen von meßbaren Eigenschaften der Individuen sucht, von denen sich jede
Einzelkombination mit hoher Wahrscheinlichkeit schlechthin nur ein einziges
Mal findet, will die Methode des sog. »mental tests« in letzter Instanz t y p i -
s c h e Kombinationen von individuellen psychischen Unterscheidungsmerk-
malen entdecken, derart, daß man eine geringe Zahl von psychophysischen
Stichproben an einem Individuum ziehen, damit seine Einordnung in einen be-
stimmten »Anschauungs«-, »Auffassungs«- und »Reaktions«-Typus usw. vor-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 110
nehmen und daraus hinlänglich wahrscheinliche Schlüsse auf a l l e seine
»wesentlichen« Qualitäten soll entnehmen können. Die hiermit aufgeworfenen
s a c h lichen Probleme stellen wir vorerst noch zurück, und es sei nur schon
hier bemerkt, daß in m e t h o d i s c h e r Hinsicht, mit ganz wenigen Aus-
nahmen, die deutschen Psychologen den hierhergehörigen Arbeiten von Binet,
Henry u. a. mit absoluter Skepsis gegenüberstehen. Hier jedoch geht uns zu-
nächst noch nicht das Problem der Messung der individuellen Differenzen der
P e r s o n e n , sondern das Problem der Massenmessung von Wirkungen dif-
ferenter A r b e i t e n und Arbeitsbedingungen an.
Im Vordergrund stand auch hier in der Literatur, mit der sich die Kraepelin-
sche Schule auseinanderzusetzen hatte, das Problem der E r m ü d u n g und
ihrer Messung an Personenmassen. Griesbach in Deutschland, Vannod in Frank-
reich hatten mit Hilfe des »Aesthesiometers« den Einfluß von Arbeitsleistungen
auf die Raumunterschiedsempfindlichkeit der Haut (den Schwellenwert der
Merklichkeit des Abstandes zweier Zirkelspitzen voneinander) zu untersuchen
begonnen. Sie glaubten in dem Maß der Abnahme derselben einen Mstab r
die Ermüdung durch Arbeiten bestimmter Art: Schul-, Kontorarbeiten, Maschi-
nenweben und andere Maschinenarbeit zu besitzen. Kemsies suchte mit Hilfe
des Mossoschen Ergographen den Einfluß von Schularbeiten verschiedener Art
auf die physische Leistungsfähigkeit festzustellen, um so den »ergographischen
Index« der einzelnen Schulfächer: ihren Ermüdungswert, zu ermitteln. Das In-
teresse der Pädagogen begann sich diesen Problemen, welche durch die »Ueber-
bürdungs«-Erörterungen der letzten Jahrzehnte in den Vordergrund der Diskus-
sion gerückt waren, zuzuwenden: Arbeiten angesehener Pädagogen (Wagner-
Darmstadt) suchten, gegenüber der rein psychophysischen Behandlung des Pro-
blems, die Bedeutung des Arbeits i n t e r e s s e s der Schüler r die Ermü-
dung stärker zu betonen, die Frage, ob die Aufmerksamkeitsspannung oder um-
gekehrt der »Zwang zur Langeweile« das Ermüdendere sei und ähnliche Fragen
gerieten erneut in Fluß usw.
Obwohl z. B. Griesbach seine Mmethode noch auf dem internationalen
Kongreß für Hygiene und Demographie in Berlin (1907) vertreten hat, dürfte die
Kritik der Kraepelinschen Schule doch im ganzen und großen die anfänglich ge-
hegten Hoffnungen zerstört haben. Nicht nur wird die Leistungsfähigkeit des
Ergo-
6. Methodische Fragen. 111
graphen als Mmittel von der deutschen Kritik erheblich niedriger einge-
schätzt, als von seinem Urheber
1)
, und nicht nur wird ziemlich allgemein dem
Aesthesiometer ein eindeutiger Wert als solchem nicht mehr eingeräumt
2)
, son-
dern der Eindruck der außerordentlichen Kompliziertheit der Komponenten von
Arbeitskurven und ihres Mit- und Gegeneinanderwirkens selbst wie es Kraepe-
lin zu analysieren versucht hatte, der Eindruck ferner davon: w i e sorgsam die
Isolierung gegen zahllose mögliche Störungen und Verfälschungen des Ergeb-
nisses der Messung vorzunehmen war, um überhaupt brauchbare Zahlen zu er-
halten, solche Eindrücke mten die Hoffnung, man werde nun bald mit ein-
fach funktionierenden Instrumenten und Experimenten das Maß der Ermü-
dungswirkung konkreter Arbeiten auch nur für eine einzelne Schulklasse, vol-
lends aber für einige tausend Arbeiter, »exakt« feststellen können, völlig
schwinden lassen.
Kraepelin selbst, der immerhin gelegentlich auch seinerseits r die Beobach-
tung der Ermüdung an Schulkindern einen hier nicht weiter interessierenden
Vorschlag gemacht hat, betrachtet gleichwohl die Chance, auf diesem oder auf
einem der sonst bekannten Wege zu wirklich brauchbaren Resultaten zu kom-
men, mit der größten Skepsis. Seine eigentliche Ansicht ist zweifellos, daß die
dauernde Unmöglichkeit, über die psychophysischen Bedingungen und Einwir-
kungen der Arbeit je nach ihrer Eigenart und je nach »typischeEigenarten des
Arbeitenden Resultate durch i r g e n d e i n e Art von Massenbeobachtungen
zu gewinnen, schon heute feststehe, Unter »Massenbeobachtung« wäre dabei,
um dies alsbald klarzustellen, j e d e Art der Untersuchung zu verstehen, de-
ren Objekt Personen sind, deren Verhalten in bezug auf Schlaf, Ernährung, Al-
koholgenuß, körperliche und geistige Beschäftigung und alle anderen, für die
Kräfteökonomie des Nervensystems und der Muskeln belangreichen Lebensäu-
ßerungen n i c h t vom Beobachter, r e g u l i e r t u n d u n t e r K o n -
t r o l l e gehalten sind. Jedes Durchblättern der Arbeiten der Kraepelinschen
Schule zeigt ja in der Tat, welche ungemeine Einwirkung die wechselnde »Ta-
gesdisposition« des einzelnen auf den Ausschlag der Experimente
1)
Hierzu vgl. z. B. Robert ller, Ueber Mossos Ergographen mit Rücksicht auf seine
physiologischen und psychologischen Anwendungen (Philos. Studien, XVII, 1901).
2)
Hierzu und zu dem ganzen Problem vgl. namentlich die zu Abschnitt 1 zitierte Arbeit
von Bolton in Kraepelins Arbeiten, Bd. IV.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 112
übt. Die Kraepelinschen und verwandten Untersuchungen erstreckten sich daher
stets über Wochen, zuweilen über Monate, oft mit sehr einschneidender Lebens-
reglementierung für die Versuchspersonen, welche möglichst stets Persönlich-
keiten mit wissenschaftlichem Selbstinteresse, jedenfalls außer bei sehr einfa-
chen (namentlich: Alkohol-) Versuchen von beträchtlichem Bildungsniveau
waren oder doch, als Beamte (und, zuweilen: Insassen) einer Klinik, der Unter-
suchung des Experimentators ständig unterstanden. Und selbst unter diesen Be-
dingungen erforderte es einen ganz außerordentlichen Aufwand an Scharfsinn
und Gewissenhaftigkeit, um den Einfluß von »Zufälligkeiten« auszuschalten.
Die Zahl der an einer einzelnen kontinuierlichen Untersuchung beteiligten
Personen war daher stets eine sehr kleine: 4 Personen dürfte eine mittlere, 8
schon eine beträchtliche Zahl darstellen. Wenn man dann ferner die raffinierte
Kombination der Untersuchungsmethoden, die feinen Registrierapparate, die
unerhörte Umsicht bei der Feststellung der oft mit den stärksten Vergrößerungs-
apparaten abgelesenen Registraturen derselben in Betracht zieht, so steht aller-
dings völlig fest: von h i e r führt k e i n Weg zur »Massenuntersuchung« in
irgendeinem noch so begrenzten Sinn dieses Wortes.
Dabei darf nun überdies nicht verschwiegen werden, daß, trotz der allgemei-
nen Anerkennung von Kraepelins eminenter geistiger Leistung, doch ein gewis-
ses Mvon Skepsis gegenüber manchen Unterlagen und Resultaten dieser Ar-
beiten unter den Fachmännern besteht, welches, wohl unter dem Einfluß des
wohlbegründeten Respekts, den Kraepelin in der Oeffentlichkeit genießt, noch
nicht in vollem Me hervorgetreten ist. So erhebt sich z. B. die Frage: ob nicht
doch die Eigenarten dieser stets so wenigen Versuchspersonen als »Zufälligkei-
ten« eine so bedeutende Rolle spielen nnen, daß der Wert der Beobachtungen
dadurch gefährdet würde? Es ist nicht eigentlich die Kleinheit der Zahlen an
sich, an die man damit denkt, sondern die Gefahr ihrer A u s l e s e . Vor allem
in e i n e r Form nnte bei Zugrundelegung von solchen Beobachtungen an
E i n z e l personen eine direkte Präokkupation der Resultate eintreten, die jeder,
der ähnliche Rechnungen macht, an sich selbst beobachten kann Der Untersu-
chende geht entweder mit einer bestimmten Hypothese über mögliche oder
wahrscheinliche Ergebnisse an die Untersuchung
6. Methodische Fragen. 113
heran, oder aber es bildet sich ihm, nach einer Reihe von Beobachtungen, die
gewisse »charakteristische« Züge gemeinsam zu haben, in anderen »charakteri-
stisch« zu differieren scheinen, eine Vorstellung über die Art, wie diese Ge-
meinsamkeiten und Unterschiede zu erklären seien, und diese scheint sich dann
vielleicht an einer Anzahl weiterer Beobachtungen zu bestätigen. Nun aber tre-
ten Fälle von Abweichungen auf. Regelmäßig wird er alsdann unwillkürlich die
Frage so stellen: w a r u m diese Abweichungen vom » n o r m a l e n « Ver-
halten auftreten, also: Gründe für diese »abnorme« A b w e i c h u n g ausfin-
dig zu machen suchen und finden, worauf ebenso unwillkürlich der »Fall« als
singulär und für die Gesinnung von »typischen« Tatsachen ungeeignet beiseite
gelassen wird. Ob nicht die Fälle, welche seiner Vorstellung von dem »norma-
leAblauf zugrunde liegen, ebenfalls singuläre Bedingungen (vielleicht sehr
heterogener Art, aber, wie dies bei komplexen Erscheinungen und kleinen Be-
obachtungszahlen vorkommt, trotzdem in der gleichen Richtung wirkend) auf-
weisen, bleibt dann leicht ununtersucht, und so verfälscht sich durch fortwäh-
rende Ausscheidung »singulärer«, das heißt, von dem als normal vorausgesetz-
ten R e s u l t a t abweichender, Objekte der Wert der Beobachtungen. Wenn
diese spezifischen Gefahren j e d e r auf Einzeluntersuchungen beruhenden
Behandlung solcher Probleme hier hervorgehoben wird, so soll damit natürlich
nicht etwa behauptet werden, Kraepelin und seine Schüler seien jener Gefahr ei-
ner unbewußt vollzogenen »Auslese« der Versuchspersonen faktisch zum Opfer
gefallen. Eine solche Behauptung, beweislos, von einem Laien gemacht, würde
gegenüber der ungeheuren Arbeit, die in diesen Untersuchungen steckt, natür-
lich eine Leichtfertigkeit und Anmaßung darstellen. Es ist bis zum Gegenbeweis
anzunehmen, daß nicht nur Kraepelin selbst, sondern auch seine geschulten Mit-
arbeiter sich jener Möglichkeit bewußt waren. Aber die Tatsache der unvermeid-
lichen Kleinheit der Zahlen der Versuchspersonen muß allerdings dasübrigens
von Kraepelin selbst, nach mehrfachen Aeußerungen, offenbar durchaus geteil-
te, Urteil nahelegen, daß die Resultate dieser Untersuchungen, soweit sie in
allgemeinen »Theorien« ihren Niederschlag gefunden haben, wesentlich den
h e u r i s t i s c h e n Wert einer bis zu einem gewissen, für jede Einzelbe-
hauptung vielleicht verschiedenen Grade plausiblen H y p o t h e s e haben,
und vor allem: daß ihr Wert nicht sowohl in der Erzielung
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 114
definitiv gesicherter, generell, gültiger Lehrsätze, als in der Schaffung von
B e g r i f f e n liegt, mit denen sich auf dem Gebiet der Untersuchung von all-
gemeinen psychophysischen Bedingungen der Arbeit operieren läßt. Dies gilt
namentlich von Begriffen wie »Ermüdbarkeit«, »Uebungsfähigkeit«, »Uebungs-
festigkeit«, »Uebungsrest«, ferner auch von den für kombinierte Leistungen so
wichtigen Begriffen der »Störung«, »Ablenkbarkeit«, »Gewöhnung«, »Gewöh-
nungsfähigkeit«, und den Erörterungen über die m ö g l i c h e n Mittel der
Anpassung mehrerer Leistungen des psychophysischen Apparats aneinander. Es
gilt aber auch von denjenigen positiven Aufstellungen, welche durch die »vul-
gärpsychologische« Alltagserfahrung gestützt werden, oder nur »Sublimierun-
gen« dieser letzteren sind, oder durch Verwendung »vulgärpsychologischer Er-
fahrungen« als heuristischen Mittels gewonnen sind, und deren sind unter den
in den früheren Abschnitten vorgetragenen Ergebnissen Kraepelins, wenn man
sie daraufhin einmal näher ansieht, eine ungemein große Zahl. Vielleicht am
wenigsten gilt, eben deshalb, das Gleiche für die Theorien, die Kraepelin seinem
E r m ü d u n g s begriffe und überhaupt seiner ganzen Behandlung der kausa-
len Bedingtheit der Arbeitsleistung zugrundegelegt hat: die Hypothese von der
gegenseitigem »Verdeckung« und »Ueberdeckung« der einzelnen Komponenten
der Leistung, die durch seine Darstellungsweise sehr leicht suggerierte Vorstel-
lung überhaupt: daß hier innerhalb des Muskel- und Nervenchemismus sozusa-
gen verschiedene »Kräfte« miteinander »ringen«, bald die eine, bald die andere
die Oberhand habe, könnte leicht eine Vorstellungsweise über die Art der kausa-
len Zurechnung suggerieren, gegen die auf anderen Gebieten mehrfach Wider-
spruch erhoben worden ist. Indessen diese mehr formellen, die Art der Formu-
lierung treffenden und übrigens m. E. logisch nicht durchschlagenden Be-
denken beiseite gelassen, stecken doch naturgemäß auch eine Anzahl s a c h -
l i c h e r Schwierigkeiten in Kraepelins Theorie, wenn man sie mit der Vor-
stellungsweise vergleicht, die sonst unter den durch Wundt beeinflußten Expe-
rimentalpsychologen herrscht. Die Psychiatrie, und gerade diejenige Kraepelins,
wird immer mehr oder minder dazu neigen, die somatischen Vorgänge als das
»Reale«, die psychischen als zufällige »Erscheinungsweisen« anzusehen. Ge-
schieht dies, so geraten eine Anzahl derjenigen »Komponenteder Arbeitskur-
ve, mit denen Kraepelin arbeitet, leicht in eine
6. Methodische Fragen. 115
etwas schiefe Position. Von Einzelheiten abgesehen sind es namentlich die Vor-
stellungen über die Wirkungsweise der »psychomotorischen Erregung«, der
»Anregung« und des »Antriebes« welche davon betroffen werden würden: die
auf allen Gebieten der Psychophysik als letztes Problem immer wieder sich ein-
stellende Frage: wie das unbezweifelbare Einwirken dieser, zu einem erhebli-
chen Teile nur p s y c h i s c h ableitbaren Faktoren mit einer streng p h y -
s i o l o g i s c h operierenden Theorie der Ermüdung und Uebung zu kombi-
nieren seien, spielt hier hinein. Wenn die »Müdigkeit«, w e i l rein psychisch,
für die objektive Leistungs f ä h i g k e i t die doch ihrerseits wieder nur an
L e i s t u n g e n , nicht an ungreifbaren »Möglichkeitezu solchen meßbar
ist außer Betracht bleiben soll, so fragt es sich, ob nicht für jene anderen, so
stark mit nur p s y c h o l o g i s c h verständlichen Elementen durchsetzten
Tatbestände Aehnliches zu gelten hätte? Die Kraepelinsche Theorie führt für
sich an, daß t r o t z starker »Müdigkeit« gleiche Leistungen beobachtet wur-
den, sie muß andererseits leugnen, daß es Zustände »psychomotorischer Erre-
gung« geben könne, die nicht nur »scheinbar« (d. h. der Gefühlslage nach), son-
dern auch w i r k l i c h d. h. im Sinne von Stoffersatzvorgängen »Erho-
lung« bedeuten. Ob dies nun wirklich zutrifft, nnte wohl nur die Neuropatho-
logie entscheiden, und wenigstens ihre Praxis scheint nicht selten mit ganz ande-
ren Voraussetzungen zu arbeiten, wie mir von Nervenärzten bestätigt wurde. Die
Frage nach dem Einfluß des (nicht: ökonomisch, sondern: durch die A r t der
Arbeit bedingten) Arbeits i n t e r e s s e s , überhaupt der (»ideogenen«) »Ge-
fühlslage« auf den Ablauf der Ermüdungsvorgänge gehört natürlich ebenfalls
und ganz besonders hierher und letztlich vielleicht die ganze rein » v e g e t a -
t i v - physiologische«
1)
Vorstellung von einer mit dem ersten Anbeginn der
Leistung, als dem ersten S t o f f umsatz, beginnenden »Ermüdung«, welche
weil durch »Anregung«, »Uebungszuwachs« usw. »verdeckt« n i c h t in ei-
ner Verminderung der L e i s t u n g greifbarer werden k a n n . Empirisch
feststellbar ist aber (und wird doch wohl dauernd bleiben) nur das, was der
Chemismus der Gewebe
1)
Ein Ausdruck, den z. B. W. H e l l p a c h (Grenzfragen der Psychologie S. 103) auf
ähnliche Vorstellungsweisen verwendet, im Gegensatz zur »animalischen Physiologie«, wel-
che die Ermüdung von dem Moment erkennbarer Leistungsverminderung an zu rechnen habe.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 116
l e i s t e t : »Ermüdung«, »Uebung«, »Gewöhnung«, »Anregung« usw. sind
Begriffe, die letzten Endes eben doch durchaus nur von diesen L e i s t u n -
g e n aus orientiert sein können, und dabei gewisse – vorerst in wichtigen
Punkten noch sehr hypothetische jeweilige chemische Zuständlichkeiten und
Vorgänge als die Quelle jener Leistungen voraussetzen. Es fällt dabei aber of-
fenbar nicht ganz leicht, mit wirklich rein chemischen Konstruktionen Ernst zu
machen und dabei doch mit dem Apparat der »Ueberdeckungs«vorstellungen zu
arbeiten.
Der Kraepelinsche »Ermüdungs«begriff und alles, was an ihm hängt, nnte
so möglicherweise denn wie soll ein Laie das beurteilen? auf Schwierigkei-
ten sten, die gerade durch den Versuch, ihn streng physiologisch, genauer:
biochemisch, zu fassen, infolge der Bedingungen, welche ein strenger Kausal-
begriff auf diesem Gebiet stellen würde, entständen. Auf der anderen Seite ist
namentlich die, wie erwähnt, so lebhaft bestrittene spezifisch Kraepelinsche
Konstruktion einheitlicher Grundqualitäten der (psychophysischen) »Persön-
lichkeit« z. B.: der »Ermüdbarkeit« als einer g e n e r e l l e n Qualität
doch wohl eine Konsequenz ganz bestimmter biologischer Auffassungen, wel-
che mit jener rein chemischen Orientierung vielleicht nicht ohne manche
Schwierigkeiten harmonieren würden.
Letztlich würden alle solche Erörterungen wohl unvermeidlich, das ewige
Problem der t h e o r e t i s c h e n Grundfragen der »Psychophysik« (im
Fechnerschen Sinn dieses nicht immer ganz eindeutig gebrauchten Wortes) auf-
rühren: gewisse Bestandteile der Kraepelinschen Theorie (Willensantrieb!)
könnten sehr gegen seine Absicht letztlich doch auf den Gedanken »unbe-
wußter« und doch nicht »physischer«, sondern »psychischer« Vorgänge führen
und damit auf eine ganz andere Struktur der den Anschauungen über das Ver-
hältnis vom Physischen zum Psychischen
1)
) zugrundezulegenden Theorien, als
sie der offizielle Wundtsche »Parallelismus« darstellt, dem die meisten Psychia-
ter (wenigstens vermeintlich) anhängen.
Zum Glück für uns ist aber die Frage nach der theoretischen Substruktion der
Kraepelinschen Begriffe für deren Verwertbarkeit zu unsern Zwecken von un-
tergeordneter Bedeutung. Ob man sich den Auf- und Abstieg der Leistung durch
Ermüdung, Uebung,
1)
Darüber vgl. jetzt die Abhandlung von W. H e l l p a c h in der Ebbinghausschen
Zeitschrift 1908 (»Unbewußtes oder Wechselwirkung«).
6. Methodische Fragen. 117
ihre Beeinflussung durch »Störung«, Unterbrechung, Uebungsrest und Ue-
bungsverlust, psychomotorische Einflüsse u. dgl. letztlich besser in der Form ei-
nes Mit- und Gegeneinanderwirkens von Einzelkomponenten denkt, dergestalt,
daß jede von ihnen irgendwelche ihr spezifischen psychophysischen Zuständ-
lichkeiten hinterläßt, welche im Organismus irgendwie n e b e n einander be-
stehen, oder ob man, wie etwaige Gegner müßten, »einfache« Stoffabbau- und
Anbauvorgänge im Gewebe der Muskeln und in den Nervenzellen substruiert,
die je nach der Inanspruchnahme des Organismus bald nach der einen, bald nach
der andern Richtung beeinflußt werden und alsdann ihrerseits die Leistung be-
einflussen, das ist wenigstens für unsere praktischen Zwecke schließlich von
sekundärer Bedeutung. Es genügt, wenn mit jenen p r a k t i s c h wichtigen
Begriffen richtige Beobachtungen zusammengefaßt sind, von denen wir anneh-
men dürfen, daß sie auf dem Gebiet der industriellen Arbeit m ö g l i c h e r -
w e i s e , bei hinlänglich genauer Analyse, ebenfalls zu machen ren und
wenn also z. B. »Uebungsresoder »Uebungsfestigkeit« oder »psychomotori-
sche Erregung« oder »Uebungsverlust« als Bezeichnungen gelten dürfen, wel-
che den Kausalzusammenhang zwischen dem N i v e a u , auf dem sich ein
Arbeiter bei einer Leistung bestimmter Art bewegt, und bestimmten empirisch
feststellbaren Tatsachen, die bei ihm vorliegen oder fehlen, adäquat wiederge-
ben. Das aber scheint nach den Beobachtungen des Alltags ebenso wie nach den
sachlichen Ergebnissen der Experimente der Fall zu sein. Die an sich auch für
unser Thema recht wichtige Frage, ob man eine generelle Qualität der »Ermüd-
barkeit«, »Erholbarkeit«, »Anregbarkeit« usw. statuieren und also an e i n e r
einzelnen Leistung messen kann, dürfen wir v o r l ä u f i g noch auf sich be-
ruhen lassen und uns damit begnügen, wenn wahrscheinlich gemacht ist, daß
solche als mehr oder minder konstante Eigenschaften m i t B e z u g a u f
k o n k r e t e A r t e n v o n L e i s t u n g e n sich beobachten lassen,
was nach den Experimenten sowohl als der Alltagserfahrung kaum zweifelhaft
sein kann. Vollends unabhängig von jeder »Theorie« erscheinen endlich die
zahlreichen für uns so wichtigen B e o b a c h t u n g e n über die Art, wie
Pausen, Kombinationen von Leistungen usw. wirken. Und auch die in der Dar-
stellung, wie ich hoffe, mit hinlänglich deutlichem Vorbehalt wiedergegebenen
H y p o t h e s e n über die Art, wie sich z. B. Leistungskombi-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 118
nationen und ähnliche Vorgänge eigentlich psychophysisch vollziehen, über
Leistungsverschiebung, motorische und sensorische Reaktionsweisen in ihrem
Suppletivverhältnis zueinander, dürften für uns von recht erheblicher Fruchtbar-
keit sein. Sie zeigen zum mindesten, auch dem, der sie ablehnt, w i e w e -
n i g e i n f a c h die Vorgänge, mit denen wir in unseren Erörterungen über
die Wirkungen der »Arbeitsteilung« stetig als mit bekannten Größen operieren,
in Wahrheit zustandekommen.
Wenn wir aber mit dem B e g r i f f s vorrat, den die Experimentalpsycholo-
gie geschaffen hat, im allgemeinen recht wohl auch für die Analyse der indus-
triellen Erwerbsarbeit würden wirtschaften können, so fragt es sich, ob die g-
lichkeit besteht, daß B e o b a c h t u n g e n dieser außerhalb des Laboratori-
ums sich vollziehenden »Alltagsarbeit« geliefert werden könnten, welche
q u a l i t a t i v ein irgendwie ähnliches Material für die e x a k t e Bearbei-
tung darböten, wie die Laboratoriumsversuche. Es bedarf kaum des Hinweises,
wie ungünstig die Chancen hier liegen. Von allem andern, schon oben über die
Technik und die wissenschaftlichen Bedingungen der Laboratoriumsversuche
Gesagten, ganz abgesehen, untersteht die Fabrikarbeit, so, wie sie sich im All-
tagsleben vollzieht, stets einer Serie von ganz grobschlächtigen Bedingungen,
welche dem Laboratorium fremd sind. So: 1. die Ernährungs- und Wohnungs-
verhältnisse und die Trinkgewohnheiten
1)
der Arbeiterschaft, unter Umsnden
die Art ihres Sexuallebens, ferner: ihre eventuelle Nebenbeschäftigung, 2. der
Umstand, daß normalerweise n u r Geldinteresse, nicht ideales Eigeninteresse
sie mit der Arbeit verknüpft, daß die Lebenslänglichkeit und die sonstigen Be-
dingungen der Fabrikarbeit sie nicht zu einer, kontinuierlich gleich hohen, am
wenigsten aber zu einer stetigen m a x i m a l e n Anspannung veranlassen
können, während die Experimente der Psychologie sehr oft nur unter der Be-
dingung kontinuierlicher M a x i m a l - Anspannung der Leistungsfähigkeit
Resultate ergeben (da ja sonst die sichere Vergleichbarkeit fehlt) 3. damit zu-
sammenhängend:
1)
Ein Alkoholkonsum von nur 30 g im Tag wird in seiner Wirkung so eingesctzt, daß
für eine sonst 8 stündige Arbeitsleistung 9 Stunden erforderlich werden. Dies ganz unbe-
schadet des Umstandes, daß bekanntlich die in Kraepelins Schule (Aschaffenburg) gemachten
Alkoholversuche bisher n i c h t eindeutig eine q u a l i t a t i v e Verschlechterung der
Leistung auch bei ganz k l e i n e n Dosen (welche aber in q u a n t i t a t i v e r Hin-
sicht bereits sehr merkliche Wirkungen zeigen), erwiesen haben.
6. Methodische Fragen. 119
die Einwirkung des Lohnsystems, welches auch bei gleichem Maße der Prämiie-
rung quantitativ und qualitativ hoher Leistungen dennoch wie noch zu erwäh-
nen – ein ganz verschiedenes Verhalten der Arbeiter (auch der gleichen Arbeiter
in verschiedenen Zeitabschnitten) zur Arbeit herbeiführen kann. Dazu tritt nun,
daß bei weitem die Mehrzahl der industriellen Arbeitsleistungen in ihrem Aus-
schlag nicht nur an das jeweilige Funktionieren der Maschinen das ließe sich
wohl ausgleichen und, unter Umständen, an Witterungsverhältnisse (die eben-
falls berücksichtigt werden könnten), sondern oft auch ziemlich stark an die kei-
neswegs immer leicht in ihrem Einfluß abzuschätzende Qualität des M a t e -
r i a l s gebunden und daß sie, auch wo die Arbeitszerlegung sehr weit geht,
doch meist auch w e i t komplexen und ganz andersartig sind, als die Leistun-
gen, welche man der Laboratoriumsbeobachtung zugrunde legt. Arbeiten wie
Setzen und Maschinenschreiben stehen diesen relativ nahe, und an ihnen ist ja
auch tatsächlich experimentiert worden – aber schon diejenige Kombination und
(äußerst unstete) Abwechslung von Manipulationen, welche die »Bedienung ei-
nes Maschinenwebstuhles« ausmachen, recht weit.Wie soll ferner eine direkte
und nach Art des L a b o r a t o r i u m s »exakte« Beobachtung von Leistun-
gen an den großen Arbeitsmaschinen stattfinden? Ein Plüschwebstuhl muß
p r o Tag für ca. 50 Mk., ein kleiner Taschentuchwebstuhl für ca. 15 Mk. Ware
produzieren, um verzinst und amortisiert zu werden. Es ist doch natürlich
schwer auszudenken, daß in einem Laboratorium etwa eine Anzahl solcher kost-
spieliger Maschinen aufgestellt und daran experimentiert werden nnte, und
auch die Herstellung von – sozusagen – »Phantomen« zum Experimentieren wä-
re sicher eine sehr schwierige und ungemein kostspielige Sache. Eher wäre, an
und für sich, es immerhin noch denkbar, daß, in Zeiten der Betriebseinschrän-
kung wegen Krisen, ein Betrieb des Interesses halber einmal einige Maschinen
gegen Entgelt zum Zweck von Experimenten – immerhin, wie obige Zahlen zei-
gen, auch dann r e c h t teuren Experimenten laufen ließe, wie er ja zum An-
lernen und unter Umsnden zu Kalkulationszwecken solche mit Verlust laufen
lassen muß. Allein auch solche Eventualitäten liegen doch vorerst leider recht
sehr »im weiten Feld«.
So scheint, von ganz besonders günstigen Zufällen abgesehen, für die große
Ueberzahl der modernen industriellen Berufsarbeit
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 120
vorerst nicht abzusehen, auf welche Art sie einer experimentellen Untersuchung
von ähnlicher Exaktheit, wie sie das Laboratorium verlangt, zugänglich werden
soll. Stecken wir also unsere Ansprüche zunächst einmal niedriger und fragen:
von welcher Seite und in welcher Art b i s h e r Material zur Beurteilung der
psychischen und physischen Bedingungen und Wirkungen der industriellen Ar-
beit beschafft wurde.
Wir sehen dabei von den erst in den Anfängen begriffenen
1)
a n t h r o p o -
l o g i s c h e n Arbeiten, welche unser Problem betreffen und, soweit Massen-
untersuchungen in Betracht kommen, regelmäßig an Rekrutenmessungen an-
knüpfen, ab. Dies 1. weil sie für unsere Zwecke nur eine grobe wennschon
zweifellos eine sehr wichtige – V o r arbeit liefern, – 2. weil speziell die Rekru-
tenmessungen die Arbeiter durchweg in einem noch jugendlichen Alter, wo über
ihre definitive Verwendung und Arbeitseignung noch nichts Endgültiges ausge-
macht ist, erfassen, also wesentlich die Berufs n e i g u n g und daneben die
vulgäre, traditionell bestimmte Einschätzung der Berufsqualifikation der Kinder
für diesen oder jenen Beruf seitens der Eltern, die hier die »Auslese« vollziehen
(weshalb sie natürlich für die alten traditionellen Handwerke das beste Material
bringen). Dann bleibt uns die A u s k u n f t d e s A r z t e s , speziell (in
Deutschland) des K a s s e n arztes, über die Erfahrungen seiner Praxis, als
mögliches Hilfsmittel übrig. Hier gibt es höchst schätzenswerte wissenschaftli-
che Arbeiten über den E i n f l u ß der Fabrikarbeit, nicht dagegen (bisher):
über die B e d i n g u n g e n der Arbeitsleistung. Erstere nnen, kombiniert
mit den freilich bis zur praktischen Unauffindbarkeit zerstreuten gelegentlichen
Aeußerungen der Gewerbeaufsichtsbeamten, manche recht wichtige und lehrrei-
che Aufschlüsse geben
2)
. Werfen wir auf die Gesichts-
1)
Wichtig sind vor allem die Schweizer Rekrutenstatistiken (Schweiz. Statistik Lief. 62,
65, 68), weit weniger oder gar nicht die italienischen (Ann. di stat. Ser. II vol. 2, 1878), baye-
rischen (J. Ranke, Beitr. z. Anthrop. u. Urgesch. Bayerns Bd. IV), schleswigschen und meck-
lenburgischen (Meisner, Arch. f. Anthrop. XIV, XIX), amerikanischen (Elliot, Gould, 1865,
1869) usw. Vgl. dazu übrigens Lexis, Art. Anthropologie in der 3. Aufl. des Handw.-B. d.
Staatswiss., S. 531. Die Messungen der Kinder verschiedener sozialer Schichten (Bergleute
und Bürgerkinder: Geißler und Uhlitzsch, Z. des sächs. Stat. Bureau, 1888, S. 317, wohlha-
bende und arme Kinder: Pagliani, Arm. di stat. a. a. O.) sind wesentlich für die Frage des Ein-
flusses der E r n ä h r u n g und ähnlicher Bedingungen wichtig.
2)
Die internationalen Kongresse für Hygiene und Demographie (XIII: Brüssel 1903, XIV:
Berlin 1907) haben eine Sektion für »Ermüdung durch Berufsarbeit«,
6. Methodische Fragen. 121
punkte
welche jene von Fachphysiologen und Aerzten gepflogenen Erörterun-
gen bestimmten, einen kurzen Blick.
Die Erörterungen über die Bedeutung der Erwerbsarbeit innerhalb der Oeko-
nomie der physischen und psychischen Lebensvorgänge haben naturgemäß an
die direkt pathologischen Erscheinungen angeknüpft. Die Frage der U e b e r -
müdung, also der vom ä r z t l i c h e n Standpunkt aus »übermäßigen« Arbeit
wurde diskutiert, nicht aber die Frage nach der Wirkung »normaler« Arbeit, d. h.
einer n i c h t direkt hygienisch, im Sinne der Lebensverkürzung oder der, mit
dem Durchschnitt verglichen, vorzeitigen Abnützung oder der Deformierung
einzelner Organe »schädlichen«, Arbeit auf den Menschen und umgekehrt der
Bedingungen, an die ihre Ableistung geknüpft ist. Für die Psychophysik der Ar-
beit enthalten trotzdem diese Untersuchungen vieles grundlegend wichtige: die
abnehmende »Zweckmäßigkeit« der physiologischen Arbeitsökonomie im Er-
müdungszustand (suppletorischer Eintritt anderer minder adaptierter Muskeln an
Stelle der ermüdeten, zunehmende Inexaktheit der Innervation durch das über-
müdete Zentralorgan; beides zweifellos Hauptgründe des geringen U e -
b u n g s wertes der Ermüdungsarbeit), Inanspruchnahme des Herzens und
Atemfrequenz als Zeichen des Ermüdungsgrades; Bedeutung das Maschinen-
lärms (dem M nach bestritten)
1)
und der durch die Maschinen bewirkten Er-
schütterungen auf die Ermüdung (schnellere Ermüdung in den oberen Stock-
werken der Webereien und Spinnereien), sodann die ganze Schar der »Berufs-
krankheiteund vor allem der n e r v ö s e n
in denen 1903 sowohl wie 1907 von sehr beachtenswerten Fachmännern Referate mit an-
schliender (meist freilich wenig belangreicher) Diskussion gehalten wurden. Das weitaus
beste der dort gehaltenen Referate scheint mir das von R o t h (Berl. Kongr. 1907, Bd. II,
S. 593 ff.); dem Referate von W. E i s n e r (daselbst S. 573 ff.) sind eine Anzahl weiterhin
mehrfach mitbenutzter Auskünfte von Fabrikbetrieben beigefügt. Die anderen Referate
(Zuntz, Trèves, Imbert) stellen meist nur Resultate anderweit von ihnen publizierter Arbeiten
zusammen. Die kolossale Literatur über »Berufskrankheitelassen wir hier ganz beiseite,
da es nur darauf ankommt, inwieweit die Erörterungen ärztlicher oder diesen nach Arbeitsge-
biet und Interessenlage nahestehender Kreise Resultate oder Methoden von a l l g e m e i -
n e r heuristischer Verwendbarkeit geliefert haben oder liefern nnten.
1)
Denn daß der Lärm der großen Fabriksäle schon nach ganz kurzer Gewöhnung kaum
mehr empfunden wird, beweist an sich noch nichts gegen die Wirkung. Nach Heilig, in der
»Medizinischen Refor, Wochenschr. f. soziale. Medizin, II. Jahrg., 1908, S. 370, kam von
574 Fällen von Arbeiterneurosen, die ihm in »Haus Schönow«, bei Berlin zur Verfügung
standen, in 11,2 %. der Lärm ätiologisch in Betracht.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 122
Störungen durch die industrielle Arbeit,dies alles bietet ein in stetem Wachsen
begriffenes Material, welches für die Zwecke der Ergründung der Eigenart der
verschiedenen industriellen Arbeitsleistungen nach Wirkung und Bedingungen
von größter Bedeutung ist. Dies namentlich auf dem Gebiet der n e r v ö s e n
Inanspruchnahme des Organismus durch die Arbeit. Denn es scheint, daß die
große Mehrzahl derjenigen Aenderungen der Art der Arbeitsverrichtung, welche
wir als »Intensivierung« der Arbeit bezeichnen, eine weit mehr als proportionale
Zunahme der nervösen oft direkt auf Kosten der rein muskulären, in Kilo-
grammmetern mbaren äußeren »Bewegungs«leistung darstellt. Es ist gewiß
auf das lebhafteste zu begrüßen, wenn man die rein muskuläre, in Bewegungen
der äußeren Körperorgane sich äußernde Arbeitsleistung so in physikalische
Teilleistungen zerlegt und mißt, wie dies Imbert und Mestre mit den Arbeitern
am »Diable« (Getreidekarren) getan haben
1)
. Aber in Imberts Rechnungen
2)
ver-
richtet der Laufbursche bei dreimal je drei Stunden Gehens 259 500 kgm (Inan-
spruchnahme vornehmlich der großen Beinmuskeln) ein Kohlenschipper (Inan-
spruchnahme vornehmlich der großen Armmuskeln) in 8 Stunden nicht ganz 75
000
3)
, und dennoch war die Leistung des letzteren ungleich »intensivere« Arbeit,
d. h. sie ist von ungleich größerem Ermüdungseffekt, nicht nur wegen des stär-
keren Einschlags von »statischen« Elementen (darüber später) in der Arbeit,
sondern wegen der stärkeren Inanspruchnahme des Nervensystems durch die
stärkere kontinuierliche Einstellung auf eine Leistung von erheblicher M o -
n o t o n i e . Alle Untersuchungen stimmen darin überein, daß die »geistigen«
Bedingungen der Arbeit, das soll heißen: die Art der Inanspruchnahme des
Zentralnervensystems, zunehmende Bedeutung für die hygienischen Wirkungen
der Arbeit gewinnen. Einerseits das M a ß der Inanspruchnahme und Anspan-
nung der A u f m e r k s a m k e i t : den relativ größten Prozentsatz der
1)
Imbert und Mestre, Recherches sur la manoeuvre du Cabrouet et la fatigue qui en re-
sulte, Bull. de l’Inspect. du travail 1905, Nr. 5.
2)
Vgl. dessen Arbeiten: De la mesure du travail musculaire dans les professions manuel-
les (Rapport au Congrès international d’hygiène alimentaire Paris, 1906). – Vgl. ferner:
L’étude scientifique expérimentale du travail professional (l’Année psychologique, Paris
1907), und für die im Text angezogene Rechnung sein Referat für den Berliner Internat.
Kongr. f. Hygiene und Demographie 1907, Bd. II, S. 636.
3)
Der ouvrier du chais Gouthiers, den Imbert mit heranzieht, ist, wie I. selbst hinterher
bemerkt, nicht vergleichbar.
6. Methodische Fragen. 123
Neurastheniker aus Arbeiterkreisen stellen die »gelernteArbeiter
1)
(die frei-
lich bei den Beobachtungen nicht immer leicht von Handwerksgesellen oder
auch Meistern bei denen ganz andere, ökonomische, Determinanten hinein-
spielen, zu sondern sind). Dann aber, und wahrscheinlich in Verbindung da-
mit: eben die Monotonie, derart, heißt das, daß die K o m b i n a t i o n »gei-
stiger Befähigung« mit dem Zwang monotoner Arbeit die entscheidende Schäd-
lichkeit ist. Die Rolle, welche dieses spezifische Element der industriellen Ar-
beit spielt, ist ä r z t l i c h - exakt im Verhältnis zu der weittragenden Bedeu-
tung des Problems erst sehr wenig untersucht
2)
. Es scheint, daß, wie beim »Fa-
briklärm«, so erst recht hier zwischen der durch die Monotonie hervorgerufenen,
dem Arbeiter zum B e w u ß t s e i n kommenden, G e f ü h l s l a g e die
z. B. in Industrien mit ganz leichter, aber sehr monotoner Arbeit (Stanzen in den
Korsett- und Knopffabriken, große Teile aller Textilindustrie), zuweilen zu star-
kem »unmotivierteStellenwechsel (als Kompensation gewissermaßen) führt
von der dem Arbeiter u n b e w u ß t bleibenden, insbesondere nicht als Ar-
beitserschwerung und erst recht nicht als Gesundheitsgefährdung empfundenen
Einwirkung der Monotonie zu scheiden ist
3)
. Es ist 1. ziemlich allgemein ange-
nommen, daß die angelsächsischen lker Monotonie leichter ertragen als die
romanischen, es wird 2. behauptet, daß Frauen sie leichter ertragen als nner,
es steht 3. für manche Industrie erfahrungsgemäß fest, daß ältere und verheiratet
Arbeiter sie, Gegensatz zu jüngeren, geradezu bevorzugen, w e n n damit
entsprechend stetigerer Verdienst verbunden ist und w e i l ihnen nicht mehr
so viel wie den jungen am Hinzulernen neuer Fertigkeiten, welche die Vielsei-
tigkeit der Arbeitseignung und also die Chancen des Vorwärtskommens erwei-
tern, liegt und liegen kann. »Psychophysische« und »rationale« Gründe sind hier
schwer zu scheiden.
Schon dies Beispiel zeigt uns, daß hinter der Frage der »Wirkung« der Ar-
beits»monotonie« und der Attitüde der Arbeiter zu
1)
Nach Leubuscher und Bibrowicz (D. med. Wochenschr. 1905, Nr. 21) waren 15
3
/
4
%
Schriftsetzer, 9
3
/
4
% Tischler, 5 % Schlosser, 1,9 % Mechaniker unter 100 von ihren Nerven-
patienten aus Arbeiterkreisen; die Berliner Dissertation von Schönfeld (1906: Ueber die Ursa-
chen der Neurasthenie und Hysterie in Arbeiterkreisen) hlt im »Haus Schönow« 74 % ge-
lernte Arbeiter und Handwerker gegen 26 % ungelernte. Vgl. Roth a. a. O. S. 614.
2)
Vgl. die Bemerkungen von G. Heilig in der Wochenschrift f. Soz. Medizin, 16. Jahrg.
(1908), S. 395 und Roth a. a. O. S. 614.
3)
Ueber die Wirkung der letzteren einige Andeutungen bei Heilig a. a. O.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 124
ihr sich Knäuel von sehr verschiedenartiger Fragestellungen verbergen, die zu
entwirren kaum die ersten Anfänge gemacht sind. Der Einfluß des Arbeits-
rhythmus, wie ihn die Maschine erzeugt, vor allem: der G r a d , in dem sie ihn
erzeugt (in der Textilindustrie z. B. natürlich weit mehr als etwa in der Werk-
zeug und Maschinenindustrie), gehört ja ebenfalls in diesen Zusammenhang der
»Monotonie«-Frage, ist aber, nach dem früher über die Rhythmisierung Gesag-
ten, auch an und für sich ein Gegenstand, der systematischer Untersuchung be-
dürftig wäre. Ob tatsächlich der außerordentliche Gegensatz in den Ermüdungs-
symptomen und in der ufigkeit der Erkrankungen, speziell der nervösen und
anämischen Erkrankungen, in den von Roth untersuchten Textilfabriken einer-
seits, einem Elektrizitätswerk andererseits gänzlich auf die Unterschiede in der
A b h ä n g i g k e i t vom Tempo der Maschine zu schieben ist, kann viel-
leicht bezweifelt werden, daß dieser Faktor sehr nachdrücklich und vielleicht
tatsächlich entscheidend mitspricht, wohl kaum.
Indessen, so wichtig derartige Erörterungen die, angesichts der anwachsen-
den »sozialhygienischen« Literatur hier noch weiter fortzuspinnen keinen
Zweck hätte für uns als Wegweiser zur Erkenntnis der Aetiologie der Ermü-
dung und anderer Einflüsse der industriellen Arbeit werden nnen, so werden
wir doch für unser eigentliches Thema so lange durch sie nicht entscheidend ge-
fördert, als nicht in systematischer Weise der Versuch gemacht wird, das Gebiet
der pathologischen zu verlassen und die physischen und psychischen Einflüsse
zu erfassen, welche die einzelnen Kategorien von Arbeitsprozessen auch und
g e r a d e da, wo sie keinerlei direkt als »Krankheit« in die Erscheinung tre-
tende »Störunge des Lebensprozesses zeitigen, auf die Arbeiter ausüben.
Denn w i r fragen: welche Bedingungen r die ö k o n o m i s c h e Ver-
wertbarkeit, die R e n t a b i l i t ä t der Verwendung von Arbeitern in den
einzelnen Industrien bestehen und inwieweit diese Bedingungen von Arbeiter-
schaften bestimmter ethnischer, kultureller, beruflicher, sozialer Provenienz er-
füllt, nicht erfüllt oder in untereinander verschiedenem Me erfüllt werden. Es
ist klar, daß auch für diese Fragen die Pathologie höchst wichtige Fingerzeige
geben nnte. Insbesondere die Neuropathologie, wenn sie sich in der Lage zei-
gen sollte, zu einer vergleichenden und differenziellen Neuropathologie der eth-
nischen,
6. Methodische Fragen. 125
kulturellen, beruflichen und sozialen Gruppen auszuwachsen
1)
. Wir werden s-
ter zusehen, was davon bisher an Ansätzen vorhanden ist. Aber es ist klar, daß
auch hier die Beobachtung von Differenzen der nervösen Morbidität, auch der
nervösen Berufsmorbidität, nur die gröbsten Außenlinien und extreme Fälle er-
fassen wird. Die neurotische Disqualifikation der amerikanischen Neger für ge-
wisse textilindustrielle Arbeiten ist für sie leicht greifbar; aber die ungleich fei-
neren und dabei doch für die Rentabilität der Verwendung der betreffenden Ar-
beiter entscheidenden Differenzen, wie sie sich in europäischen Industriebetrie-
ben zeigen, sind aus den Mitteln noch so vortrefflicher gewerblicher Krankheits-
statistiken
2)
allein, so wichtig diese auch für unsern Zweck sind, nicht erfaßbar.
Der Kassenarzt nnte, einer der wichtigsten Helfer für die Analyse der gewerb-
lichen Arbeit in ihren physischen und psychischen Bedingungen und Wirkungen
gerade erst dann werden, wenn er, über sein unmittelbares Berufsobjekt: den
Kranken, h i n a u s gehend, die verschiedenen Q u a l i t ä t e n eingehend,
mit den Mitteln seiner Wissenschaft, analysierte, welche die einzelnen Arbeits-
verrichtungen, die innerhalb seines p o t e n tiellen Patientenkreises von den
Arbeitern verlangt werden, bei diesen als vorhanden voraussetzen und, im Wege
der Auslese, an ihnen züchten, einerlei in welchem M a ß bei diesen Auslese-
und Anpassungsprozessen die eigentlich »pathologische« Entgleisung gestreift
wird.
Eine systematische physiologische und experimentalpsychologische Untersu-
chung der industriellen Erwerbsarbeit darf zur Zeit vornehmlich von zwei Insti-
tuten erwartet werden: einmal hat der Direktor des Office du Travail, Herr A.
F o n t a i n e , in Frankreich ein Laboratorium für diesen Zweck geschaffen.
Ferner ist an der Havard University unter H. M ü n s t e r b e r g s Leitung ein
Institut für angewandte Psychologie im Entstehen begriffen, welches zweifellos
auch diese Studien zu pflegen versuchen wird. Man wird jedes Urteil über die
Chancen dieser Anstalten suspendieren, bis Resultate vorliegen, aber die in
Vorstehendem berührten Schwierigkeiten für die Erfassung der ge-
1)
Mir ist unbekannt, wie sich die Fachleute im einzelnen zu den Konstruktionen von W.
H e l l p a c h (Psychologie der Hysterie, letzter Teil) stellen.
2)
Dafür Vorschläge bei K. H a u c k , Internat. Krankheitsstatistik, in der Zeitschr. f.
Gewerbehygiene, Unfallverhütung und Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, Wien, XII. Jahrg.,
ebenso, für die Technik der Krankenjournale von Krankenkassen überhaupt, bei Eisner (Ber-
liner Kongreß, a. a. O.).
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 126
werblichen Alltagsarbeit durch noch so sinnreiche Laboratoriumsversuche,
wenn diese zugleich irgendwelchen e x a k t e n Wert haben wollen, bleiben
natürlich auch für sie bestehen. In Deutschland re das einzige Laboratorium,
welches schon jetzt Untersuchungen dieser Art leisten könnte, wohl das Kraepe-
linsche in München, dessen Leiter allen solchen Versuchen vermutlich mit gro-
ßer Reserve, wenn nicht mit Skepsis, gegenüberstehen dürfte. Außerdem soll die
Budapester Universität wie man mir sagte über möglicherweise geeignete
Einrichtungen und Kräfte verfügen (was ich nicht kontrollieren kann).
Angesichts dieser gewiß nicht ermutigenden Sachlage fragt es sich nun, ob
nicht wenigstens als Aushilfe irgendwelche andere Mittel in Betracht kommen
können, um den Bedingungen und Wirkungen, wir wollen h i e r zunächst
einmal uns darauf beschränken, zu sagen: den B e d i n g u n g e n indus-
trieller Arbeitseignung näher zu kommen. Da es neben den physiologischen,
psychologischen und hygienischen die ö k o n o m i s c h e n Disziplinen
sind, welche sich mit dem Problem der Arbeit befassen, wenden wir uns natur-
gemäß an sie. Unter den sehr mannigfachen »Gesichtspunkten«, von denen aus
die ökonomische Betrachtung sich mit der Arbeit befaßt, ist es nun offenbar der
elementarste von allen: der p r i v a t wirtschaftliche Rentabilitätsstandpunkt,
der hier in Betracht kommen wird, deshalb, weil Rentabilitätsfragen r e c h -
n e r i s c h e Fragen sind. Für das Problem der »Rentabilität« kommt die
»Leistungsfähigkeit« eines Arbeiters ausschlilich in ganz demselben Sinn in
Betracht, wie die Rentabilität irgendeiner Kohlensorte, eines Erzes oder sonsti-
gen »Rohstoffes«, einer Kraftquelle oder einer Arbeitsmaschine bestimmter Art.
Der Arbeiter, ist hier im Prinzip schlechthin nichts als ein (möglicherweise!)
rentables Produktionsmittel, mit dessen spezifischen Qualitäten und »Nücke
ebenso »gerechnet« werden muß, wie mit denjenigen irgendeines mechanischen
Arbeitsmittels. Seine Qualitäten werden »kalkuliert«, sowohl auf Grund der be-
reits vorliegenden Erfahrungen unter dem Gesichtspunkt der Frage: ist mit der
gegebenen, auf Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit ruhenden effektiven
Leistung einer gegebenen Arbeiterschaft ein bestimmter Grad der Ausnützung
bestimmter Maschinen und Rohstoffe derart möglich gewesen, daß, bei gegebe-
nen Lohn-, Rohstoff- und Verzinsungsunkosten, die durch die Marktlage gebo-
tene Preisbemessung einen gewinn-
6. Methodische Fragen. 127
bringenden Absatz gestattete? andererseits unter der Fragestellung: durch wel-
che Mittel kann die Leistung, also sowohl die Leistungsfähigkeit als die Lei-
stungswilligkeit, der Arbeiterschaft derart gesteigert werden, daß durch gestei-
gerte Ausnützung der Maschinen und Rohstoffe und die dadurch bewirkte Her-
absetzung der Lohn k o s t e n nicht zu verwechseln mit: Herabsetzung des
L o h n e s , die auf einem andern, uns hier nicht interessierenden, Blatte steht –
eine Preisbemessung der Produkte ermöglicht wird, welche einen gewinnbrin-
genden (oder: noch gewinnbringenderen) Absatz gestattet? Das Mittel zur Stei-
gerung der Leistungsfähigkeit und -willigkeit ist bekanntlich teils direkte Prämi-
ierung der Leistungssteigerung durch ein geeignetes Lohnsystem: der einfachste
Typus ist das nackte Akkordsystem, teils »Auslese«, d. h. möglichste Absto-
ßung minder leistungsfähiger oder leistungswilliger Arbeiter. Die M ö g -
l i c h k e i t der Anwendung des letzten Mittels: die stets drohende Peitsche
der »Arbeitslosigkeit«, trägt m i n d e s t e n s in gleichem Maße wie die im
Akkordsystem gegebene direkte Abhängigkeit der Höhe des Erwerbes von der
Leistung zu jener Entfaltung der Leistungsfähigkeit der Arbeiterschaft bei, wel-
che wir in vielen Industrien, wenn auch ihrem Grade nach durchweg in ganz ro-
hen und vielfach direkt auf falscher Grundlage beruhenden Zahlen berechnet, so
doch als Tatsache unzweifelhaft, beobachten können.
Indessen interessiert uns zuerst die Frage: inwieweit die rechnerische Ermitt-
lung des »Leistungswertes« der Arbeiter »exakt« genug ist, um mit ihren Ergeb-
nissen wissenschaftlich etwas anfangen zu nnen. Das ist nun zunächst ein
Problem, das für jede einzelne Industrie verschieden liegt. Mehr, als für die
Zwecke der Rentabilitätsermittlung in Vor- und Nachkalkulation n ö t i g ist
und im Effekt rentabel zu sein verspricht, rechnet kein Betrieb. Und was dazu
nötig ist, hängt ab: 1. von der relativen Bedeutung der L o h n kosten im Ver-
hältnis zu den G e s a m t kosten der Produkte der betreffenden Industrie, 2.
von dem M, in welchem die Leistungsfähigkeit der Arbeiter von E i n f l u ß
auf die Quantität und Qualität des Produktes ist, 3. endlich von dem Maß an
Mühe und Kosten, welche die t e c h n i s c h möglichen Arten der Kontrolle
der Leistungsfähigkeit machen. Sowohl bei technisch ungewöhnlich hoher, die
Arbeit völlig automatisierender Entwicklung der Arbeits m a s c h i n e n (so
für manche Arbeiten in hmaschinenfabriken) als bei völliger Ab-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 128
wesenheit aller »Maschinen« im gewöhnlichen Sinn des Worts (Hochöfen) kann
der Einfluß der Arbeiter auf das Produkt auf ein Minimum sinken; andererseits
hindert das relative Zurücktreten der Lohn k o s t e n innerhalb der Gesamtko-
sten (Weberei gegenüber der Spinnerei) keineswegs, daß der E i n f l u ß der
Arbeitsleistung auf die Qualität des Produktes ein sehr großer sein kann. Es sind
bisher nur relativ enge Kreise der Gesamtindustrie, welche, wenn überhaupt
r e c h n e r i s c h e Abschätzungen der Arbeitsleistung regelmäßig vorge-
nommen werden, über die Feststellung ganz roher Durchschnittszahlen hinaus-
gehen: etwa der durchschnittlichen glichen Tonnenförderung der Belegschaft
eines bestimmten Schachtes. Dzwischen solchen Zahlen und den Maßmetho-
den, die wir in den Laboratorien der Experimentalpsychologen fanden, auch
nicht die allerentfernteste Beziehung herzustellen ist, liegt auf der Hand. Aber
eine ungeheure Kluft gähnt auch zwischen der »exaktesten«, in der Industrie
heute vorkommenden Mmethode und dem Experiment des Psychologen.
Nehmen wir etwa die Maschinen, welche die Zahl der Stiche oder Schläge
(Schusterei), oder die Zahl der Touren oder in der Weberei die Bewegungen
des Schützen automatisch zählen, so geben sie zunächst nur die q u a n t i t a -
t i v e Seite der Maschinenleistung (und das heißt: des Mes der Ausnützung
der Maschine durch den Arbeiter) wieder. Nicht nur muß die Q u a l i t ä t des
Produktes zum Zweck des Vergleichs noch nebenher festgestellt werden, und
nicht nur kann diese letztere nun und nimmermehr im Laboratoriumssinne (wo
nach Zahl der »Fehlreaktionen« usw. gemessen wird) »exakt«, sondern immer
nur nach gewissen Durchschnitten (z. B. beim Weben unter Kombination von
Zahl, Maß und Bedeutung der Webefehler) schätzungsweise festgestellt wer-
den
1)
, sondern vor allen Dingen drückt sich in der Zahl der Schützenbewegun-
gen und der Einreihung des Produktes in eine bestimmte Qualitätsklasse (z. B.
etwa: I-III, wonach man bei Prämiensystemen die Zulassung zur Prämiierung
bestimmt) keineswegs die Leistung des Arbeiters aus, sobald er an der glei-
chen Maschine und zwar auch bei gleicher Tourenzahl und gleicher Einstellung
aller ihrer einzelnen Teile – nacheinander entweder mit Rohmaterial verschiede-
ner
1)
Inwieweit die q u a l i t a t i v e Seite der Leistung direkt oder indirekt m e ß b a r
ist, – das liegt natürlich bei jeder Industrie verschieden und wäre bei Behandlung unserer Pro-
bleme stets vorab zu studieren.
6. Methodische Fragen. 129
S o r t e n , oder, bei gleicher Sorte, verschieden gut gearbeiteter Qualität zu
schaffen hat. Wie außerordentlich stark das z. B. in der Weberei auf die Leistung
einwirkt, soll später illustriert werden. Aber auch bei Voraussetzung der Gleich-
heit aller dieser Bedingungen enthält die mit Hilfe der automatischen Meßin-
strumente, die, im allgemeinen, eben doch immer noch das Maximum der
»Exaktheit« darstellen, und, s o w e i t es auf die von ihnen kontrollierten
quantitativen Leistungen innerhalb einer Zeiteinheit (Tag, Stunde) ankommt, ja
in der Tat »exakt« sind, gemessene Leistung in sich die ganze Fülle jener frü-
her erwähnten ganz grobschlächtigen Komponenten, welche das Laboratorium
ausschaltet. Bei den Maschinen mit jenen Mvorrichtungen ist es in das Belie-
ben des Arbeiters gestellt und muß es in sein Belieben gestellt sein, die Maschi-
ne abzustellen oder sie stellen sich (z. B. bei Fadenbrüchen) automatisch ab und
harren der Wiederinbetriebsetzung nach Zusammenknüpfung der Fäden: das
quantitative Arbeitsergebnis, welches gemessen werden soll, ist bei ihnen von
dem Zeitraum abhängig, in welchem die Maschine n i c h t gelaufen ist.
Der Grund aber, wegen dessen ein Arbeiter die Maschine abgestellt stehen
läßt, langsamer beschickt oder wo etwa auch dies in seine Hand gegeben ist
langsamer laufen läßt, kann ganz außerhalb des Arbeitsprozesses, den er an die-
ser Maschine vollzieht, liegen. Er kann, wenn er mehrere Webstühle bedient,
den einen abstellen, weil er zeitweise durch Defekte oder Unordnung an einem
anderen ausschließlich beschäftigt ist (ein sehr häufiger Fall). Er kann aber auch,
wenn er nur einen bedient, diesen sowohl aus technischen Notwendigkeiten sei-
ner Arbeit wie aus Bequemlichkeit, oder um gemächlich zu arbeiten, oder um
Lohnherabsetzungen infolge zu hohen Verdienstes vorzubeugen, oder infolge
Ermüdung wegen schlechter Tagesdisposition (die auf einer ganzen Anzahl ver-
schiedener im Laboratorium stets sorgsam ausgeschalteter Gründe beruhen
kann), häufiger abstellen, als er dies sonst oder als es ein anderer in gleicher La-
ge täte, ohne daß über diese Verhältnisse die nackte Zahl, die der Mapparat
zeigt, irgend etwas verriete. Immer also bedürfen diese Zahlen der Interpretation
und es ist klar, daß diese an Schwierigkeit, wenn man wirklich die Einzelheiten
exakt in ihrer Bedingtheit erfassen möchte, so kolossal über allem, was im Labo-
ratorium an ähnlichen Deutungsaufgaben vorkommen kann, steht, daß sie
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 130
selbst bei a l s b a l d i g e r Untersuchung am gleichen Tage und bei bestem
Willen zu erschöpfender Auskunft seitens des beteiligten Arbeiters, schwerlich
zu Resultaten führen nnte, wie sie das Laboratorium unsicher genug, wie
wir sahen – zeitigt.
Steht es so mit der direkten »Messung« der Arbeitsleistungen, dann ist natür-
lich die fernere, praktisch sehr wichtige Möglichkeit, die L o h n buchungen der
Fabrikbetriebe, insbesondere die »nackten«, d. h. die unter Abzug aller etwaigen
Prämien, Minimallöhne, Zuschläge und »Vertunge berechneten A k -
k o r d verdienste der Arbeiter, Zahlen also, welche nur den praktischen End -
e f f e k t der Arbeit, absolut nicht dagegen die Art, w i e dieser erzielt ist,
angeben, zur Grundlage der Ermittlung ihrer Leistungsfähigkeit zu machen, vom
Laboratoriumsstandpunkt aus noch ungleich unexakter und direkt entgegenge-
setzt allen psychophysischen Maßmethoden, welche ja zwar selbstredend von
der »Leistung«, dem E f f e k t des Funktionierens des psychophysischen Ap-
parates, ausgehen müssen, aber die Art, w i e der psychophysische Apparat
diese Leistung zustande gebracht hat, die Technik seines F u n k t i o n i e -
r e n s , zum Objekt ihrer Analyse machen (man erinnere sich der Ausführun-
gen über die Leistungskombination). Da außerdem die Akkordverdienste stets
nur für größere P e r i o d e n (mindestens eine, regelmäßig zwei Wochen)
festgestellt werden, so ist bei ihnen natürlich nicht nur nicht von einer »Beob-
achtung«, sondern regelmäßig kaum von einer direkten »Anamnese« der nähe-
ren Gründe der Leistungsschwankungen zu sprechen: sie müssen günstigenfalls
unter Beihilfe persönlicher, aber nie durch Eigenbeobachtung, sondern nur
durch Sach k r i t i k zu kontrollierender, Auskünfte e r s c h l o s s e n wer-
den. Will man ferner die Leistung eines Arbeiters, der verschiedene Sorten Wa-
ren an einer oder verschiedenen Maschinen herstellt, in verschiedenen Zeitperi-
oden oder gar und dies ist ja in letzter Instanz die Aufgabe, um derentwillen
alle diese Probleme aufgerollt werden die Arbeitsleistung von Arbeitern ver-
schiedener P r o v e n i e n z (geographisch, ethnisch, beruflich, sozial, kultu-
rell) für bestimmte Arten von Arbeiten miteinander v e r g l e i c h e n , so ist
der »nackte« Akkordsatz im obigen Sinne gar nicht immer verwertbar. Bedient
z. B. ein Arbeiter verschiedene Webstühle gleichzeitig, so bedeutet der zeitwei-
lige Stillstand eines von ihnen (in-
6. Methodische Fragen. 131
folge Einlegen neuer Ketten oder infolge Defektes) natürlich die glichkeit ei-
ner S t e i g e r u n g der Leistung auf den nunmehr übriggebliebenen (wir
werden noch untersuchen, in welchem Grade). Der »nackte« Akkordverdienst
gäbe in diesem Falle kein richtiges Bild, andere, aber: s. u. auf K a l k u -
l a t i o n der Betriebsleitung beruhende, Zahlen sind alsdann adäquater.
Wechseln ferner die Arbeiter mit den Sorten, so steckt in ihrem »nackteAk-
kordverdienste ebenfalls wie noch zu erörtern sein wird die K a l k u l a -
t i o n des Verhältnisses der »Schwierigkeit« der Arbeit von verschiedenen
Sorten durch die Betriebsleitung. Nur bei ganz besonders günstigen llen kon-
tinuierlicher und gleichmäßiger Arbeit stoßen wir nicht auf dies, alle Probleme
der Akkordbemessung in die scheinbar so »exakte Zahlen hineintragende
Element, dessen Eliminierung oft nur mit erheblichen Schwierigkeiten gelingt
und dessen N i c h t vorhandensein in den Akkordverdienstzahlen, wenn sie zu
Vergleichungen benützt werden sollen, in jedem Falle vorab festzustellen ist.
Trotz aller dieser Vorbehalte sind die unter Rentabilitätsgesichtspunkten ge-
sammelten Erfahrungen der industriellen Betriebe: die Akkordverdienste und die
zu Kalkulationszwecken gemachten Berechnungen der »Nutzeffekte«, d. h. des
Maßes der Maschinenausnutzung bei gegebenen Produktionsaufgaben durch ge-
gebene Arbeiter die wertvollste von allen zur Verfügung stehenden Handhaben,
um von der Seite u n s e r e r Methoden her an einer allmählichen Verenge-
rung der Kluft, die uns heute von den Maßmethoden der Experimentalpsycholo-
gen trennt, zu arbeiten, wenn man sie ohne unverständige Illusionen über das,
was sie leisten können, gebraucht. Das was sie, wenn man günstige Vorbedin-
gungen aufsucht, zu leisten vermögen, ist keineswegs unerheblich, und es sollen
in folgendem einige, wesentlich die M e t h o d e betreffende, Bemerkungen
darüber gemacht werden.
Bei dem Versuch, die Wandlungen in den Arbeitsleistungen, wie sie sich, sei
es in den Akkordverdiensten, sei es in »exakt«, durch Mautomaten festgestell-
ten Ziffern ausdrücken, kausal zu ergründen, hat man sich gegenwärtig zu hal-
ten, daß hier mehrere Kategorien von, ineinander auf ihren gegenseitigem
Grenzgebieten Übergehenden, dennoch aber in der Art ihres »Gegebenseins«
recht verschiedenen Komponenten zusammenspielen. Zunächst, auf der einen
»Seite« r a t i o n a l e Erwägungen: wir werden wieder
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 132
und wieder auf die Tatsache stoßen, daß die Arbeiter ihre Leistung nach Maß
und Art p l a n v o l l zu »materiellen« (d. h.: »Erwerbs«-) Z w e c k e n re-
gulieren, steigern oder herabsetzen oder, beim Nebeneinander mehrerer Leistun-
gen (z. B. mehrerer Sorten mit verschiedenen Verdienstchancen auf mehreren
Webstühlen) in der Art der Kombination ändern. Die »Maxime«, denen solche
zweckvolle Regulierungen folgen, können wir durch »pragmatische« Deutung
» e r s c h l i e ß e n « . Auf der anderen Seite verändert sich, quantitativ oder
qualitativ, ihre Leistung durch Veränderungen im Funktionieren ihres psycho-
physischen Apparates, welche ihnen unter Umständen dem psychischen Effekt
nach: Erleichterung oder Erschwerung der Leistung, n i c h t aber dem »da-
hinter stehende psychophysischen Hergang nach ins Bewußtsein tritt, sehr oft
aber ein Beispiel lieferten die Arbeiter der Zeiß-Werkstätten bei Einführung
des Achtstundentages ihnen als Tatsache überhaupt gänzlich verborgen bleibt
und nur am E f f e k t : Leistungsänderung, sichtbar wird. Diese Komponenten
können wir ihrer Ursächlichkeit nach mit Hilfe der sog. »äußeren« Erfahrung
und als Spezialfälle der durch »Experiment« gewonnenen Regeln, zu » e r -
k l ä r e n « suchen. Sodann finden sich Komponenten, welche eine s p e z i -
f i s c h e Mittelstellung (nicht: eine Mittelstellung überhaupt: denn deren
gibt es zahlreiche) einnehmen: das sind Vorgänge, bei denen »Stimmungsla-
gen«, die als solche ins Bewußtsein treten, die Arbeitsleistung beeinflussen,
o h n e daß zugleich der Hergang dieser Beeinflussung, die Mehr- oder Min-
der- oder Andersleistung, als damit zusammenhängend bewußt »erlebt« würde;
solche Vorgänge können wir »psychologisch« v e r s t ä n d l i c h machen.
Setzt der Arbeiter seine Leistung herab, um Akkorderhöhung zu erzielen, so ist
das, was uns an dem Vorgang i n t e r e s s i e r t : die »Motive« der Lei-
stungsherabsetzung, weil der Welt des »Gedanklichen« angehörend, unmittelbar
»deutbar« und durch keine psychophysische, psychologische, physiologische,
biochemische Erwägung in d i e s e n , für uns e n t s c h e i d e n d e n
Punkten ( d a r a u f kommt es an) der Ergänzung bedürftig. Auf Komplikatio-
nen mit eventuell »psychologisczu analysierenden Bedingungen stoßen wir
möglicher-, n i c h t notwendigerweise erst wieder beim h i s t o r i -
s c h e n Regressus auf die Motive, aus denen etwa gerade j e t z t eine Ak-
korderhöhung verlangt wurde, auf psychophysische beim Progressus zu der
6. Methodische Fragen. 133
Frage, wie das bewußte Herabsetzen seiner Leistung z. B. den Uebungseffekt,
die »psychomotorische Bedingungen seiner Arbeitsleistung usw. beeinflußt
habe. Geht die Leistung des Arbeiters infolge von »Stimmungslagen«, wie
dies vorkommt, »unbewußt« herab, so ist die » U r s a c h e « , d. h. eben jene
»Gefühlslage«, introspektiv »nachbildbar«, der Zusammenhang mit dem E f -
f e k t ist dagegen »beobachtbar« und aus der psychophysischen Erfahrung als
Spezialfall einer Regel »erklärbar«, aber in den kausal i n t e r e s s i e r e n -
d e n Punkten n i c h t immer introspektiv nachbildbar. Machen sich die
»Uebungseinflüsse in dem Maße der Leistung geltend, so ist der kausal i n -
t e r e s s i e r e n d e Punkt, je nach dem Maß der Fortschritte der biochemi-
schen Kenntnisse, als Spezialfall einer Erfahrungsregel dieser Wissenschaft be-
greiflich zu machen, introspektiv nachbildbar ist aber nicht die »Ursache«, son-
dern lediglich ein für uns nur nebensächlich interessanter, auch nur unter Um-
ständen vielleicht eintretender, g e f ü h l s mäßiger E f f e k t der gesteiger-
ten Geübtheit. Zahlreiche Kombinationen, Komplikationen und Mittelstufen
sind zwischen diesen drei Typen denkbar und empirisch vorhanden. Wir stellen
dies Ineinandergewobensein derartig verschiedener, hier übrigens nur in einer
ganz provisorischen, ganz und gar nicht wissenschaftlich korrekten Sprache
formulierten, Arten von Komponenten hier nur als Tatsache fest: sie kompli-
zieren das Problem einer rein p s y c h o p h y s i s c h e n Behandlung der
industriellen Arbeit nicht unerheblich.
M e t h o d i s c h wichtig wird speziell die Frage sein, ob 1. möglichst um-
fassende kausale Analyse eines möglichsten Maximums e i n z e l n e r Lei-
stungs- oder Akkordverdienst-Kurven von Arbeitern, oder aber 2. die Gewin-
nung eines Materials von großen D u r c h s c h n i t t e n aus möglichst vie-
lem, wenn auch gröberem Zahlenmaterial, die Kenntnis von den Bedingungen
der Arbeitsleistung sicherer fördert. Da die Ausführungen aller folgenden, na-
mentlich aber der Schlußabschnitte dieser Erörterungen gerade auch zur Beant-
wortung dieser Frage das Ihrige beitragen möchten, so antizipiere ich hier nur
provisorisch einige der mir z. Z. nicht zweifelhaften Sätze. Ich bin 1. überzeugt,
daß mit b l o ß e n Durchschnitten etwa von Akkordverdienstzahlen oder
Produktionsergebnissen möglichst grer, sei es auch noch so homogener
Schichten einer Arbeiterschaft und der Feststellung von Unterschieden solcher
Durchschnitte nach Gebieten,
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 134
Herkunft usw. a l l e i n g a r n i c h t s oder so gut wie gar nichts ge-
wonnen wäre. Wenn die Verhältnisse nicht ganz außergewöhnlich einfach lie-
gen, ist es ein unentbehrliches Gebot, sich genau klarzumachen, w i e die Ak-
kordverdienste der Arbeiter im einzelnen zustande kommen, wenn man die
Brauchbarkeit dieser Zahlen für die Ermittelung der Leistungsfähigkeit richtig
einschätzen will. Es ist andererseits 2. der Satz unanfechtbar, daß schon einige
Dutzend von selbst sorgsam ausgezogenen, dann von allen »Zufälligkeiten« ge-
säuberter und dann auf Höhe des Tagesakkordverdienstes, Schwankungen von
Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat wo immer alles dies
möglich ist durchgerechneten und dann ferner selbst, unter steter Rücksprache
mit den im Einzelfall besten Sachkennern, insbesondere den Betriebsleitern und,
wo dies irgend tunlich ist (und es ist aus zahlreichen Gründen, unter denen der
Widerstand der Betriebsleitungen keineswegs der wichtigste ist, leider nur sehr
selten tunlich) auch den Arbeitern, kausal analysierten Leistungskurven unend-
lich l e h r r e i c h e r ist, als die größte Massenstatistik, die mit fix und fertig
übernommenen Durchschnittszahlen arbeitet. Aber allerdings haben auch die
Durchschnittszahlen ihr gutes Recht. S i e nnen 3. allerdings nur wenn man
sie hinlänglich nach Arbeiterkategorien und eventuell, nach Durchschnittslei-
stungen einzelner Arbeiter eines Betriebes differenziert, ausgezeichnete Weg-
weiser für die Auffindung dessen sein, was auffällig von dem, was man erwarten
sollte, abweichend ist: die nach oben oder unten sich a b h e b e n d e n Fälle
sind diejenigen, welche der individuellen Untersuchung zunächst am meisten
bedürftig sind. Und 4. n a c h d e m man mit Hilfe von individuellen Einzel-
untersuchungen das Verständnis für die Art, wie die Zahlen e n t s t e h e n ,
gewonnen hat, wird man auch in der Lage sein, mit den rohen Durchschnittszah-
len großer Massenfeststellungen ohne Gefahr ihrer oberflächlichen Ueberschät-
zung nützlich zu arbeiten: als A b s c h l u ß ist die »große Zahl« selbstredend
unentbehrlich. Wer immer aber sich an solchen Untersuchungen auch in noch so
bescheidenem Me versucht hat, der muß 5. schließlich und vor allem auch se-
hen, in wie starkem Me w ä h r e n d der individuellen Untersuchung, als
deren Kontrolle, die stete O r i e n t i e r u n g an Durchschnitten erforderlich
ist, um das gänzlich S i n g u l ä r e vom generell Erheblichen zu scheiden.
Die Einzeluntersuchung
6. Methodische Fragen. 135
hat den Durchschnitt, dieser die Einzeluntersuchung zu kontrollieren. Die Einzelunter-
suchung hat daher, beim heutigen Stande der Probleme, vornehmlich »zahlen k r i t i -
s c h e n « Sinn und Wert.
In den folgenden Ausführungen soll nun nicht etwa der Versuch unternommen wer-
den, sachliche E r g e b n i s s e zu liefern, welche für die hier erörterten Probleme
neue Aufschlüsse gäben. Es sind allerdings in diese Erörterungen eine ganze Anzahl
von Rechnungen eingeflochten, welche ich auf Grund der mir von den Leitern eines in-
dustriellen Betriebes freundlichst zur Verfügung gestellten Lohnbücher und Beobach-
tungen über das Maß der Ausnützung von Maschinen gemacht habe
1)
. Die Kleinheit des
Zahlenmaterials allein schon schließt aber jeden Gedanken daran, daß damit etwas »be-
wiesen« werden nnte, aus. Die Zahlen haben i l l u s t r a t i v e n Zweck und sol-
len ausschließlich zeigen, daß und welche Wege es bei a u s r e i c h e n d e m Zah-
lenmaterial geben w ü r d e , aus Zahlen dieser Art mehr herauszuholen, als sie auf
den ersten Blick zu sagen scheinen. –
Einleitend soll in folgendem zunächst, ohne alle Gewähr einer (hier ganz irrelevan-
ten) Vollständigkeit, festgestellt werden, was ungefähr heute schon über Schwankungen
der Arbeitsleistungen und die wichtigsten der bereits bekannten äußeren und inneren
Einflüsse, von denen sie bedingt erscheinen, festgestellt ist und was darüber zunächst
weiter und w i e es etwa festgestellt werden nnte, um dann erst einige reale Lei-
stungskurven auf die Gründe, die sie bestimmt haben können, und natürlich auch auf die
Lücken, die eine solche Untersuchung heute läßt, zu analysieren und m e t h o d i -
s c h e Schlüsse daraus zu ziehen. Dann
1)
Auch ein Teil der Auszüge aus den Lohnbüchern und gewisse dafür erforderliche Rechnungen
sind mir freundlicherweise von seiten des Betriebes besorgt worden. Ich habe jedoch fast kein nicht
selbst nochmals nachgerechnetes Material hier verwendet, da sehr häufig sich die Notwendigkeit einer
etwas andersartigen Rechnungs w e i s e herausstellte. Darüber wird in späteren Abschnitten das Er-
forderliche bemerkt. Diese Zahlen im Text verfolgen u. a. auch den Zweck, zu zeigen, daß auf Grund
der r ü c k h a l t l o s e s t e n Einsicht in alle hierher gehörigen Registraturen dennoch eine
u n s e r e n Zwecken genügende Art der Verwertung des Materials sehr leicht möglich ist, welche
j e d e s Nachrechnen der Selbstkosten des Betriebs durch einen Konkurrenten, der etwa diese Zei-
len sehen sollte, vollkommen ausschließt. Da ich selbst nur 14 volle Arbeitstage Zeit auf die Herstel-
lung von Auszügen verwenden konnte, so m hier mit s e h r kleinem Zahlenmaterial hausgehal-
ten werden. Für bloß i l l u s t r a t i v e Zwecke m es wohl oder übel genügen, da mich andere
Arbeiten hindern, selbst eine Monographie zu schreiben.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 136
soll schließlich versucht werden, in Kürze auch der Frage her zu treten, die letztlich
im Hintergrunde aller dieser Erörterungen steht: welche Chancen der Versuch, auf er-
erbter Anlage, kulturelles, soziales und berufliches Milieu als Quellen der Leistungsdif-
ferenzen von Arbeiterschaften zurückzugehen, heute haben kann
1)
.
7.
Eine wirklich exakte Untersuchung des Verlaufes der Arbeitsleistung innerhalb des
einzelnen Arbeits t a g e s ist in all den Industrien prinzipiell möglich (und vielfach in
Uebung), welche den Gang ihrer Maschinen durch automatische Meßinstrumente kon-
trollieren können. Ohne Reibungen und Mißstimmung würden allerdings zuweilen wohl
nur die Zeiträume zwischen je zwei P a u s e n im ganzen kontrollierbar sein. Denn
wo sie die Macht dazu hätte, würde die Arbeiterschaft das stundenweise Ablesen der
Kontrollzahlen hrend der Arbeit oft als lästige Ueberwachung empfinden und ableh-
nen. Diejenigen Industrien, welche bei elektrischem Betrieb den Stromverbrauch stun-
denweise messen nnen, würden, sofern genügend für die Ausschaltung uschender
und störender Faktoren gesorgt ist, wenigstens das Schwanken der Gesamtleistung aller
Arbeiter zusammen hrend des Tages festzustellen in der Lage sein, ohne daß aber
damit ermittelt re, welche einzelnen Kategorien der Arbeiterschaft bei diesen
Schwankungen die entscheidende Rolle spielen und ob und wie sich etwa auch ihre ein-
zelnen Bestandteile, nach Alter und Provenienz gegliedert, darin u n t e r s c h e i -
d e n . Die Kontrolle der Leistungsschwankungen an der Hand der Verteilung der Pro-
duktablieferungen über den Tag (so in einem von Roth zitierten Walzwerk, auf dessen
Lager durchschnittlich in der ersten Hälfte des Arbeitstages 57
1
/
2
, in der zweiten 42
1
/
2
%
der Tagesproduktion einzugehen pflegte) oder durch direkte Beobachtung des Ablaufes
der Arbeit durch die Meister, oder endlich nach Angabe der Arbeiter selbst sind in dem
Maß der Exakt-
1)
Diese Fragen sind die Themata der gegenwärtig in den Anfängen befindlichen Erhebung des
Vereins für Sozialpolitik über »Anpassung und Auslese (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbei-
terschaft der geschlossenen Großindustrie«; ich habe, teilweise im Anschluß an Erörterungen mit mei-
nem Bruder, Prof. A. Weber, der seinerseits dem Komitee des Ausschusses des Vereins den ersten
Entwurf von Fragebogen mit einem, die Gesichtspunkte dieser Erhebung skizzierenden Exposé vorleg-
te, auch meinerseits eine, auf Veranlassung des Vereins im Manuskript gedruckte, Denkschrift über-
reicht, aus der verschiedene Gesichtspunkte hierher übernommen sind.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 137
heit natürlich sehr verschiedenwertig
1)
. Die allgemein gehaltenen, nicht auf exakt kon-
trollierte Zahlen gestutzten Auskünfte der Betriebsleiter widersprechen sich, auch be-
züglich der gleichen Arten von Arbeit und zuweilen sogar in der gleichen Fabrik. Eini-
germaßen plausibel ist es, wenn einerseits die Bergwerke mit ihrer höchst anstrengen-
den, auf Inanspruchnahme bestimmter Muskelgruppen beschränkten Arbeit unter sehr
ungünstigen Bedingungen, andererseits die Baugeschäfte (starker Alkoholgenuß der
Arbeiter hrend der Tagesarbeit) besonders häufig die e r s t e n Frühstunden der
Arbeit als die Zeit höchster Leistung angeben. Pieraccini wollte ganz allgemein den
Höhepunkt für körperliche und geistige Leistungen in der 2. und 3. Arbeitsstunde fin-
den. Daß dies für industrielle Arbeit ganz allgemein zutrifft, dürfte unwahrscheinlich
sein: es ngt wohl nicht nur von der Schwere der Arbeit selbst ab, sondern auch von
der Frage: ob und was der Arbeiter morgens vor der Arbeit zu sich genommen hat: – oft
genug verschiebt er jede Nahrungsaufnahme bis zur ersten Pause. Die Regel bildet, und
zwar namentlich, wie es scheint, in der maschinellen Fertigfabrikatindustrie das Beste-
hen zweier Höhepunkte: in der Zeit nach dem Frühkaffee (der Vormittagspause) etwa
von 9 oder 10-12 und nach dem Nachmittagskaffee (Vesperpause) etwa 3 oder 4-6. Im
allgemeinen erscheint dabei die zweite lfte des Vormittags als die absolut beste Zeit
(so z. B. auch in der von Roth wiedergegebenen Tagesleistungskurve der Firma Sie-
mens & Halske A.-G., noch entschiedener wird das Gleiche aus der Draht-Industrie be-
richtet). Die »anregende« Wirkung des Kaffees ist dabei, wenn der Arbeiter nicht gänz-
lich nüchtern zur Arbeit gegangen ist, wohl lediglich als »auslösendes« Moment für das
durch Uebung (vormittags) und Nahrungszufuhr nach vollendeter Verdauung (spät-
nachmittags) bedingte bessere Funktionieren des psychophysischen Gesamthabitus an-
zusehen. Die starke Bedeutung des ökonomischen Arbeitsinteresses für die Arbeitslei-
stung äußert sich speziell in den mehrfach behaupteten erheblichen Unterschieden der
Arbeitsleistung in den l e t z t e n Arbeitsstunden, je nachdem Akkord- oder Stunden-
lohn besteht: wenn gesagt wird, daß (Behauptungen aus der Maschinenindustrie) Stun-
denarbeiter die »Lust« schneller
1)
So sind in dem mir freundlichst zur Einsicht überlassenen Enquetematerial von A. L e v e n -
s t e i n (s. u.) Angaben über den Gang der Ermüdung gemacht, welche j e d e n f a l l s nur für
die s u b j e k t i v e Müdigkeit (s. o.) gelten können.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 138
verlieren und d e s h a l b stärker »ermüden«, so fragt sich, in welchem Sinn hier der
Tatbestand einer »Ermüdung« vorliegt. Manche Ergebnisse der Beobachtungen über die
Verteilung der U n f ä l l e über die Stunden des Arbeitstages, welche ein s t e t i -
g e s Ansteigen in jeder der beiden Tageshälften bis zur Mittagspause bzw. bis gegen
Abend zeigen [so neuestens die Angabe von Bille-Top
1)
], nnten sowohl als Beweis
für das stetige Ansteigen der »objektiven Ermüdung« (trotz steigender Leistung), wie
als Ausdruck dafür, daß Intensivierung der Arbeit an sich die Unfallgefahr steigert, ge-
deutet werden. Ob die Behauptung einzelner Konserven- und Lederfabriken, daß die ef-
fektive Leistung in den l e t z t e n Arbeitsstunden die höchste sei was bei Akkord
an sich wohl möglich re –, hinlänglich uninteressiert, und ob sie, wenn ja, durch ex-
akte Beobachtung gestützt ist, scheint nicht ganz sicher. Was vorerst noch ganz fehlt, ist
eine, übrigens schon von Roth geforderte, systematische Scheidung der Arbeiter nach
der A r t der Inanspruchnahme des Organismus und die vergleichende Untersuchung
ihrer so gebildeten Kategorien. Ferner aber auch: die, freilich nicht ganz einfach zu ma-
chende, jedenfalls l ä n g e r e Beobachtungs- Z e i t r ä u m e fordernde Scheidung
der ethnischen und sozialen P r o v e n i e n z e n , der Alters- und Familienstandska-
tegorien der Arbeiterschaft und deren gesonderte Untersuchung in bezug auf die Tages-
leistungskurve.
Fast durchweg, man kann wohl direkt sagen: mit Ausnahme tendenziöser Auskunft-
geber, wird heut der Minderwert (in Draht-
1)
H. Bille-Top, Kopenhagen: Die Verteilung der Unglücksfälle der Arbeiter auf die Wochentage
nach Tagesstunden (Zentralbl. f. allg. Gesundheitspflege, 27. Jahrg., 1908, S. 197). Die Angaben sind
der Privatpraxis des Verf. entnommen. Die Verteilung der absoluten Zahlen war folgende (1898-
1907):
6-7 7-8 8-9 9-10 10-11 11-12 12-2 1-2
Männer 2 11 12 16 20 34 5 9
Frauen
2 2 3 8 8 6 1
2-3 3-4 4-5 5-6 6-7 7-8 8-9 nachts
Männer 14 26 29 20 7 2 2 7
Frauen 5 8 2 5 3 1 1 1
(Ein Teil der großen Betriebe wird schon um 5 Uhr geschlossen.) Die Zahlen für Männer und Frauen
zusammen verteilen sich so: 6-9 : 31, 9-12 : 92, 12-3 : 34, 3-6 : 90. Am Sonnabend in den entspre-
chenden Stunden: 5-16-6-24. (Der Tag nach der Löhnung, an dem also die Steigerung der Unfälle mit
zunehmende Leistung r a p i d e r als an anderen Tagen zunimmt.) Die Zahlen sind klein aber nicht
wertlos. Der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist eine Folge der Alkoholwirkung (s. später).
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 139
und Nagelfabriken: 25 %) der Leistung in Ueberstunden, wenigstens dann, wenn diese
längere Zeit fortgesetzt werden, zugegeben. Vielfach erscheinen wenige Tage, wohl
immer 14 Tage bis 3 Wochen als Maximum der, ohne Beeinträchtigung der G e -
s a m t l e i s t u n g , durchführbaren Ueberarbeit. Selbstverständlich kommt es darauf
an, in welchem M die Arbeiterschaft v o r den Ueberstunden angestrengt worden
ist. Dabei gibt aber die Länge der normalen Arbeits z e i t allein keineswegs den Maß-
stab, da normalerweise, bei herrschender Akkordarbeit aber, wie ziemlich sicher fest-
zustehen scheint, nicht nur in diesem Fall die Arbeitsleistung bei kürzerer Arbeitszeit
entsprechend intensiver wird als bei längerer. Abgesehen von den oft erörterten und
seitdem noch wesentlich vermehrten Erfahrungen, die Brentano s. Z. in seiner bekann-
ten Schrift erörtert hat, berichteten die Arbeitgeber dies freiwillig z. B. auf die Eisner-
sche Rundfrage für die Lederfabrikation (jetzt 8
1
/
2
Stunden Nettoarbeitszeit), die Eisen-
gießerei und den Maschinenbau (in 9 Stunden dieselbe Leistung wie früher in 9
3
/
4
), die
Herstellung optischer Instrumente; zugleich wurde aber (Draht- und Nagelfabrikation)
die Notwendigkeit schärferer Kontrolle der Werkzeuge (wegen des hastigeren Arbei-
tens) gegen Arbeitsschluß bei verkürzter Arbeitszeit betont: offenbar Folge der stärke-
ren Ermüdung durch die intensivere Anspannung. Diese Steigerung der Intensität
braucht selbstverständlich keineswegs immer den Effekt zu haben wie in den berühmten
Schulbeispielen für die Wirkung der Arbeitsverkürzung (namentlich dem Beispiel der
Zeiß-Werkstätten): daß in der kürzeren Arbeitszeit absolut ebenso viel, ja m e h r ge-
leistet wird als in der längeren. Aber allerdings ist kürzere Arbeitszeit bei sonst gleichen
Verhältnissen, namentlich gleicher Machtlage der Arbeiter und Unternehmer im Ver-
hältnis zueinander, fast s t e t s ein Zeichen für ein gewisses, wenn auch nicht immer
entsprechendes Mvon gesteigerter Intensität der Arbeit. Sie bedeutet damit physiolo-
gische Mehr-Inanspruchnahme und also: physiologische Mehr e r m ü d u n g (wenn
man bei den Kraepelinschen Begriffen bleibt) der Arbeiter, auf die Arbeitszeit-Einheit
(z. B. die Arbeitsstunde) gerechnet. Und es versteht sich, daß mithin die Ueberarbeit bei
kürzerer Arbeitszeit keineswegs notwendig leichter erträglich wird als bei langer. D
mit zunehmender Inanspruchnahme der physischen und psychischen Arbeitsfähigkeit
der Arbeiterschaft in so vielen Industrien die
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 140
normale Arbeitszeit »ganz von selbst« zurückgegangen ist, d. h. auf Grund der Erfah-
rungen der Unternehmer über die U n r e n t a b i l i t ä t der langen Arbeit von ihnen
freiwillig, wenn auch sehr gernd, verkürzt wurde, beruht zum guten Teil auf ähnli-
chen Gründen. Dazu einige Worte.
Es hätte keinen Zweck, hier das umfassende Thema der »Arbeitszeit« mit seiner aus-
gebreiteten Literatur aufzurollen
1)
. Die äußerst wichtige Frage: wie sich die einzelnen
Industrien in der Wirkung der Arbeitszeitreduktion u n t e r s c h e i d e n , bedarf,
soviel einzelnes darüber auch gesagt worden ist, doch noch der systematischen Untersu-
chung an der Hand streng r e c h n e r i s c h e r Unterlagen. Namentlich das vielum-
strittene Problem, inwieweit die zunehmende A u t o m a t i s i e r u n g des Arbeits-
prozesses und die damit verbundene Ausschaltung des Einflusses der Leistung der Ar-
beiter auf das Maß der Intensität der Motoren- und Maschinenausnützung dem Satz:
kurze Arbeitszeit = hohe Arbeitsintensität, Schranken setzt, entbehrt noch einer zugleich
streng exakten und streng unbefangenen Erörterung, welche nur als v e r g l e i -
c h e n d e Darstellung möglichst vieler in dieser Hinsicht charakteristisch verschiede-
ner Arbeitsmanipulationen fruchtbar sein könnte. Das bisherige Material, soweit es als
exakt anzuerkennen ist, bezieht sich fast gänzlich auf Industrien, bei denen ein erhebli-
cher Einfluß der Arbeiter auf das Tempo und die Qualität der Produktion besteht. Die
theoretisch originellste, physiologisch und an der Praxis des eigenen Betriebes orientier-
te Darlegung hatte Abbé in seinen bekannten Vorträgen gegeben
2)
: Der Kräfteverbrauch
bei der Arbeitsleistung führt, seinen Ursachen zugerechnet, auf drei deutlich zu schei-
dende Komponenten zurück: er ist teils 1. Funktion des Quantums der zu vollziehenden
(gleichartigen) Manipulationen überhaupt, g l e i c h v i e l in welcher Zeiteinheit sie
erfolgen, teils 2. Funktion der G e s c h w i n d i g k e i t der Arbeit, teils endlich 3.
entspricht er dem Kraftverbrauch für »Leergang« bei der Maschine, d. h. er ist Folge der
rein »passiveErmüdung durch die Nötigung des Verharrens in einer ganz bestimmten
sitzenden oder stehenden, besonders oft wohl einer gebückt stehenden Stellung, wie sie
die betreffende Arbeit als Vor-
1)
Um so weniger, als der Artikel »Arbeitszeit« (von Herkner) im Handw.-B. d. Staatswiss. einen
vortrefflichen Ueberblick gibt.
2)
Sozialpol. Schr. S. 228 f.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 141
aussetzung ihres Vollzuges erfordert. Daß die Arbeitszeitverkürzung unter a l l e n
Umständen diese letztere unproduktive Komponente der Ermüdung einschränkt, ist
nach Abbé das entscheidende Geheimnis ihres Erfolges. Die erste der drei in diesen
Ausführungen enthaltenen Behauptungen ist mit der Kraepelinschen Ermüdungslehre
gut im Einklang, aber deshalb auch der gleichen Kritik wie diese selbst (s. o.) ausge-
setzt. Die dritte, die unbedingt Zutreffendes enthält, bezieht sich in ihrer jetzigen For-
mulierung durch Abbé wesentlich auf die von den Gewerbehygienikern sog. »stati-
schen« Arbeiten, d. h. solche, die nicht eine wechselnde An- und Entspannung g r o -
ß e r Muskelsysteme, sondern eine kontinuierliche gleichmäßige H a l t u n g des
ganzen Körpers (vor allem: Gebücktheit, nicht: Stehen an sich), verbunden mit »dy-
namischer« Arbeit (= Bewegung) nur e i n z e l n e r Muskeln fordern: nicht diese
dynamisch arbeitenden Muskeln sind es in diesen Fällen, z. B. bei Bäckern, Schu-
stern, Schlossern, Schmieden, Plätterinnen, vielen Textilarbeitern überhaupt, vor allem
beim Kohlenmachen im Liegen, auch bei der Arbeit in den Schleifereien, welche Er-
müdungs- und eventuell Uebermüdungserscheinungen zeigen, sondern die »statisc
beanspruchten: Krampfadern bei stehend Arbeitenden, Kreuzschmerzen beim Schuster,
Rückenschmerzen beim Bäcker. (Trotzdem wird aber, wo überhaupt die Wahl freistellt,
das stehend Arbeiten meist, weil die (Arbeit so »leichter von Hand geht«, vorgezogen).
Aber nicht schlechthin alle Arbeit ist in dieser Art »statiscgebunden und Abbés For-
mulierung dürfte einer erweiterten mehr p s y c h o logischen Formulierung zugänglich
und bedürftig sein: es ist gewüberhaupt, auch bei »statischer« Arbeit, nicht n u r
die Körperhaltung, sondern teils daneben, teils vornehmlich, die innere psychische oder
psychophysische »Eingestelltheit« auf die Arbeit und die mit ihr als deren Kehrseite
verbundenen Hemmungen aller Art, welche hier in Rechnung zu stellen wären. Es führt
dieser Gesichtspunkt damit wieder in die Nachbarschaft bekannter Fragen der pädagogi-
schen Hygiene: der Frage z. B. wie das passive Zuhören und Stillsitzenmüssen in der
Schule bei sehr extensiver Inanspruchnahme der eigenen »Produktivität« des Gehirns,
wie es die Massenschule mit sich bringt, eigentlich wirkt u. dgl. Es wird sich für die
Schulhygiene kaum behaupten lassen, daß schon abschließende Erfahrungen vorliegen.
Und für die industrielle Arbeit ist die T r a g w e i t e jenes
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 142
Abbéschen Gesichtspunktes, so anerkannt seine Bedeutung an sich ist, für die einzelnen
Industrien noch sehr der Ermittlung bedürftig, die aber, wie gesagt, nicht auf die rein
physiologische Seite der Sache beschränkt bleiben dürfte und vielleicht stets nur ein
sehr relatives Maß von Exaktheit zulassen wird.
Den zweiten Teil seiner Theorie der Arbeitsermüdung endlich: über die Art des Ein-
flusses der Geschwindigkeit des Arbeitstempos, hat Abbé nur ziemlich unbestimmt aus-
gebaut. Von erheblichem Interesse sind dagegen gleichviel ob die Formulierungen
Abbés in ihren Einzelheiten vor der Fachkritik dauernd bestehen werden, seine daran
geknüpften Ausführungen über die »automatische Anpassung« der Arbeit
1)
, denen zahl-
reiche anderweite Erfahrungen entsprechen. In weitgehender Unabhängigkeit vom Wis-
sen und Wollen der Arbeiter vollzieht sich darnach der Kräfteausgleich zwischen Lei-
stung und Erholung derart, daß, bei gegebener Arbeitszeit, die Intensität der Arbeit ei-
nen dem Maß der dabei erzielten E r h o l u n g entsprechenden Grad erreicht. In der
Tat hat man nicht selten den Eindruck, daß das Maß der Arbeitsleistung pro Arbeits-
stunde, wenigstens bei bestehendem A k k o r d l o h n , in ziemlicher Stetigkeit um
ein jeweiliges Optimum herumpendelt, welches hinter der jeweiligen m a x i m a l e n
Leistungsfähigkeit des »psychophysischen Apparates« einer konkreten Arbeiterschaft
um einen Bruchteil zurückbleibt, der, ohne, selbstverständlich, eine konstante Größe
darzustellen, doch in größeren Durchschnitten nicht allzu stark schwankt, sondern sich
lediglich durch Uebungseinflüsse, soweit und solange solche wirksam sein können,
langsam erhöht. Sehr starke Anspannungen der Arbeiterschaft an einem Tage, in einer
Woche, in einem Monat scheinen wir kommen darauf späte zurück – fast stets von ei-
nem Kollaps der Leistung in eine meist etwas rzeren, folgenden Zeitperiode (Tag,
Woche, Monat) abgelöst zu werden. Erst nach dem Schwinden dieser Erschlaffung
pflegt sich der U e b u n g s fortschritt zu zeigen. Und ebenso scheint andererseits bei
absichtlicher Einschränkung der Arbeitsleistung seitens der Arbeiter (»Bremsen«) –
wovon ebenfalls noch zu reden sein wird die effektive Tagesleistung zwar längere
Zeit herabgesetzt, aber dennoch der Uebungsfortschritt nicht ganz gehemmt zu werden:
denn nicht nur pflegt wenn, so oder so, der Anl zum »Bremsen« fortgefallen ist, ein
1)
S. 233 a. a. O.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 143
erhebliche Steigerung der Leistung gegenüber der Zeit vor dem »Bremsesich zu zei-
gen (was ja schon als direkte Folge von »Erholung« erklärlich wäre), sondern auch
w ä h r e n d des »gebremsten«, gemächlicheren, Arbeitens selbst pflegt ein Fortschritt
der Leistung, langsamer allerdings als bei ungebremstem Drauflosarbeiten, stattzufin-
den. Daß im Endeffekt allerdings der Uebungsfortschritt bei »gebremsteArbeiten
g e r i n g e r ist als bei scharfer Anspannung, ist zwar nicht strikt erwiesen, mir aber
in hohem Grade wahrscheinlich. Die Erfahrungen im Zeißwerk beim Uebergang zum
Achtstundentag, wo die Arbeiter anfänglich mit aller Macht »gerannt« waren, um die
nötige Intensivierung zu erzwingen, dann erschlafften und, nach i h r e r Meinung, im
früheren gemächlichen Tempo fortarbeiteten, dabei aber faktisch dennoch um m e h r
als
1
/
9
intensiver arbeiteten, als früher, ist bezeichnend genug, und ich bin n i c h t
überzeugt, daß hier a l l e i n die Abkürzung der von Abbé, als »Leergang« bezeich-
neten »statischeEnergieausgaben, welche durch die kontinuierlich gekrümmte Kör-
perhaltung bedingt sind, und die Verlängerung der Erholungszeit verantwortlich sind.
Es nnen sehr gut auch spezifische »Uebungs«einflüsse i n f o l g e des zeitweiligen
»krampfhaften« Arbeitens mitspielen. Soviel ich an Arbeitskurven von Webern, die ich
tageweise, wochenweise und monatsweise durchrechnete, sehen konnte, pflegt das
»Einarbeiten« in eine neue Sorte bei Akkordarbeit und leistungsfähigen und -willigen
Arbeitern fast stets in einem scharfen Anlauf, auf den eine Erschlaffung folgt, der er-
neute Anläufe und Erschlaffungen sich anschlien, zu geschehen. Unter stetigem
Schwanken wird von den Arbeitern so ein allmählich steigendes Durchschnittsniveau
der Leistung erreicht. Wir werden dies Auf und Ab der Leistungen später näher zu beo-
bachten haben und dann auch sehen, daß, wie es scheint, Arbeiter, welche in der g-
lichkeit dieser Art der s t o ß weisen Willensanspannung und des »flotte Arbeitens
z. B. durch immer erneute Zuteilung schlechter Ketten u n t e r b r o c h e n wer-
den, trotz notorischer Gewissenhaftigkeit a b nehmende Rentabilität zeigen.
Doch davon später. Wir sind mit diesen etwas vorgreifenden Erörterungen bereits bei
der Frage angelangt, ob und wie sich etwa die Arbeitsleistung z w i s c h e n den Ar-
beitstagen und weiterhin zwischen längeren Arbeitsperioden überhaupt verschiebt.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 144
8.
Es ist zunächst zu konstatieren, daß die Schwankungen der Arbeitsleistung der ein-
zelnen Arbeiter bei kontinuierlicher Arbeit gleicher Art von einem T a g e zum an-
dern, wenigstens in manchen Industrien ganz erhebliche und weit größere sind, als man
dies a priori für wahrscheinlich halten würde. Nehmen wir beispielsweise einige mit
Hilfe automatischer Maßvorrichtungen festgestellte Leistungen von Webern
1)
, die sich
jedesmal auf den gleichen Webstuhl, die gleiche Sorte und die gleiche Kette beziehen,
so finden wir, die jedesmalige Durchschnittsleistung = 100 gesetzt, bei einem Arbeiter
folgende Leistungen in aufeinander folgenden Arbeitstagen (5. Juni bis 11. Juli 08):
88,4. 86,7. (Pfingsten) 96,0. 116,4. 115,4. 99,5. 109,5. 100,8. 108,3. 114,6.
106,4. 97,5. 103,2. 113,1. 89,4. 89,4. 76,7. 109,1. 99,3. 91,1. 97,4. 105,4. 96,9.
103,2. 99,8. 84,8. 84,8. 93,7. 106,4. 87,3. (Die Wochen sind durch Gedankenstriche
getrennt.)
Die Differenz zwischen höchster und niedrigster Tagesleistung innerhalb dieser
fünfwöchigen Periode beträgt 39,7 % der Durchschnittsleistung, die Maximalleistung
steht also um 51,7 % der Mindestleistung über dieser. Gleichheit der Leistung in zwei
aufeinander folgenden Tagen kommt zweimal vor, im übrigen aber zeigen sich gerade
zwischen benachbarten Tagen sehr erhebliche Schwankungen, die höchste beträgt
(109,1-76,7 =) 32,4 % der Durchschnittsleistung oder 42,2 % der niedrigen der beiden
aufeinander folgenden Leistungen, der D u r c h s c h n i t t aller Schwankungen von
einem Tag zum andern beträgt 8
3
/
4
% oder rund
1
/
12
der Durchschnittsleistung. Inwie-
weit der für die Leinenweberei sehr wichtige Feuchtigkeitsgehalt der Luft dabei mit-
spielt, zeigt z. B. der Hygrometerstand einer Woche, verglichen mit den Arbeitsleistun-
gen:
Hygrometerstand (Soll-normale = 80) 76 77 70 64 75 76
Arbeitsleistung in % des Durchschnitts: 113,1 89,4 89,4 76,7 109,1 99,3
1)
Der betreffende (westfälische) Betrieb liegt eine Kleinbahnstunde von einer großen Industrie-
stadt in einem stadtartigen Flecken. Bei diesen, wie bei den gleich weiter folgenden Rechnungen
mußten natürlich Wochen, die durch Feiertage unterbrochen waren, ebenso Tage, deren Leistung of-
fenbar durch ein, von dem n o r m a l e n Ablauf des Arbeitsprozesses und vom Willen des Arbei-
ters unabhängiges Ereignis (z. B. einen »Schützenschlag«, der Hunderte von Faden zerreißen und die
Leistung unter Umständen für fast 2 Tage bis an den Nullpunkt drücken kann), ausgeschieden werden.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 145
Der Tiefpunkt der Leistung fällt also allerdings auf den Tag mit (infolge der trocke-
nen Hitze der Außenluft) abnorm ungenügend gelungener Wassersättigung der Werk-
stattluft, ein der beiden nächstniedrigeren auf den zweitungünstigsten Tag, auch steht
die ganze, hygrometrisch ziemlich ungünstig klassifizierte Woche im Durchschnitt um
2,4 % unter der Durchschnittsleistung des Arbeiters. Im übrigen aber sind die Schwan-
kungen davon nicht bedingt. Die hier beobachteten Schwankungen sind keineswegs
abnorm hohe. Es kommen weit stärkere vor. Ein anderer Arbeiter, der die gleiche Sorte
zur gleichen Zeit (10. Juni bis 9. Juli) auf einem 8,4 %, schneller laufenden Stuhl und
n e b e n einer anderen, auf einem zweiten Stuhl laufenden Sorte machte, hatte, in
Prozenten s e i n e s (naturgemäß gegenüber der einstühligen Arbeit merklich niedri-
geren
3)
Durchschnittes, folgende Tagesleistungen:
95,6. 104,4. 88,5. 117,1. 103,3. 99,6. 108,3. 85,2. 98,8. 92,1. 91,6. 110,9. 78,0.
77,8. 93,3. 95,5. – 97,8. 110,8. 110,5. 100,0. 80,1. 121,7. – 96,5. 105,0. 137,5.
Der Unterschied zwischen höchster und niedrigster Leistung beträgt hier (137,5-77,8)
= 59,7 % der Durchschnittsleistung und 76,7 % der niedrigsten Tagesleistung, der höch-
ste Unterschied zwischen den Leistungen zweier aufeinander direkt folgenden Tage be-
trägt (121,7-80,1) = 41,6 % der Durchschnittsleistung und 50,2 % der niedrigeren der
beiden Tagesleistungen, der Durchschnitt aller Unterschiede zwischen je zwei direkt
aufeinander folgenden Tagen beträgt 14,0 % oder fast ein Siebentel der Durchschnitts-
leistung. Nehmen wir die gleiche, in der Wirkung durchschnittlich recht ungünstige
Woche zur Prüfung des Einflusses der Luftfeuchtigkeitsverhältnisse, so ergibt sich:
Hygrometerstand (voll-normaler = 80) 76 77 70 64 75 76
91,7 110,9
78,0 77,8 93,3 95,5
Mithin trifft auch hier die niedrigste aller registrierten Tagesleistungen auf den
g l e i c h e n Tag, wie im vorigen Fall, die zweitniedrigste auf den nächstungünstige-
ren, und die Woche als Ganzes steht mit 7,2 % Minderleistung gegeber dem Durch-
schnitt bei diesem Arbeiter noch ungünstiger da, als bei dem andern (darüber später);
aber die übrigen 5 Wochentage außer den erwähnten erscheinen in dem Maß ihrer
S c h w a n k u n g e n nicht durch jene Wassersättigungsverhältnisse bedingt.
3)
Darüber später.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 146
Bei den übrigen, von mir durchgerechneten Arbeitsleistungen, beträgt der Durch-
schnitt aller Schwankungen zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden Tagen
zwischen 6,83 und 20,9 %, es kommen dabei Maximalschwankungen zwischen zwei
Tagen bis fast 100 % der niedrigeren von beiden Leistungen vor, wobei außergewöhnli-
che, durch Maschinendefekte oder »Sctzenschläge« herbeigeführte Störungen natür-
lich außer Betracht gelassen sind.
Ueber die Gründe dieser starken Schwankungen der Arbeitsleistungen von Tag zu
Tag wird späterhin zu sprechen sein. Hier sollte nur die Tatsache festgestellt werden.
Nur das sei schon hier bemerkt, daß aus Gründen, die im Rohmaterial liegen, die gli-
che Leistung des Leinewebers erheblicheren, von seinem Willen und seiner Tagesdispo-
sition zur Arbeit unabhängigen Schwankungen ausgesetzt ist, als bei anderen Industrien;
die Zahl der Fadenbrüche, welche die Tagesleistung in höchst entscheidender Weise be-
einflußt, hängt durchaus nicht nur von Bedingungen der Werkstattluft, sondern vor al-
lem von der Qualität des Garns und der Sorgfalt, mit der die Kette geschlichtet worden
ist, ab, und ihre Zahl v e r t e i l t sich naturgemäß auch um so unregelmäßiger auf die
einzelnen Tage, je ungleichmäßiger und deshalb ungünstiger es in beiden Hinsichten um
das Rohmaterial bestellt ist. Andrerseits ist das Tempo der Arbeit in immerhin erhebli-
chem Maße nicht von der Eigenart, sondern auch vom Willen des Arbeiters abhängig,
der den Webstuhl abgestellt lassen kann, um an einem Fadenbruch, oder an einer Ver-
wirrung der Kettfäden zu bessern, so langsam er will und zu seiner Erholung braucht. Es
gibt zahlreiche Industrien, bei denen dies in eben solchem oder höherem Maße der Fall
ist, andere wieder, bei denen er immer die gleiche Intensität und Wirksamkeit der
Kontrolle durch die »Meister« vorausgesetzt darin ungünstiger steht, und es wäre sehr
der Mühe wert, die einzelnen Industrien bzw. Arbeiterkategorien einmal sorgsam
d a r n a c h z u k l a s s i f i z i e r e n , wie streng in d i e s e m hier jetzt ge-
brauchten Sinne des Wortes der Arbeiter wirklich »an die Maschine gekettet« ist.
Hier fragen wir vorerst nur, ob sich die schwankende Höhe der Tagesleistungen viel-
leicht zu den einzelnen W o c h e n tagen in Beziehung setzen läßt. In den obigen bei-
den Beispielen wird man davon wohl keine Spur entdecken: die Tagesleistungen schei-
nen
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 147
ohne alle und jede Rücksicht auf die Lage des Tages in der Woche auf- und abzusprin-
gen. Allein vielleicht ergibt sich ein anderes Bild bei Zusammenfassung der Leistungen
größerer Gruppen von Arbeitern. Erinnern wir uns zunächst, was bisher über dies The-
ma gesagt worden ist.
Für die Schwankungen der Arbeitsleistung innerhalb der Woche geht die wohl ein-
stimmige Ansicht der Betriebsleiter dahin, daß der schlechteste Arbeitstag der M o n -
t a g sei: Folge der Sonntags-Gewohnheiten der deutschen Bevölkerung im Gegensatz
zu dem, aus diesem Grunde für die Leistungsfähigkeit der Arbeiter nicht unwichtigen
englischen Sonntag, welcher, in Verbindung mit dem freien Samstagnachmittag, den
Trunk auf diesen letzteren schiebt und seinerseits der Ueberwindung der F o l g e n
des Trunkes dient
1)
. Die Leistung scheint Montags besonders stark gedrückt zu sein ei-
nerseits bei Arbeiten, welche relativ viel Intelligenz erfordern, andererseits bei sehr mo-
notonen Arbeiten. Der letztere Punkt nnte, falls er sich bei exakten Messungen bestä-
tigen sollte, für die Arbeitspsychologie von Bedeutung sein. Die Ansichten über die Ar-
beitsleistung des S o n n a b e n d s gehen auseinander. Man findet sowohl die Mei-
nung, daß dieser Tag oder auch: daß die beiden letzten Wochentage abnehmende Lei-
stung zeigten, wie die andere, daß bei Akkordarbeit die Arbeit am intensivsten am
Schluß der Arbeitswoche sei. Exakte Feststellungen darüber und über die anderen Wo-
chentage fehlen bisher. Das quantitativ recht bescheidene, nur etwas über hundert (statt
sagen wir 10 000) Arbeitswochen umfassende, Material von (in dem schon erwähn-
ten Betrieb) exakt gemessenen Tagesleistungen, welches ich daraufhin durchgerechnet
habe, zeigt für eine Anzahl männlicher Weber folgendes Bild: Setzt man die Durch-
schnittsleistung desjenigen Wochentages, auf dem das Maximum liegt, = 100, so ist die-
ser Tag der M i t t w o c h , und es gruppieren sich um ihn die übrigen Wochentage
wie folgt:
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
93,61 96,45 100 96,79 98,64 99,54
1)
In welchem Grade etwa dadurch die Montagsleistung der englischen Arbeiterschaft höher, und
ob sie so viel höher ist, daß der freie Sonnabend-Nachmittag dadurch m e h r als wettgemacht wird,
könnte nur eine exakte Untersuchung zeigen. Selbstverständlich bedeutete auch die Abschaffung der
zahlreichen katholischen Feiertage für die Arbeitsleistung m e h r als nur die Hinzugewinnung die-
ser Tage selbst als Arbeitstage.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 148
Die Woche würde also eine stärker (Montag-Mittwoch) und eine schwächer (Don-
nerstag-Sonnabend) ansteigende Leistungskurve aufweisen, getrennt durch eine Sen-
kung zwischen Mittwoch und Donnerstag. Zählt man nun ferner in denjenigen Wochen,
in welchen ein einzelner Wochentag sich hinlänglich deutlich durch ein Maximum der
Leistung von den andern Tagen unterscheidet, diese Maximaltage aus, so zeigt sich, d
dieses Wochenmaximum, welches, bei gleichmäßiger Verteilung, für jeden Wochentag
16,6 % der Fälle ergeben ßte, liegt am:
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
in % der Fälle: 10,9 14,1 29,3 15,2 14,1 16,4
Zählt man schließlich (für die gleichen Arbeiter) die einzelnen Tage auf die Häufig-
keit des Vorkommens einer Vermehrung oder Verminderung der Leistung gegeber
dem vorangegangenen Arbeitstage durch, so ergibt sich für diejenigen Fälle, in denen
überhaupt eine hinlänglich deutliche Abweichung sich zeigt, folgendes Bild: Es nahm
die Leistung zu (+) bzw. ab (–) in Prozenten der berücksichtigten Fälle am:
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
+42,3 +66,6 +68,0 +38,8 +56,3 +48,8
–57,7 –33,3 –32,0 –62,2 –43,7 –51,2
Unter diesen (stark ländlich beeinflußten) Bedingungen zeigt also der Montag, der
auch mit ca. 11 % der Arbeitsmaxima einsetzt, gegenüber dem Sonnabend immerhin in
mehr als
2
/
5
der Fälle eine Zunahme und steht also wenigstens in dieser Hinsicht günsti-
ger da als der Donnerstag gegenüber dem Mittwoch. Die eminent günstige Stellung des
M i t t w o c h s als Arbeitstag tritt bei der hlung der Leistungszunahme ebenso wie
bei der hlung der Maxima hervor. Ebenso ist, gemessen an der Relation von Lei-
stungszunahme und Leistungsabnahme, der D i e n s t a g günstig und zwar in höhe-
rem Grade, als dies zur Ausgleichung der Unterbilanz des Montags gegenüber der Lei-
stung am vorhergehenden Sonnabend erforderlich wäre. Jedoch ist die Zunahme von
Dienstag zu Mittwoch noch häufiger als diejenige von Montag zu Dienstag. Donnerstag
erscheint auch dabei als ein Tag, an welchem die Arbeitsleistung in der Mehrzahl der
Fälle eine Neigung zum Erschlaffen zeigt; der Verlust drückt jedoch, wie dies auch in
der Zählung der Maxima hervortritt, diesen Tag nicht ganz auf das Niveau des Dienstag
zurück. Freitag und Sonnabend endlich verhalten sich bei der Zählung der Wochen-
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 149
Maxima anders als bei der Zählung der Leistungszunahmen gegenüber dem vorherge-
henden Tage und wiederum anders bei der Ermittlung der Leistungsprozente der einzel-
nen Tage. Freitag zeigt eine geringere Zahl von M a x i m a , als sowohl Donnerstag
und namentlich Sonnabend, der darin alle Wochentage, außer Mittwoch, übertrifft. Frei-
tag zeigt eine stärkere D u r c h s c h n i t t s h ö h e der Leistung als Donnerstag, da-
gegen eine geringere als Sonnabend, der auch darin dem Mittwoch am nächsten steht.
Dagegen ist die ufigkeit der Z u n a h m e der Leistung gegenüber dem Vortage
bei ihm größer nicht nur als bei Donnerstag (der ja auf das Wochenmaximum folgt),
sondern auch als der Sonnabend, der ein Ueberwiegen der Abnahme zeigt. Das enthält
keinen Widerspruch in sich: es drückt sich darin vielmehr aus: daß die kürzere W e -
b e zeit des Sonnabends, an welchem die letzten (1
1
/
2
-2
1
/
4
) Stunden für Instandhaltungs-
arbeiten verwendet werden
1)
, von derjenigen Minderheit der Arbeiter, welche auf Grund
des im Betriebe bestehenden Lohnsystems (Akkordlohn mit garantiertem Mindestver-
dienst und Prämienzuschlägen für here Leistungen) hohen V e r d i e n s t suchen,
besonders häufig intensiv ausgenützt wird, hrend bei der Mehrheit bereits im Be-
wußtsein des garantierten Lohnminimums ein gewisser Grad von Feiertagsstimmung
zu herrschen begonnen hat. Nun leiden diese Zahlen, mit denen hier gearbeitet wird,
noch an einer erheblichen Unvollkommenheit: sie enthalten in mehr als der Hälfte der
Fälle Messungen an Webstühlen, bei denen der bedienende Weber gleichzeitig noch ei-
nen zweiten Webstuhl (mit eventuell ganz heterogenen Sorten) zu bedienen hatte. Wie
sich dies in den Leistungen ausdrückt, davon wird später die Rede sein. Hier sondern
wir zur Probe noch diejenigen Fälle aus, bei denen Messungen einstühliger Arbeit, wo-
bei also die ganze Arbeitskraft sich auf den einen Webstuhl konzentriert, vorliegen. Für
diese Fälle nun stellt sich die Leistung der Wochentage, den Tag der Höchstleistung zu
100 gesetzt, durchschnittlich wie folgt:
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
92,69 95,61 100 96,91 99,67 99,18
1)
Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß die Tagesleistungen unter Berücksichtigung dieser
schwankenden Stundenzahl der Arbeit an den einzelnen Tagen berechnet sind, also auf den täglichen
durchschnittlichen S t u n d e n leistungen effektiven Webens ruhen.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 150
Die Maximalleistung liegt also auch hier auf dem Mittwoch, ebenso findet sich die
ausgesprochene Senkung zum Donnerstag, dagegen stehen hier Freitag und Samstag
dem Mittwoch näher und zeigt Samstag einen Abschlag gegen Freitag statt einer Zu-
nahme. Daß bei zweistühligem Weben der Samstag günstigere Verhältnisse zeigt im
Zusammenhalt mit der relativ hohen Zahl der Wochenmaxima, die er (s. o.) aufweist,
würde, ren die Zahlen nicht zu klein, aus gewissen später zu erörternden besonderen
Bedingungen, die das zweistühlige Weben schafft, vielleicht erklärlich sein. D der
Montag so viel niedriger einsetzt als im Gesamtdurchschnitt, erklärt sich aus gleich zu
erwähnenden Verschiedenheiten der Zusammensetzung der jedesmal in Betracht kom-
menden Arbeiterschaft. – Die Verhältnisse der Leistungshöhe, Leistungszunahme bzw. -
abnahme und der Leistungsmaxima von Dienstag zu Mittwoch, Mittwoch zu Donners-
tag, Donnerstag zu Freitag nnten recht wohl vorwiegend durch psychophysische (Ue-
bungs-, Ermüdungs-, Erholungs-) Bedingungen bestimmt sein; doch bedürfte es natür-
lich u n g l e i c h umfassenderen Materials, um derartiges auch nur als provisorische
Hypothese aufzustellen. In der von w e i b l i c h e n Arbeitern (jungen Mädchen) be-
dienten Säumerei des gleichen Betriebes sollen nach Angabe des Betriebsleiters die
Verhältnisse bezüglich der Wochentagsleistungen so liegen, daß die Leistungen bis
Mittwoch und teilweise Donnerstag steigen, dann sinken. Ich habe in denjenigen Kon-
tobüchern, die ich einsah, diesen Eindruck bestätigt gefunden, ohne daß ich jedoch das
Zahlenmaterial durchgerechnet hätte. Welches Maß individueller Differenzen ferner
hinter obigen Durchschnittszahlen steckt, zeigt sich z. B. beim Vergleich folgender 7
Arbeiter (a-g) in bezug auf die Wochentage, an denen ihre markantesten Arbeitsmaxi-
ma
1)
lagen. Diese fielen auf: :
bei
Montag
Male
Dienst.
Male
Mittw.
Male
Donnerst.
Male
Freitag
Male
Sonnab.
Male
a) Arbeits-
wochen
b) Gezählte
Maxima
a) 2 3 7 3 6 3 35 24
b) 3 0 7 4 2 5 27 21
c) 4 3 5 3 3 3 27 21
d) 0 1 3 1 0 0 17 5
e) 1 4 2 2 2 2 13 13
f) 0 1 2 0 0 1 5 4
g) 0 1 1 1 0 4 8 7
1)
Es sind (wie oben) nur diejenigen Maxima in Betracht gezogen, welche die n ä c h s t höchste
Leistung um mindestens 3 % überragten.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 151
Ebenso mögen hier für die drei Arbeiter (a-c), bei denen hinlänglich viele Arbeitswo-
chen gezählt sind, um wenigstens die allergrößten Zufälligkeiten auszuschließen, die
Schwankungen der durchschnittlichen Leistung an den Wochentagen wiedergegeben
werden (das Maximum wieder = 100 gesetzt):
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
a) 92,3 96,4 100 97,0 98,4 99,2
b) 90,8 93,3 98,3 95,6 100 96,5
c) 97,2 96,5 100 92,4 89,7 94,7
Alle drei Arbeiter sind landgebürtig, c aber im Gegensatz zu a und b, welche Brü-
der sind, landsässig und überdies der älteste der 7 Arbeiter (40 Jahre), worauf wohl
(infolge der hygienisch zweckmäßigen Verwendung des Sonntags) das wesentlich höhe-
re Einsetzen seiner Montagsleistung zurückzuführen ist. (Der ebenfalls landsässige Ar-
beiter e setzt Montags gleichfalls ziemlich hoch ein, erreicht sein Maximum statt am
Mittwoch schon am Dienstag und dann, nach starker Senkung, erneut am Freitag.) Von
der früher vorgeführten Verteilung der beträchtlichsten Maxima über die Wochentage
weichen die Arbeiter a, b und c (ebenso e) auch hier hauptsächlich bezüglich des Frei-
tags und Samstags ab aus den schon erörterten Gründen. Im übrigen gelten a und b als
chtige und kftige, aber langsame, f und g. (beide stadtsässig und -gebürtig) als sehr
geschickte, etwas unstetere, c und d als nur mittelmäßig kftige und relativ wenig ge-
schickte, e endlich als ein besonders gewissenhafter und gleichmäßiger, wenn auch
nicht sehr schneller Arbeiter
1)
; b, f, g waren Gewerkschaftler.
Im übrigen soll die persönliche Eigenart der Arbeiter in ihrem Einfluß auf die Wo-
chenkurve natürlich nicht verfolgt werden.
1)
Des Vergleiches halber sei schließlich noch die Wochenkurve einer der tüchtigsten Arbeiterin-
nen, welche der gleiche Betrieb je gehabt hat (und welche, zweistühlig, an demselben Stuhl und der
gleichen Sorte arbeitete, wie, zeitweise, der Arbeiter d), hergesetzt:
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
91,4 96,2 100 95,4 99,6 95,6
Wesentliche Unterschiede gegenüber der typischen Wochenkurve der männlichen einstühligen Ar-
beiter bestehen ersichtlich nicht; der Montag setzt eher noch tiefer ein als bei diesen, was doch darauf
schlien läßt, daß nicht n u r der Alkohol bei den Mindestleistungen dieses Tages im Spiele ist: das
durch Heirat abgegangene Mädchen war zur Zeit der obigen Arbeitsleistungen bereits verlobt und der
Einfluß des Sonntags dürfte also auch bei ihr nicht gerade als eine »Erholung« ins Gewicht gefallen
sein. Wir werden dem Einfluß erotischer Strapazen noch weiterhin begegnen und ihn auch an dem
Beispiel dieser Arbeiterin erläutern.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 152
Denn individuelle Differenzen an so winzigen Zahlen illustrieren zu wollen, nnte al-
lenfalls im Z u s a m m e n h a l t mit a l l e n anderen Eigenarten des Verhaltens
der betreffenden Arbeiter bei der Arbeit (worüber später einiges) einen gewissen Sinn
haben, natürlich auch dann nur für die Verhältnisse dieses Betriebes und nur bei größter
Vorsicht.
Die vorstehenden Notizen nnen daher auch unmöglich schon die Existenz einer in
irgendeinem Sinne »typischen« Wochenleistungskurve beweisen wollen, die ja viel-
leicht für jede Industrie (je nach der Art der Arbeitsanspannung), ferner für Stadt und
Land (Art und Maß der Sonntagsvergnügungen und des Alkoholverbrauches), endlich
geographisch und ethnisch stark abweichenden Bedingungen unterliegt. Hier soll nur
die M ö g l i c h k e i t und Nützlichkeit solcher Rechnungen überhaupt illustriert
werden. – Bei Industrien mit elektrischem Antrieb kann die Schwankung der Gesamtlei-
stung natürlich mit Leichtigkeit, durch das Schwanken des Stromverbrauchs nach Wo-
chentagen gemessen werden. Daß die Verwertung dieses Maßstabes die genaue Berück-
sichtigung der jeweiligen Art der Beschäftigung und zahlreicher anderer betriebstechni-
scher Momente erfordert, versteht sich. Und jedenfalls sollte das Eindringen in die viel-
leicht ziemlich verschiedenen Arten des Sachverhaltens der einzelnen Arbeiterkategori-
en, nach Art der Beschäftigung und nach Provenienz, wenn irgend möglich, versucht
werden, jedenfalls dann, wenn die Arbeiterschaft in diesen Hinsichten starke Gegensät-
ze in sich schließt. Denn die glichkeit, daß in der Art der Gestaltung der Wochenlei-
stungskurve sich t y p i s c h e Differenzen äußern
1)
, ist wenigstens a priori nicht aus-
zuschließen.
1)
Es sei hier nur noch auf die von Bille-Top a. a. O. mitgeteilten Zahlen über die Unfallverteilung
über die Wochentage in Kopenhagen (aus seiner Privatpraxis) aufmerksam gemacht (1898-1907):
Montag Dienstag
Mittwoch Donnerstag Freitag
Sonnabend
Männer: 50 46 34 34 33 43
Frauen: 4 10 12 10 9 13
Die Sonnabendzahl ist Folge des Alkohols (Freitag ist Löhnungstag), das verschiedene Verhalten
von nnern und Frauen in den ersten Wochentagen ebenfalls Folge der größeren gesundheitlichen
Strapazen des Mannes gegenüber der Frau. Ich unterlasse es des Raumes halber, meinerseits auf die
offiziellen statistischen Feststellungen (Unfallstatistiken) einzugehen, deren Bedeutung für die Frage,
der »Uebermüdung« ja wiederholt diskutiert worden ist.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 153
9.
Ueber die Schwankungen der Leistungen je nach den J a h r e s z e i t e n liegen
mancherlei Behauptungen, aber kaum irgendwelches e x a k t e Material vor. Die all-
gemeine Tatsache, daß in Betrieben mit starker Hitzeentwicklung (speziell in der Eisen-
gießindustrie, Glasbläserei usw.) die S o m m e r leistung ebenso zurücksteht, wie dies
in der Textil-, namentlich der Leinentextilindustrie bei Trockenheit, insbesondere also
da dann die richtige Temperierung und Wassersättigung der Binnenluft am schwierig-
sten ist – bei t r o c k e n e r Hitze im Sommer der Fall ist, steht fest. Die Ansicht, d
in gut geheizten und v e n t i l i e r t e n Fabrikräumen im Winter überhaupt weit bes-
ser gearbeitet werde als im Sommer, ist darüber hinaus auch bei Fabriken sehr vieler
Branchen, bei welchen nicht wie in der Textilindustrie direkte Einflüsse auf das
Rohmaterial mitspielen, verbreitet und dürfte oft, aber keineswegs immer zutreffen. Z.
B. in Gewerben, bei denen die Leistung des Auges eine starke Rolle spielt, drückt in den
dunklen Monaten die künstliche Beleuchtung nicht selten auf den Effekt (so in der
Stahlfederindustrie, wo teilweise aus d i e s e m Grunde der Achtstundentag einge-
führt wurde). Die Verhältnisse bedürften auch hierin für jede einzelne Industrie geson-
derter Betrachtung.
Sehr sorgfältig müßte aber bei dem Versuch einer Feststellung von Schwankungen
zwischen den einzelnen Jahreszeiten und Monaten, überhaupt zwischen größeren Zeit-
räumen, die Wirkung der allgemeinen g e s c h ä f t l i c h e n Konjunkturen und des
davon abhängigen Beschäftigungsgrades der Betriebe beachtet werden, die eine Beob-
achtung des Einflusses der Jahreszeit, rein als solcher, auf die Arbeitsleistung sehr er-
schweren, da ihre Konjunkturschwankungen stets sich auch in Schwankungen des Ma-
ßes der Ausnützung der Arbeitskräfte äußern. Teils direkt so, daß der Betrieb »bremst«,
d. h. das Höchstquantum der fertigzustellenden Produkte »kontingentiert«. Dies ge-
schieht, wenn die Einschränkung der Arbeits z e i t in Depressionszeiten nicht die er-
wünschte Verringerung der Produktion herbeiführt, sondern wie dies in zahlreichen
mir bekannten Fällen geschah durch gesteigerte Intensität der Arbeit von der (im Ak-
kord beschäftigten) Arbeiterschaft wettgemacht wird, während gleichzeitig die Qualität
der Arbeit infolge des zu hastigen Arbeitens sinkt. Teils
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 154
wirkt die Konjunkturschwankung indirekt: bei schlechter Konjunktur, wo jeder Abneh-
mer ein weiteres Sinken der Preise erwartet, pflegen die Aufträge im Durchschnitt ei-
nerseits weit kleinere Posten zu umfassen, andererseits erst im letzen Moment dringlich-
sten Bedarfs, also: mit kürzerer Lieferungsfrist, gegeben zu werden: so in typischer
Weise in der Textilindustrie, und andererseits pflegen in solchen Zeiten die Betriebe
auch Aufträge, die sonst außerhalb ihres regulären Tätigkeitskreises liegen, zu über-
nehmen so z. B. in großen Teilen der Maschinenindustrie, bei der jede Depression die
Tendenz hat, die Spezialisierung herabzudrücken. Wo ferner die Fabriken direkt mit den
Detaillisten verkehren und daher weil der einzelne Detaillist naturgemäß sein ganzes
Sortiment möglichst von einem oder wenigen Lieferanten zu beziehen verlangt, um sei-
ne Korrespondenz und Kalkulation zu vereinfachen zu größerer Vielseitigkeit ihrer
Produktion genötigt sind, als beim Verkehr mit dem Engrossortimenter, dessen Dazwi-
schentreten ja (so in England) der einzelnen Fabrik es erst ermöglicht, sich auf die Her-
stellung einer Spezialität zu beschränken, da steigert sich die Buntscheckigkeit der
Produktion in Krisenzeiten, mindestens relativ zur Größe der Aufträge, noch weiter. M.
a. W.: die Depressionen wirken in all diesen Fällen einerseits im Sinn der Rückbildung
zu geringerer Spezialisierung, andererseits erzeugen sie unstete und dabei hastige Ar-
beit. Sie drücken so teils auf die Quantität (durch häufigen Wechsel der Beschäfti-
gungsart der einzelnen Arbeiter), teils auf die Qualität der Arbeitsleistungen und also
auch: der Akkordverdienste. Auf der anderen Seite ist in zahlreichen Fertigfabrikat-
Industrien der Arbeiter in der glichkeit, seine Leistungen und Verdienstchancen zu
verbessern, an gleichmäßige und gute Qualität des von ihm verarbeiteten Rohmaterials
bzw. Halbfabrikats gebunden. Im Falle von Hochkonjunkturen aber, wo z. B. die Spin-
nereien sich vor Aufträgen seitens der Webereien nicht zu lassen wissen und in der Lage
sind, die Bedingungen, unter denen sie Garn hergeben, zu diktieren, zwingen sie den
letzteren und ebenso jeder im Produktionsprozeß vorangehende Produzent den nach-
folgenden die Abnahme von Ware auf, die in normalen Zeiten nie abgenommen wer-
den würde. Die Konsequenz davon so beispielsweise in ganz typischer Weise die
Garnqualitätsverschlechterung fällt, vereint mit der hastigen Arbeit der Hochkonjunk-
tur, wiederum zum erheblichen Teil
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 155
auch auf die Leistung (und damit: den Akkordverdienst) der Arbeiter der weiterverar-
beitenden Industrie zurück. Dies bildet in Hochkonjunkturen einen wirksamen Streikan-
reiz und später, in den ersten Zeiten der Depression, wo das in der Hochkonjunktur not-
gedrungen abgenommene schlechte Material verarbeitet werden muß, den Grund von
weiteren Minderverdiensten. Die beliebte Vorstellung, daß »der Unternehmer das Risi-
ko des Betriebes trage«, ist auch im streng ökonomischen Sinne durchaus unrichtig:
nicht nur macht sein Konkurs auch die Arbeiter brotlos, sondern j e d e r Fehler, den
er bei der Beschaffung der Arbeitsmaschinen und Rohmaterialien begeht, fällt in seinen
Konsequenzen ebenso auch auf die Arbeiter zurück, wie die Art und das mehr oder
minder gute Funktionieren des Absatzapparates. Alle diese mit hineinspielenden Mo-
mente erschweren die Feststellung, inwieweit zwischen l ä n g e r e n Zeiträumen
sich, sei es klimatisch, sei es physiologisch bedingt, Schwankungen der Arbeitsleistun-
gen vollziehen, für viele Industrien ungemein. Exaktes Material liegt darüber nicht vor,
auf einige hierhergehörige Fragen kommen wir später zurück. –
Wie die ökonomischen, so wirken auch die s o z i a l e n Konjunkturen in denjeni-
gen Industrien, welche den Arbeitern die Beeinflussung des Produktionsergebnisses ge-
statten, auf die Leistung. Daß die »Gesinnung« der Arbeiterschaft und insbesondere ihre
jeweiligen Beziehungen zum Unternehmer die Leistung beeinflussen, wird, freilich oh-
ne exakten Nachweis, sehr bestimmt berichtet
1)
. Die Klagen ferner über das »Bremse
der Arbeiter sind an sich alt, aber sie haben sich im Lauf des letzten Jahrzehntes un-
zweifelhaft gesteigert, wie es scheint, ziemlich genau parallel: 1. der zunehmenden Ra-
tionalisierung der Lohnsysteme zwecks planmäßiger Steigerung der Leistung, und 2.
wohl auch der, zufolge der stets verbesserten Organisation der Arbeitgeber, wenigstens
in vielen Industrien zunehmenden Ungunst der Streikchancen. Wenn in den Klagen der
Unternehmer die Gewerkschaften, vor allem die freien Gewerkschaften, für das Um-
sichgreifen des »Bremsens«, das heißt: der bewußten Einschränkung der Arbeitsleistung
seitens des Arbeiters, verantwortlich gemacht werden, so ist diese Betrachtungsweise,
soviel sich heute urteilen läßt,
1)
So C. J. Wentworth Cookson (Australien), über dessen mir im Original nicht zugänglich gewe-
sene Aeußerung u. a. die »Soziale Praxis« 1902, S. 890, zu vergleichen ist.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 156
wahrscheinlich eine viel zu äußerliche. Das »Bremsen«, nicht nur das unwillkürliche,
stimmungsmäßige, sondern das bewußte und absichtsvolle, findet sich auch beim Feh-
len aller gewerkschaftlichen Organisation überall da, wo irgendein M von Solidari-
tätsgefühl in einer Arbeiterschaft oder doch einem hinlänglich bedeutenden Teil ihrer
existiert. Es ist vielfach, ganz allgemein gesprochen, die Form, in der eine Arbeiter-
schaft, bewußt und hartnäckig, aber wortlos, mit dem Unternehmer um den Kaufpreis
für ihre Leistung feilscht und ringt. Es kann sowohl die Erzwingung höherer Akkordsät-
ze, wie, bei gleichbleibenden Akkordsätzen, die Erhaltung des traditionellen Tempos
der Arbeit zum Zweck haben, wie endlich der Ausdruck einer ihrer Provenienz nach
mehr oder minder deutlich bewußten allgemeinen Mißstimmung sein. Wo es das Mittel
der »Akkordpolitik« der Arbeiterschaft ist, stellt es die unvermeidliche Reaktion dar auf
die ebenso unvermeidliche Akkordpolitik des Unternehmers, deren Folge die Arbeiter-
schaft kontinuierlich am eigenen Leibe spürt. Eine deutsche Leinenweberei von mittle-
rer Vielseitigkeit der Produktion stellt (wenn man die Dinge wie den Flächeninhalt der
Taschentücher und die Art und Breite ihrer ume als »Sorten«unterschiede einrech-
net), Oft 3-400 verschiedene Sorten von Waren her, und wenn auch ein erheblicher Teil
jener Unterschiede für Art und Maß der Inanspruchnahme der Arbeiter und also auch
für die Bemessung des Lohnes irrelevant ist, so muß sie doch immerhin, unter Berück-
sichtigung der Unterschiede in der technischen Ausrüstung ihrer Webstühle (z. B. des
Grades, in welchem durch mechanische Vorrichtungen zum Abstellen bei Fadenbrüchen
und zum Wiederfinden der gerissenen Fäden die Aufmerksamkeit entlastet und Zeit ge-
spart wird), der Unterschiede der Gewebe nach Zusammensetzung (Leinen, Halbleinen,
Feinheit der Garne), Breite und Dichtigkeit (Zahl der Schüsse auf den Zentimeter) usw.
im ganzen über 200 verschiedene Akkordsätze » r i c h t i g « kalkulieren. D e r -
a r t , heißt das, kalkulieren, daß der bei mittlerer Anstrengung mögliche Arbeitsver-
dienst bei den einzelnen Sorten keine allzu augenfälligen Unterschiede aufweist, gegen
welche die betreffende K l a s s e von Arbeitern also etwa: die Weber sehr bald mit
dem Verlangen nach Erhöhung auch aller übrigen Akkordsätze reagieren würde. Die
Kalkulation der Akkordsätze kann aber wenn man sie nicht einfach aus den Tabellen
der Konkurrenten abschreiben will (und
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 157
kann) naturgemäß nur erfolgen, wenn ungefähr übersehbar ist, was der Durchschnitt
der betreffenden Arbeiterschaft zur Zeit in den einzelnen Sorten zu leisten vermag bzw.
nach hinlänglicher Uebung künftig zu leisten vermögen wird.
Die Zeiten, in welchen erstmalig eine Serie von Akkordsätzen für bestimmte Lei-
stungen zu kalkulieren begonnen wird, namentlich also bei Einführung zahlreicher neu-
er Sorten, sind daher meist kritische Zeiten, sobald die Arbeiterschaft bemerkt, was die
Uhr geschlagen hat. Auch ohne alle gewerkschaftliche Organisation pflegt alsdann, bei
hinlänglich entwickelter Solidarität, systematisch »gebremst« zu werden, um die Fest-
setzung höchstmöglicher Akkordsätze durchzusetzen. Gelingt es, so schnellt die Lei-
stung so in höchst bezeichnender Weise bei den dchen der herei des oben er-
wähnten Betriebes alsbald in die he: der Unternehmer ist dann, wenn er eine gene-
relle Erhöhung des Lohnniveaus hintanhalten will, genötigt, das, für seine eigenen In-
teressen immer bedenkliche, weil Streik oder doch erneutes Bremsen, oder aber eine für
die Leistung (s. u.) und Arbeiterrekrutierung ungünstige Mißstimmung erregende, Mit-
tel der Akkordherabsetzung anzuwenden. Handelt es sich nur um einzelne neue Sorten,
dann ist es natürlich leichter, anfänglich »zu günstig« für den Arbeiter kalkulierte Ak-
korde durch gelegentliches Umlegen der Sorte auf einen anderen Stuhl mit entsprechend
veränderten Sätzen zu drücken. Jenes »akkordpolitische« Bremsen, d. h. dasjenige, wel-
ches überhaupt den Z w e c k der Einwirkung auf die Akkordfestsetzung (und nicht
rein traditionalistische oder ökonomisch irrationale) Ursachen hat, verläuft, wenn es von
breiteren Arbeiterschichten solidarisch durchgeführt wird, ähnlich wie der Streik (des-
sen Surrogat es ja oft genug ist) dann verlaufen w ü r d e , wenn es keine »Arbeitswil-
ligegäbe: es fragt sich, wer länger warten kann. Im Gegensatz zum Streik erfordert es
keinen Apparat einer förmlichen Organisation und keine Kassen, die Arbeiter setzen
sich nicht nzlich aus dem Brot, sondern schränken ihren Verdienst nur ein, und ihre
taktische Lage ist dabei auch insofern im Verhältnis zum Streik günstiger, als der Geg-
ner keineswegs immer in der Lage ist, dem einzelnen nachzuweisen, daß und wie stark
er tatsächlich »gebremst« hat: und eine formell ganz grundlose Entlassung eines nicht
notorisch leistungsunfähigen Arbeiters wegen angeblichen »Bremsens« würde, wo die
Arbeiterschaft
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 158
nicht gänzlich machtlos ist, eine Belastung mit einem nicht gern getragenen Odium für
den Unternehmer bedeuten. Ansteigende Konjunkturen, und vor allem: Erweiterung der
Produktions r i c h t u n g des Betriebes sind die spezifischen Indikationen für das
Bremsen. Der Kreis von Arbeitern, den es im Einzelfall ergreift, und dementsprechend
seine Tragweite, kann verschieden groß sein. Ebenso natürlich der Erfolg. Mit Zunahme
der Macht der Arbeitgeberverbände wird es, auf Kosten des aussichtsloser werdenden
Streiks, wohl an Boden gewinnen. Seine heutige Frequenz wird sicherlich von seiten der
Unternehmer oft stark übertrieben. Immerhin darf man sie auch nicht unterschätzen. Ein
hervorragend leistungsfähiger Arbeiter der mehrfach zitierten Weberei, Vertrauensmann
einer Gewerkschaft, führte in einer Zeit, wo von der Arbeiterschaft der Abschluß eines
Tarifvertrages angestrebt wurde, nicht nur nach Angabe der betreffenden Meister, son-
dern auch nach Ausweis seiner (späterhin noch eingehender zu analysierenden) Lei-
stungskurve, das Bremsen während eines Zeitraums von etwa 7 Monaten (Juni bis Janu-
ar) systematisch durch, dergestalt, daß seine Leistung hinter dem, was er, gemessen an
der Entwicklung seiner Qualitäten in den 9 vorangegangenen Monaten, bei voller An-
spannung hätte leisten können, um reichlich 15 %, sein Lohnverdienst gegen den für ihn
bequem möglichen um reichlich 10 % zurückblieb
1)
. Da die
1)
Die durchschnittliche Tagesakkordleistung setzt im Oktober 1906 mit 80,3 %. des Soll-Normale
(Anm. S. 159) ein und verläuft, zunächst durch Uebung ansteigend, in Dreimonatsabschnitten folgen-
dermaßen: November-Dezember-Januar: 95,3 %, Februar-März-April: 114,3, Mai-Juni-Juli (ge-
bremst): 89,0, August-September-Oktober: 94,0, November-Dezember-Januar (1908): 92,6. Die
Halbmonats- bzw. Monatszahlen sind: Oktober 1906: 80,3, November (1. Hälfte 95,0, 2. lfte 96,6):
95,6, Dezember (1. lfte 88,6, 2. Hälfte 94,3): 91,3, Januar 1907 (94,1, 103,3): 98,6, Februar (107,1,
117,6): 112,3, März (98,6, 125,6): 112, April (107,0, 132,0): 119,1, Mai (77,6, 105,3): 91,3 (Kollaps
infolge Sortenwechsel, technischer Aenderungen am Stuhl). Juni (85,3, 89,3): 87,3 (Beginn des
Bremsens). Juli (87,0, 89,6): 88,3, August 97,0, September 94,6, Oktober 93,6, November 90,3, De-
zember 101,3, Januar 1908: 86,6. Ueber die Art der Berechnung und die Gründe der auffälligen
Schwankungen zwischen den einzelnen Monaten, namentlich die Einflüsse von Kettenqualitäten und
Sortenwechsel, später Näheres. Erst aus der sorgsamen Berücksichtigung aller verschiedenen in Be-
tracht kommenden Momente kann sich ein klareres Bild ergeben. Der Einfluß des »Bremsens« tritt ne-
ben dem Sinken der he der Leistung namentlich darin hervor, daß bei der »gemächlichen« Arbeit
die S c h w a n k u n g e n der Leistung (seit Juni 1907) sehr viel geringer waren, als in der Zeit,
wo der Arbeiter nach dem Maximum des Verdienstes strebte und daher Perioden sehr hoher Leistung
mit augenscheinlichen Erschlaffungsperioden abwechselten. Diese Stetigkeit tritt um so auffälliger
hervor, als gleichzeitig bei der Mehrzahl der
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 159
Solidarität
der Arbeiterschaft bei dem schlilich von ihm herbeigeführten offenen
Bruch versagte, war dies »Bremsevergeblich gewesen Die spätere Analyse der Lei-
stungskurve jenes Arbeiters wird zeigen, wie schwierig bei dem Hineinspielen zahlrei-
cher anderer Momente die einigermaßen sichere Bemessung des Einflusses des Brem-
sens selbst beim Einzelnen ist. Und das gilt natürlich auch und erst recht für eine Mehr-
heit von Arbeitern. Im vorliegenden Fall zeigt der monatliche Durchschnitt der Tages-
Akkordleistung der meisten während der betreffenden Zeit kontinuierlich und gleichar-
tig beschäftigten Arbeiter in den Spätherbst- und Wintermonaten 1907/08 d. h. h-
rend der Zeit der lebhaftesten Agitation eine auffällige Baisse, und zwar sowohl bei
den weiblichen Webern im ganzen, ferner sowohl bei den breitstühligen Webern wie bei
den Taschentuchweberinnen je besonders. ngel des in der Zwangslage der Hochkon-
junktur den Spinnern abgenommenen Materials und, in einem noch höheren Grade, die
Einführung bzw. vermehrte Produktion neuer Sorten, haben entscheidend mitgewirkt
(darüber später), erklären aber vielleicht nicht ganz, daß die in reinem Akkord berechne-
te Tagesleistung, welche im Durchschnitt der Zeit vom August 1907 bis August 1908
bei den Webern auf 85,0 %, bei den Weberinnen auf 71,0 % und im September bei den
Webern auf 85,6, bei den Weberinnen auf 76,6 % des als Soll-Normale des Verdienstes
der nner geltenden Satzes
1)
gestiegen war, dann aber die Neigung zum Sinken zeigt,
im Februar nach der Entlassung jenes Arbeiters auf dem Tiefpunkt: 79,6 bzw. 64,0
% anlangte, um im März auf 83,0 bzw. 74,0 % zu steigen, im April einen Höhepunkt
2)
von 91,6 bzw. 78,0 % zu erreichen und von da aus dann sich wieder dem alten Durch-
schnitt zu nähern. Die meteorologischen Verhältnisse pflegen, wie schon bemerkt, in
der Weberei wesentlich im Sommer, wo
nicht mitbremsenden anderen Arbeiter, infolge des im Juli 1907 von der Betriebsleitung eingeführten
Prämienlohnsystems, die Schwankungen der durchschnittlichen Tagesleistungen in den einzelnen Mo-
naten (aus später zu erörternden Gründen) sich s t e i g e r t e n und die Durchschnittsleistung
stieg, hrend der »bremsende« Arbeiter seine Leistung ersichtlich möglichst unterhalb des garantier-
ten Lohnminimums hielt.
1)
Dies Soll-Normale ist zugleich der g a r a n t i e r t e Minimallohn, bei dessen Uebersteigen
durch die Akkordleistung Prämien gezahlt werden.
2)
Folge teils von »Erholungs«-Einflüssen als Konsequenz des gemächlicheren Brems-Arbeitens,
teils von Uebungseffekten, teils endlich von (gegenüber dem Sommer) günstigeren hydrographischen
Verhältnissen (s. später).
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 160
die Erhaltung der Binnenluft der ume auf dem nötigen Feuchtigkeitsgehalt Schwie-
rigkeiten macht, in fühlbarer Weise mitzuspielen, weit weniger oder fast gar nicht im
Winter. Im Februar 1908 könnte freilich die starke Kälte bei teilweise beträchtlichen
Wegen zur Fabrik die Handgelenkigkeit herabgesetzt haben, aber noch der ebenfalls
sehr kalte Januar stand auf 85,0 bzw. 66,3 %, also, namentlich bei den Männern, ganz
wesentlich höher. Die von der Fabrikleitung für einen Teil des Winters als wahr-
scheinlich betrachtete Beeinflussung der Leistung durch die sozialpolitische Konjunk-
tur darf also wenigstens als möglich und plausibel, wenn auch nicht als streng erweis-
lich, gelten.
Da diese Erörterungen die Frage des Zusammenhangs des politisch-sozialen, sagen
wir: des »weltanschauungsmäßigen« Gesamthabitus der Arbeiterschaft mit ihrer Lei-
stung nun einmal gestreift haben, mag hier noch einen Augenblick bei der Frage des
Zusammenhangs jener Momente mit der R e n t a b i l i t ä t der Arbeiter verweilt
werden. Hinlänglich unbefangene Unternehmer pflegen bei der Frage nach der Qualität
der sozialdemokratischen Gewerkschaftler als Arbeiter mit großer Regelmäßigkeit, in
unter sich sehr verschiedenen Industrien, einzuräumen: daß sie, ihrer Leistungs f ä -
h i g k e i t nach, normalerweise an der Spitze aller Arbeiter marschieren (natürlich
nicht: jeder sozialistische Gewerkschaftler als solcher: das wäre Unsinn, sondern: der
»Typus« der vom G e w e r k s c h a f t s standpunkt aus »gesinnungstüchtigsten« von
ihnen). So z. B. selbst in der so gewerkschaftsfeindlichen rheinisch-westfälischen Eisen-
industrie, wie auch Jeidels bezeugt. Im Fall des vorliegenden Betriebes trifft dies, im
wesentlichen, gleichfalls zu. Die s ä m t l i c h e n männlichen Arbeiter, die von der
Betriebsleitung als besonders »stramme Gewerkschaftler« bezeichnet wurden, zeigen
Rekordleistungen, die absolut besten Arbeiter des Betriebes finden sich, so viel ich se-
hen konnte, mit nur einer Ausnahme unter ihnen. Nicht nur war der erwähnte, im Kon-
flikt ausgetretene Arbeiter vielleicht der leistungsfähigste des Betriebes, sondern sowohl
bei den breitstühligen wie bei den schmalstühligen Webern stehen Gewerkschaftler mit
ihrer Leistung unbestritten an der Spitze und stark über dem Durchschnitt
Wieder ein anderes Bild zeigen die weiblichen Arbeiter. Bei ihnen scheinen die Ar-
beiterinnen, welche dem Kreise pietistischer Konventikel entstammen, qualitativ beson-
ders hervorzutreten.
7.-9. Schwankungen der industriellen Arbeitsleistung. 161
Es ist wohl unmöglich ein Zufall, daß die beiden Arbeiterinnen welche es in den beiden
Abteilungen der umerei (Glatt- und Hohlsäumerei) zu Meisterinnen gebracht haben
darunter eine, obwohl
1)
sie nach Herkunft und Wohnsitz vom platten Lande kommt –,
jenen religiösen Kreisen angehörten, daß ferner die beiden Taschentuchweberinnen,
für welche das gleiche zutrifft, z. B. in der Zeit vom August 1907 bis August 1908 mit
98,0 bzw. mit 99,6 % reinem Akkordwert
2)
ihrer durchschnittlichen Tagesleistung, ge-
genüber 71 % (s. o.) bei den übrigen in dieser Zeit kontinuierlich beschäftigten Webe-
rinnen, um 38 bzw. 39 % des Durchschnitts konkurrenzlos über ihm standen
3)
, und
daß endlich in der verantwortlichen und schwer kontrollierbaren Schlichterei ebenfalls
pietistische Arbeitskräfte figurieren. Das Meiden der Tanzböden und ähnlicher vom
»Pietismus« verpönter Vergnügungen, die Folgen der »protestantischen Askese« m. a.
W. und des durch sie erzeugten innerlichen Verhaltens zur »gottgewollteBerufsar-
beit, sprechen sich in solchen Erscheinungen deutlich aus. Und ebenso tritt der alte, im
religiösen Sinn des Wortes, »individualistische« und zugleich patriarchale, im ganzen
spezifisch »arbeitswillige« Zug der religiösen Stimmung in der Feindschaft aller dieser
Kreise gegen alles Gewerkschaftlertum hervor. In derartigen Anschauungen und Ge-
wohnheiten erzogene Arbeitskräfte sind natürlich für den Unternehmer äußerst renta-
1)
Denn der nkel des »Städters« gegenüber dem »paganus«, wirkt auch in diesen Kreisen (ob-
wohl der Ort des Betriebes keine Stadt, sondern ein Dorf mit sozialem Stadt c h a r a k t e r ist) so
stark, daß dies Avancement fast eine Art von Revolte provozierte und Austritte erfolgten.
2)
Es wird der Einfachheit halber s t e t s die m ä n n l i c h e Norm zugrundegelegt. Die an-
gegebenen Prozente sind also Prozente von d i e s e r , d. h. von dem den Männern garantierten Mi-
nimallohn pro Tag.
3)
Die Größe des Leistungsunterschiedes zeigt sich ganz direkt meßbar, z. B. darin, daß d i e -
s e l b e Kette, mit welcher eine andere (31jährige und schon längere Zeit im Akkord stehende) Ta-
schentuchweberin im 2. Monat z w e i stühlig in 13 Tagen 43 Dutzend fehlerhafte Ware »Qualität
III« erzeugte, nachdem sie der zweiten der im Text genannten »Pietistinne (27 J. alt) unter gleichzei-
tiger Akkordherabsetzung übertragen war, im 2. Monat, neben noch d r e i anderen Stühlen, in
ebenfalls 13 Tagen ebenfalls 43,1 Dutzend Ware der »Qualität II« ergab. Es braucht wohl kaum ge-
sagt zu werden, daß natürlich ebensowenig wie j e d e r Gewerkschaftler schon als solcher, so auch
nicht etwa j e d e Pietistin (oder wohl gar: n u r eine solche) eine tüchtige Arbeitskraft darstellt.
Davon ist keine Rede, aber die beobachteten Erscheinungen sind wohl trotzdem charakteristisch ge-
nug. (Ein ihrer physischen und psychischen Veranlagung spezifisch »unbegabtes«, weil langsames,
pietistisches Mädchen wurde mit gutem Erfolg, von der Taschentuchweberei an die wesentlich mehr
G e w i s s e n haftigkeit erfordernden schmalen Leinenstühle versetzt.)
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 162
bel und vom Standpunkt seines Interesses aus ist der charakteristische Umstand, daß bei
den männlichen Arbeitern d i e s e Macht der Kirchlichkeit durchweg im Absterben
begriffen ist, äußerst bedauernswert, obwohl ausdrücklich mitgeteilt wurde, daß gerade
die tüchtigste jener »pietistischen« Arbeiterinnen durch ein ungewöhnlich schroffes
aber eben durchaus »individualistisch« sich äußerndes Rechtsgefühl und eine hartnäk-
kige Vertretung ihrer Ansprüche auffalle. Man wird sehr sorgsam zu untersuchen haben,
inwieweit derartige Erscheinungen heute noch generelle Geltung haben, daß sie als
Residuen der Vergangenheit in den größeren Zusammenhang hineingehören, in wel-
chem ich diese Dinge an anderer Stelle zu analysieren versucht habe und also immerhin
in gewissem Maße für die in der Frühepoche des gewerblichen Kapitalismus wirksam
gewesenen Kräfte charakteristisch sind, ist m i r sehr glaubhaft
1)
.
Während für diese »pietistischen« Kreise es als in ziemlich erheblichem Grade wahr-
scheinlich gelten darf, daß die Erziehung in einer bestimmten »Weltanschauung« in
starkem Me an der Entwicklung der Arbeitsleistung beteiligt wenn auch natürlich
nicht das ganz a l l e i n Ausschlaggebende ist, kann natürlich für die Paralleler-
scheinung auf Seite der Männer: die hohe Qualität sozialdemokratischer Gewerkschaft-
ler falls sie einigermen generell besteht n i c h t einfach das gleiche gelten. Daß
ihrer A n l a g e nach spezifisch geweckte und gewandte, ihrer Rentabilität als »Pro-
duktionsmittel« sich bewußte Arbeiter
1)
Inwiefern heute der K a t h o l i z i s m u s mit Differenzen der Arbeitseignung zusammen-
fällt, ist durchaus problematisch. Es dürfte schwierig sein, lle zu finden, in denen er als »Ursache«
des Vorhandenseins oder Fehlens bestimmter Qualitäten i s o l i e r b a r wäre. Allein selbstredend
muß dem Problem nachgegangen werden. Schon die Angaben der Berufszählung eignen dazu. –
In den Arbeiterbriefen, welche A. L e v e n s t e i n soeben unter dem Titel »Aus der Tiefe«
(Berlin 1909) herausgibt, findet sich (S. 82 f., speziell S. 91) ein Brief eines Webers, der offenbar bei
strikter Ablehnung der Kirche religiös veranlagt (dabei aber Gewerkschaftler) ist. Die charakteristische
Attitüde zur Arbeit und zum Webstuhl (S. 89 unten) zeigt, daß die psychische Kräftkonomie derarti-
ger Naturen sich der allgemeinen Funktion der Religion entsprechend – auch hier günstiger vollzieht
als bei anderen. Es ist darauf bei anderer Gelegenheit zurückzukommen. Im übrigen bildet das ge-
waltige Material ber 6000 Fragebogen, oft lange Briefe), welches Levenstein durch eine unermüdli-
che und erfolgreiche Arbeit zusammengebracht hat (und von dem jene Publikation nur ein sehr schwa-
ches Bild gibt), eine Fundgrube für Arbeiter-»Psychologie« im praktisch-ethischen und weltanschau-
ungsmäßigen Sinne des Wortes, das Wertvollste jedenfalls, was mir an derartigem bekannt ist. Man
muß hoffen, daß es in möglichst nicht zu knappem Extrakt publiziert wird.
10. Geschlecht, Alter, Familienstand in ihrem Einfl auf d. Arbeitsleistung. 163
Gewerkschaftler und, unter modernen Verhältnissen, der Mehrheit nach Sozialdemokra-
ten werden, ist sehr plausibel, während es der sehr genauen Analyse bedürfte, ob sozia-
listische Erziehung oder spätere Einführung in die Gedankenwelt des Sozialismus, der
ein Religionssurrogat, wennschon auf Grundlage einer polar entgegengesetzten Gesin-
nung, sein w i l l , etwa auch schlummernde Qualitäten, die der Arbeitsleistung zugute
kommen, zu wecken geeignet sein könnte. Das ist jedenfalls äußerst problematisch und
führte hier, wo diesen Problemen nur mit Miniaturbildern nachgegangen werden könnte,
zu weit; wir kehren lieber zu Betrachtungen zurück, für welche der Weg zu einer exak-
teren Behandlung mit unsren Mitteln gangbarer erscheint.
10.
Für die Arbeitseignung nach dem G e s c h l e c h t liegen eigentlich exakte Unter-
suchungen vorerst kaum vor. Es me selbstverständlich darauf an, nur solche Industri-
en zu behandeln, bei denen wirkliche Konkurrenz der Geschlechter in Betracht kommt.
Dazu gehören u. a. breite Gebiete der Textilindustrie. In der Leinenweberei ist der Vor-
rang des Mannes auf dem breiten Stuhl (für Bettücher u. dgl.) zweifellos: weder in der
alten Hausindustrie noch heute dürfte die Verwendung von Frauen dafür in Frage kom-
men. An den Taschentuchstühlen andererseits scheint mir die Frau entschieden begün-
stigt. Der einzige Mann, der in dem mir bekannten (schon mehrfach zitierten) westfäli-
schen Betriebe ausschließlich mit Taschentuchweben beschäftigt war zugleich der
einzige auswärtige, und zwar s ä c h s i s c h e , Arbeiter des Betriebes –, blieb, ob-
wohl ein geübter Weber im besten Mannesalter (30 bis 31 Jahre alt), mit seiner (nach
Abzug aller Zuschläge auf 69,3 % der Norma (s. o.) zu berechnenden) Jahresdurch-
schnittsleistung hinter der Durchschnittsleistung (71,6 %) aller hrend der gleichen
Zeit kontinuierlich beschäftigten Taschentuchweberinnen, einschließlich der wenigstge-
übten ganz jungen Mädchen, merklich zurück und erreicht knapp 70 % der Leistung der
besten Taschentuchweberinnen (98,0 und 99,6 % bei zwei »pietistischen« Arbeiterin-
nen, s. o.). Auf den Stühlen für schmales Leinen scheint nner- und Frauenarbeit mit-
einander zu konkurrieren, so zwar, daß tüchtige Arbeiterinnen m i n d e s t e n s die
gleiche Leistung aufweisen, wie die tüchtigen Männer. Selbstverständlich kommt es da-
bei auch
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 164
auf die Sorten an. Bei einer ziemlich dichten Battistsorte z. B., bei welcher auf demsel-
ben Stuhl und an derselben Kette ein Mann auf ein durch Heirat ausscheidendes d-
chen folgte, stellten sich die Leistungen des Mannes, im Stundendurchschnitt nach der
Zahl der Schüsse gemessen, auf nur 87,3 % derjenigen des Mädchens, bei besserer Qua-
litätsleistung
1)
des letzteren; wobei zu bemerken ist, daß beide zweistühlig webten, die
daneben auf dem anderen Stuhl laufende Sorte bei beiden in Breite, Dichte und Garn-
sorte gleich war, daß das Mädchen zu den durch Körperkraft und Konzentrationsfähig-
keit tüchtigsten Weberinnen, der Mann nur zu den mittelmäßigen Arbeitern gehörte, das
Mädchen jedoch unmittelbar vor der Hochzeit stand
2)
. Nur bei sehr gewissenhaften und
gleichmäßigen, dabei nicht zu massig gebauten und gewandten schmalstühligen Webern
erreicht die männliche Leistung diejenige auch tüchtiger Arbeiterinnen annähernd und
übersteigt sie gelegentlich. Der, soviel ersichtlich, tüchtigste männliche Arbeiter dieser
Art (Gewerkschaftler) hatte in den 9 Monaten von September 1907 bis Mai 1908 eine
Durchschnittstagesleistung im reinen Akkordwerte von 93,6 %, das eben erwähnte sehr
chtige Mädchen eine solche von nur 80,6 % der Norm, also um 13,9 % der Mannes-
leistung weniger [wobei wiederum der Einfluß ihrer bevorstehenden Heirat in Betracht
kommt
3)
].
1)
Aus den gezahlten bzw. nicht gezahlten Prämien erkennbar.
2)
Daß d i e s e r Umstand auch z a h l e n m ä ß i g in der Leistung ziemlich deutlich zum
Ausdruck gelangt, ergibt sich aus folgendem: Das erwähnte Mädchen übertraf den erwähnten männli-
chen Arbeiter auch im Durchschnitt der 9 ihrer Heirat vorangehenden Monate (September 1907 bis
Mai 1908), im ganzen uni etwa 5 % (80,6 gegen 77,00 % der Norm (s. o.) reiner Akkordwert der Ta-
gesleistung). Dagegen stellten sich im Jahre vorher die beiderseitigen Leistungen folgendermaßen: Das
Mädchen: Oktober 06 (1. Hälfte 98,6, 2. lfte 88,0 % im Durchschnitt des Monats): 91,6, November
(92,0, 89,0): 90,3, Dezember (85,3, 84,0): 84,6, Januar 07 (78,3, 86,0): 82,5, Februar (84,6, 87,6):
86,0, März (75,3, 87,6): 81,0, April (77,3, 81,0): 79,6, Mai (95,3, 90,0): 92,6, Juni (79,6, 87,1): 81,0,
Juli (88,0, 93,0): 90,3, im Durchschnitt (September 1906 und April 1907 arbeitete sie nur wenige Ta-
ge): 86,0, wozu noch zu bemerken ist, daß ihre Leistung dadurch noch (um reichlich 5 %) gedrückt er-
scheint, daß sie hrend dieser ganzen Zeit (bis Juni) an Sorten arbeitete, deren Akkorde erst kalku-
liert werden sollten und dann durchweg höher angesetzt wurden, als der ihr berechnete Akkord (sie be-
zog daher während dieser Zeit einen g a r a n t i e r t e n Lohn = 88,3 % pro Tag) Der erwähnte
männliche Arbeiter dagegen leistete an Tages-Akkordwert in der gleichen Zeit: Oktober 06: 79,6, No-
vember: 77,8, Dezember: 78,8, Januar 07: 61,8, Februar: 80,0, März 81,3 (April fehlte er), Mai: 89,5,
Juni: 74,8, Juli: 81,1, August: 74,6; im Durchschnitt 73,3, wurde also von ihr hrend dieser Zeit um
das 2
1
/
2
fache mehr, nämlich um 12
3
/
4
% übertroffen.
3)
Denn eine Berechnung der beiderseitigen Leistung im J a h r e v o r h e r
10. Geschlecht, Alter, Familienstand in ihrem Einfl auf d. Arbeitsleistung. 165
Bereits
in der Handweberei war die Bedeutung der Frauen und Töchter im Taschen-
tuchweben und wohl meist auch in der Herstellung schmaler Leinen nicht gering, schon
weil sie auch im Sommer in höherem Me dabei bleiben konnten, hrend der Mann,
wenn er Bauer war, wesentlich nur im Winter sich an den Webstuhl setzte. Nicht selten
mieteten die Bauern Mädchen (bis zu 9) zum Weben für den Verleger. Bei den Zieglern
war das Verhältnis insofern ähnlich als auch hier der Mann nur im Winter am Webstuhl
saß. Der geschlossene Betrieb würde, an sich, seinen Arbeitsbedarf nicht nur für Ta-
schentücher, sondern auch für schmales Leinen wohl ganz mit weiblichen Händen
bestreiten können, und nur die ungenügende Zahl von Mädchen, die zur Fabrikarbeit be-
reit wären und ihre größere Unstetigkeit (Heirat!) nötigt zur Heranziehung von n-
nern, die kostspieliger ist. Denn die geringeren Verdienstchancen der Männer am
schmalen Stuhl und ihr Verlangen, doch unter allen Umständen m e h r verdienen zu
können als die Mädchen, nötigen, abgesehen davon, daß der garantierte Minimallohn
der Männer höher ist als derjenige der Mädchen, überdies zur Gewährung von »Ge-
schlechtszulage für die am schmalen Stuhl beschäftigten Arbeiter in Höhe von be-
trächtlich mehr als
1
/
5
ihres reinen Akkordverdienstes. Und hrend mit Einschluß die-
ser Geschlechtszulage die Tagesverdienste der Männer natürlich diejenigen der am
schmalen Stuhle beschäftigten Mädchen und auch den Durchschnitt aller Weberinnen
überhaupt übersteigen, übersteigen auch so nur die Tagesverdienste der tüchtigsten von
ihnen die reinen, ohne Zulage verdienten Tageseinnahmen der tüchtigsten Taschen-
tuchweberinnen, hrend diese ihrerseits bedeutend über dem Durchschnitt der Tages-
verdienste der männlichen schmalstühligen Weber m i t Einschluß jener Zulagen ste-
hen.
Die G r ü n d e , aus welchen in diesem Betrieb der männliche Weber genauer:
der Weber mit dem Optimum dessen, was d i e s e (westfälische) Landeseigenart an
Qualitäten bietet sich am vollsten am breiten Webstuhl, das (westfälische) Mädchen
sich am besten an den kleinen Taschentücherstühlen (bei voller Angelerntheit: 4 pro
Weberin) als Arbeitskraft auslebt
1)
,
ergibt, daß auch dieser Arbeiter (mit einer Durchschnittsleistung von 81,3 der Norm) um 5
1
/
2
% der
Leistung des Mädchens hinter ihr zurückstand.
1)
Der breite Webstuhl stellt keineswegs nur an die Körperkraft (im Fall der Stillstellung und Wie-
derinbetriebsetzung bei Fadenbrüchen), sondern, je nach, seiner Konstruktion, auch an die Aufmerk-
samkeit offenbar ganz andersartige
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 166
würden
1. der eingehendsten t e c h n i s c h e n Analyse der Eigenart der Arbeitsma-
schinen bedürfen, die ich hier ganz beiseite lasse, da die vorstehenden, wie alle folgen-
den Ausführungen dieses Aufsatzes ja nur methodisch-illustrativen Zwecken dienen,
nicht aber eine sachlich erschöpfende Monographie darstellen sollen; 2. würden diese,
hier ja nur für einen einzelnen Betrieb festgestellten Tatsachen vor ihrer Verallgemeine-
rung natürlich der Verifizierung an den Verhältnissen anderer Betriebe bedürfen und es
würde sich dann zu zeigen haben, ob sich z. B. der Weber des schlesisch-sächsischen
Gebirgsrandes mit seiner ganz anderen Vergangenheit (der schlesische Handwebstuhl
wich in den Anforderungen, die er stellte, beträchtlich von den westfälischen ab
1)
, sei-
nen ganz abweichenden Ernährungsgewohnheiten und
Ansprüche als schmale Stühle: man sagt das wäre eventuell nachzuprüfen in letzterer Beziehung
höhere als die Bedienung von 2 schmalen (die optischen Bedingungen des Uebersehens so großer Flä-
chen von Fäden sind wohl das spezifische). Auf der anderen Seite erfordert die Bedienung der kleinen
schmalen Taschentuchwebstühle, schon weil hier die Rentabilität der Arbeiterin durchaus an der
Z a h l der von einer solchen bedienten Stühle (4) hängt, vor allem »Geistesgegenwart« und »Fixig-
keit« für die zahlreichen komplizierteren Handgriffe. Dagegen wird, infolge der besonders kleinen
Flächen, das Auge weniger in Anspruch genommen, als schon bei schmalem Leinen, und ist die erfor-
derliche Sorgfalt da ein Webefehler stets nur das einzelne Taschentuch, nicht, wie bei anderen (brei-
ten oder schmalen) Leinen, das ganze Stück disqualifiziert, und auch die erforderliche Körperkraft
geringer als schon beim schmalen Stuhl, wo das Hantieren mit Lade und Kettenbaum immerhin für
Frauen ziemlich anstrengend ist. Die Jacquard-Weberei endlich stellt an die eigentlichen Weber die
geringsten Qualitätsansprüche: von der qualifizierten Arbeit fällt hier der wenanteil auf die viel
kompliziertere Maschine und die unter einem chstme von Aufmerksamkeitsspannung arbeitende
Kartenschlägerei; Webefehler verbergen sich unter den Mustern weit leichter als bei glatten Leinen.
1)
Schon den Dimensionen nach. Die mächtigen westfälischen Webstühle, in wohlhabenden Bau-
ernhäusern prachtvoll verziert, und, wie die geschnitzten Inschriften erkennen lassen, als Erb- und
Aussteuer-Bestandteile von Geschlecht zu Geschlecht übertragen, konnten wegen der Erschütterung
des Bodens, in unterkellerten Wohnungen überhaupt nicht ohne Webefehler (»Knickschläge«) hantiert
werden: das Vordringen der Unterkellerung verschlechterte daher die Qualität des Handgewebes und
gehörte zu den verschiedenen Gründen, welche ihm trotz der, bei zunehmenden Feinheitsgraden des
Leinengewebes abnehmenden, bei manchen Geweben noch heute nicht bestehenden Konkurrenzfähig-
keit des mechanischen Stuhles den Boden abgruben. (Die in ihrer Tragweite an sich problematische
und unter den Aerzten bestrittene nervös strapazierende Wirkung des »Maschinenlärms« kann in der
Weberei den llenspektakel des alten Handwebstuhles unmöglich übertreffen oder auch nur errei-
chen; sollten dennoch derartige Wirkungen vorhanden sein – was, für die Weberei wenigstens, äußerst
fraglich erscheint –, so müßte wohl die Q u a l i t ä t der akustischen Eindrücke: ihre kontinuierli-
che surrende Hast in dem Ensemble des weiten Arbeitssaales, das Entscheidende sein.)
10. Geschlecht, Alter, Familienstand in ihrem Einfl auf d. Arbeitsleistung. 167
was zum Teil damit, zum Teil v i e l l e i c h t mit Unterschieden der ererbten Qua-
litäten zusammenhängt seiner sicherlich erheblich abweichenden Konstitution ähnlich
oder ob er sich und eventuell: wiefern er sich abweichend verhält.
Daß, wie früher gesagt, der einzige männliche Weber, der ständig an Taschentuch-
stühlen beschäftigt ist, zugleich der einzige nicht aus der Umgegend, sondern aus dem
Osten (Kgr. Sachsen) rekrutierte Arbeiter des oft genannten Betriebes ist, k a n n ein
Zufall sein, ist es aber vielleicht doch nicht.
Wenn bei Zusammenrechnung der Akkordverdienste (ohne Geschlechtszuschlag)
a l l e r männlichen Weber jenes Betriebes einerseits, aller seiner Weberinnen ander-
seits für August 1907 bis ebenda 1908, soweit sie kontinuierlich hrend dieser Zeit
beschäftigt waren, die letzteren um rund 17 % hinter den ersteren zurückbleiben, so ist
dafür zu einem Teil die Einrechnung der höheren Einstühligkeitszulage und Extrazulage
bei schlechten Ketten bei den Männern, zu einem weiteren Teil die entsprechend höhere
Kalkulation der Löhne für die schwerere Arbeit an den ausschließlich von Männern be-
dienten breiten Stühlen und endlich die zum Teil sehr große Jugendlichkeit der Mäd-
chen verantwortlich. Die geübtesten Taschentuchweberinnen stehen erheblich über dem
Durchschnitt der mtlichen Männer und übertrafen auch die Durchschnittsleistung der
breitstühligen Weber in dieser Zeit (94,3 %) um 3,6-5,4 % derselben.
Die Frage, wie das A l t e r der Arbeiter ihre Leistung beeinflusse, liegt aus be-
kannten Gründen für jede einzelne Industrie verschieden, noch weit verschiedener als
die bekanntlich so stark differierende Lebenserwartung der Arbeiter der einzelnen Beru-
fe. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben, für die einzelnen Industrien, innerhalb ihrer die
einzelnen Arbeiterkategorien und für diese wieder nach den einzelnen ethnischen, sozia-
len und Berufs-Provenienzen festzustellen: wie schnell oder langsam sie ein solches
Maß von Leistungsfähigkeit erlangen, daß ihre Verwendung als Vollarbeiter rentabel
wird
1)
, wann sie den Höhepunkt ihrer
1)
W e n n sie überhaupt rentabel wird. Im anderen Fall werden sie in jedem scharf kalkulieren-
den Betriebe ausgeschieden. In dem oft zitierten Webereibetriebe vollzieht sich die »Auslese« der Ar-
beiter im wesentlichen in folgenden Formen: nzlich geschiedene Wege gehen (normalerweise) We-
berei und Spulerei einerseits, herei und mit ihr Plätterei und Wäscherei andererseits. Für die letztere
Arbeit, insbesondere (da nur hier die Zahl der Arbeiterinnen erheblich ins Gewicht fällt) für die Nähe-
rei kommt ganz überwiegend »städtische« (d. h. aus
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 168
Leistung
erreichen, wie lange sie sich auf dieser Höhe behaupten und wann ihre Lei-
stungsfähigkeit so weit sinkt, daß sie nicht mehr als Vollarbeiter, oder schließlich über-
haupt nicht mehr für die
dem in geschäftlicher Hinsicht und als Domizil von Unternehmern und Rentnern stadtartigen Dorf
stammende) Provenienz in Betracht: Mädchen aus »besseren« Kinderstuben, welche die saubere und
ihrem Inhalt nach im traditionellen Sinne »häusliche« Arbeit vorziehen und keinenfalls in die eine
Etage tiefer liegenden großen Fabriksäle hinuntersteigend würden, trotz der dort wesentlich höheren
Verdienstchancen. In der herei erhalten die dchen für die erste und zweite Woche Taglohn, als-
dann bis zur 12. Woche einen von Woche zu Woche sinkenden Zusch zum Akkord, von der 13.
Woche an (normalerweise) reinen Akkord. Was die Weberei und Spulerei anlangt, so werden »vor-
geübtErwachsene (namentlich fhere Handweber oder was bei dem ausgesprochen lokalen Cha-
rakter der Arbeiterschaft nur ganz ausnahmsweise vorkommt – anderwärts bereits an der Maschine be-
schäftigt Gewesene, die als Arbeiter in den Betrieb eintreten) direkt an den Webstuhl gestellt und dort
angelernt. Für Jugendliche kommt dies ebenfalls vor, doch ist für sie die eigentliche Vorschule für das
Weben die Spulerei. Diese nnte sehr gut von weiblichen Kräften allein besorgt werden, männliche
Anfänger werden in sie nur eingestellt, um für den Betrieb den genügenden männlichen Nachwuchs zu
erhalten, der sonst, wenn die Jungen anderweit beschäftigt würden, später geringer qualifiziert oder in
seiner Neigung zum Fortzug nach auswärts bestärkt würde. Die aus der Spulerei an den Webstuhl
übernommenen männlichen Arbeiter erhalten zunächst ihren durchschnittlichen Spulverdienst der letz-
ten Monate für etwa
1
/
2
Jahr garantiert, direkt an den Webstuhl gestellte Lehrlinge einen etwa von
sechs zu sechs Wochen 2mal ansteigenden Lohnsatz. Wenn sie sich hinlänglich geübt zeigen, um den
Sollakkord der Weber dauernd annähernd zu verdienen, erhalten sie diesen Satz als Minimallohn ga-
rantiert und die Prämiensätze je nach Mehrverdienst, sie sind damit Vollarbeiter. Dies tritt nach minde-
stens 4, meist 9-10 Monaten ein, erreichen sie nach etwa 12 Monaten diese Leistungsfähigkeit nicht, so
werden sie als ungeeignet entlassen. In der Spulerei, wo Akkord nach Kilo mit Prämien bzw. Strafen je
nach dem Maße des Abfalles gegeben wird, ist ein ebensolcher Ausleseprozeß vorangegangen. Die
zum Weben qualifizierten Spulerinnen werden, falls sie sich nicht freiwillig zum Uebertritt an den
Webstuhl melden, was nicht nur des besseren Verdienstes, sondern, nach ausdrücklicher Angabe, auch
»der interessanteren Arbeit wegen« die Regel ist, zu gegebener Zeit vor die Alternative gestellt, ent-
weder auszuscheiden oder sich zur Weberei überführen zu lassen, da es im Interesse der Erhaltung des
Nachwuchses für den Betrieb erwünscht ist, immer wieder Platz für die Einstellung m ä n n l i -
c h e r Jugendlicher als Spuler zu gewinnen. Ausnahmen machen solche Mädchen, welche spezifisch
hohe Qualifikationen für das Spulen besitzen. Es scheinen das namentlich – aber nicht ausschließlich –
ältere, unverheiratet gebliebene Arbeiterinnen zu sein, die der schwereren Webstuhlarbeit nicht mehr
gewachsen sind und – hrend der männliche Weber in diesem Fall wohl nur noch als »Platzarbeiter«
beschäftigt werden könnte in der Spulerei noch brauchbar, und dann, weil gegen Erotik immun, ganz
besonders brauchbar sind: in der Zeit von Juli 1907 bis August 1908 hatten zwei über 50jährige Spule-
rinnen, im nackten Akkord gerechnet, mit 73 bzw. 70,6 % der männlichen Norm eine Durchschnitts-
leistung, die nur von einem 16jährigen Mädchen mit 79 % überholt wurde, während die nächsthöchste
Durchschnittsleistung (65,6 %) dahinter um 11 bzw. 7
1
/
2
% und die übrigen um mehr als 20 bis zu 50
% zurückblieben, die Jungen noch mehr als die Mädchen. (Im übrigen befand sich in der Spulerei ne-
ben 15jährigen auch noch eine im 70. Lebensjahr stehende Arbeiterin.) – Diese Aus-
10. Geschlecht, Alter, Familienstand in ihrem Einfl auf d. Arbeitsleistung. 169
betreffende
Arbeitsart verwertbar sind. D ein Arbeiter den Höhepunkt seiner Lei-
stungsfähigkeit aus Gründen des A l t e r s erreicht oder überschritten hat, macht sich
zunächst v i e l l e i c h t generell in ähnlicher Weise erkennbar, wie die Annäherung
an das U e b u n g s maximum es tut: Abnahme des Tempos des Uebungsfortschrittes.
Ob wirklich, nnte nur eine gründliche Prüfung von zahlreichen und dabei untereinan-
der hinlänglich vergleichbaren Fällen dartun. Denn die von mir durchgerechneten Fälle,
welche jene Vermutung (aber eben nur als gänzlich provi-
lese funktionierte im Ergebnis ziemlich fühlbar, auch wenn man die wegen Disqualifikation nicht be-
rücksichtigten Meldungen ganz beiseite läßt und nur die Austritte berücksichtigt. Bei den weiblichen
Arbeitern sind es allerdings in einem Drittel der Fälle »Familienverhältnisse«, das heißt mit nur ganz
wenigen Ausnahmen: Heirat oder Vorbereitung dazu, die den Grund zum Austritt geben: d i e s e
»Auslese« ist natürlich eine in bezug auf die Qualifikation »wahllose«, d. h. es finden sich ganz ausge-
zeichnete ebenso wie mäßige Arbeiterinnen darunter. Ein weiterer Bruchteil von
1
/
10
der Fälle beruht
auf unbefriedigtem Ehrgeiz, Streit mit der Meisterin, Unzufriedenheit mit dem Gehalt. Bei den he-
rinnen findet sich gelegentlich die Absicht, auf ihre Rechnung zu nähen oder zu schneidern, in einem
Fall auch bei einer sehr tüchtigen Näherin der Eintritt in eine besonders gute Dienststelle, in einem Fall
einer 63jährigen Spulerin Invalidität; endlich in einem Fall der Uebertritt in eine Weberei einer be-
nachbarten Großstadt. Der Rest, ebenfalls ca. ein Drittel der Fälle, betrifft Ausscheiden wegen man-
gelnder Qualifikation, wobei besonders die Augen, daneben namentlich »Trägheit«, d. h. wohl: ange-
botene Langsamkeit des Reagierens, die sich dann gern im Uebertritt zum Hausdienst äußert, endlich
auch hysterische Veranlagung (ein Fall) und sonstige Gesundheitsschwäche eine Rolle spielen. Bei
den nnern sind
1
/
6
der Fälle rein persönliche und Familienverhältnisse, in
1
/
3
der Wunsch, mehr zu
verdienen oder zu lernen oder die Abneigung gegen die Disziplin der Fabrik, welche den freiwilligen
Austritt des Arbeiters bedingten, der Rest (
1
/
2
) Disqualifikation. Dabei spielten in einem Fall allzu
stark entwickelte, d. h. die Disziplin gefährdende erotische Neigungen eine Rolle, in einem andern
Kränklichkeit, in etwa der lfte der Fälle schwache Augen, in den übrigen »Langsamkeit« oder all-
gemeines Ungeschick. Die aus diesem letzteren Grunde ausgeschiedenen Arbeiter sind ganz überwie-
gend Ziegler, in je einem Falle Tischler, Bergarbeiter, Portier geworden. Wenn man die Zahl der im
Herbst 1908 im Akkord befindlichen Arbeiter zugrunde legt, verhalten sich die Austritte, während 2
1
/
2
Jahren rückwärts zur Größe des Bestandes bei den männlichen Webern und Schlichtern, wie: 56 : 100,
bei den Weberinnen wie 1 : 2, bei den herinnen wie 53 : 100. Die wegen ausgesprochener D i s -
q u a l i f i k a t i o n erfolgten Ausscheidungen machten bei den Weberinnen nur
1
/
10
des Bestan-
des von 1908, bei den männlichen Webern dagegen
3
/
8
desselben aus. – Für das Einarbeiten in die Ma-
schinenweberei bis zu dem Grade, der für den betreffenden Arbeiter den Höhepunkt der Geübtheit dar-
stellt, schätzt man etwa 5 Jahre für den Durchschnitt; von den schon in der Jugend eingeschulten Ar-
beitskräften verspricht man sich die nstigeren Erfolge –, obwohl natürlich in Deutschland die zwei
Militärjahre, mögen diese auch der Domestikation des Arbeiters für die Fabrikdisziplin zugute kom-
men, doch immer als recht fühlbare Unterbrechung der »Uebung« ins Gewicht fallen dürften.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 170
sorische V e r m u t u n g ) begründen, genügen, ganz abgesehen von ihrer geringen
Zahl, auch dem Tatbestand nach, diesen Ansprüchen n i c h t . Z. B. würde dem An-
schein nach gut brauchbar sein eine Vergleichung der beiden weiter oben als Illustration
für das Maß der Leistungsschwankungen von Tag zu Tag gebrauchten Leistungskurven
zweier Vettern, die in denselben Wochen dieselbe Sorte webten. Die beiden Arbeiter
sind um annähernd 10 Jahre im Alter auseinander. In der Tat zeigen sie Unterschiede,
die sehr wohl durch die Altersdifferenz mit bedingt sein k ö n n t e n . Stellen wir
zunächst die W o c h e n durchschnitte der Tagesleistungen jedes Arbeiters – bei jedem
von beiden nach Prozenten s e i n e r Durchschnittsleistung berechnet, untereinan-
der, so zeigt sich folgendes Bild:
a) (37jähriger) 87,5 107,5 105,1 96,1 98,9 91,8
b) (28jähriger) 103,3 97,1 90,8 103,5 111,1
Auch die Leistung der jüngeren kollabiert also unter dem (früher bereits erwähnten)
Einfluß ungünstiger Feuchtigkeitsverhältnisse, ähnlich wie diejenige des älteren Arbei-
ters, aber sie steigt, wie schon diese Zahlen zeigen, alsdann wesentlich rapider an, so
stark, daß sich für die Verhältnisse der beiden Leistungen untereinander, wenn man die
Leistung des einstühlig arbeitenden Webers a = 100 setzt und damit die des zweistühlig
arbeitenden b vergleicht, folgendes Prozentverhältnis von b : a für die einzelnen Wo-
chen, während deren beide entziffert sind, ergibt:
76,1 73,5 74,7 82,7 97,3.
Die Zahlenreihe zeigt, daß der jüngere Weber (b) zwar etwas (2. Woche) schneller, aber
(3. Woche) weniger stark kollabiert ist als der ältere, und daß er, obwohl er doch neben
der von beiden gewebten Sorte noch einen zweiten Webstuhl (mit einer allerdings, wie
fast stets, leidlich glatt laufenden Halbleinensorte) zu bedienen hatte, dennoch zuletzt
den Wochendurchschnitt von a fast erreicht hatte. Ist dies nun ganz oder teilweise
Folge der A l t e r s differenz? Der jüngere der beiden Arbeiter zeigt, wie aus den bei
früherer Gelegenheit angeführten Zahlen über die T a g e s schwankungen hervorgeht,
ein v i e l größeres Schwanken der Tagesleistungen als der ältere: das absolut höchste
und niedrigste Leistungsniveau eines Tages standen bei ihm um 50 % weiter auseinan-
der, als bei diesem, die höchste Schwankung
10. Geschlecht, Alter, Familienstand in ihrem Einfl auf d. Arbeitsleistung. 171
zwischen zwei aufeinander folgenden Tagen um rund 18-20 %, der Durchschnitt aller
Schwankungen von einem Tag zum andern um über 40 %. Er erscheint also »labiler«
(ermüdungsfähiger), andererseits zeigt er sich »übungsfähiger« als der ältere Arbeiter,
der sein Vetter ist. Die Betriebsleitung betrachtet auf Grund der mit ihm gemachten Er-
fahrungen seine für die Arbeitseignung relevanten Qualitäten, insbesondere die
S c h n e l l i g k e i t des Reagierens und die Lernfähigkeit als individuelle Eigentüm-
lichkeit, und ist der Ansicht, daß sie ihn auch gegenüber als jüngerem (33jähigen)
B r u d e r auszeichnen. Nehmen wir nun aber eine Leistungskurve dieses Bruders (c)
bei e i n s t ü h l i g e r Arbeit an einer ziemlich lockeren Halbleinensorte vom 21. 2.
bis 31.3. 1908, so zeigt sich folgendes Bild der Wochenleistungen (in % seines Durch-
schnitts): 88,0. 91,9. 88,3. 99,5. 104,2. 107,8. 114,7, also, mit einem Rückschlag in
der dritten Woche, stetiger Uebungsfortschritt. Dabei sind jedoch die Schwankungen
auch bei ihm sehr bedeutende: Der Unterschied zwischen der Höchst- und Mindest-
Tagesleistung der Periode ist 76,4 (66,7) % der niedrigsten, 55 (50) % der Durch-
schnittsleistung, der größte Unterschied zweier direkt aufeinander folgenden Tage 59
(33,6) % der niedrigeren, 42 (31,7) % der Durchschnittsleistung (die Zahlen in Klam-
mern bezeichnen die n ä c h s t höchsten Differenzen und sind beigefügt, weil die ab-
solute Mindestleistung v i e l l e i c h t durch einen nicht registrierten, weil in seinen
Folgen nicht besonders weittragenden »Schützenschlag« bedingt war). Die durch-
schnittliche Schwankung zwischen je zwei Arbeitstagen beträgt 13,5 %, also nur
1
/
2
%
weniger als bei dem jüngeren Vetter, obwohl Halbleinenqualitäten relativ glatt zu laufen
pflegen und die Jahreszeit günstig war.
Nehmen wir dazu schließlich noch die Leistung eines mit diesen 3 Arbeitern nicht
verwandten, als weit weniger geschickt und brauchbar als sie geltenden Webers d dazu,
der (40 Jahre alt) a um 2 Jahre an Alter übertrifft und im Mai, Juni und Anfang Juli
1908 eine schmale Leinensorte mittlerer Dichtigkeit neben Halbleinen verarbeitete, so
zeigt sich folgendes Bild: Wochenleistungen in % seines Durchschnitts: 96,6. 89,5.
95,3. 106,0. 106,4. 106,4. 92,6. 110,8. 99,3. 101,0. 103,0.
Man findet auch hier eine große Langsamkeit des A n s t e i g e n s der Leistung,
wenn auch, anders als bei a, ausgeprägtes S t e i g e n . Stellt man die Wochen unter-
einander, in denen
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 172
diese beiden Arbeiter gleichzeitig gearbeitet haben, so ergibt sich:
a) 87,5 107,5 105,1 96,1 98,9 91,8
d) 106,4 106,4 92,6 110,8 99,3 101,0
Da ist keinerlei Parallelismus zu finden. In der meteorologisch ungünstigen (4.) Wo-
che erreicht d seinen Höhepunkt, hrend a sinkt. Und wenn man auf die Tage dieser
kritischen Woche zurückgeht, zeigt sich folgendes:
Hygrometerstand 76 77 70 64 75 76
a)
113,1
89,3 89,3 76,7 109,1 9,93
b)
115,6
115,1 122,6 102,8
98,8 109,3
Bei d trat also ein Rückgang ebenfalls ein, seine Wirkung zeigt sich erst n a c h
dem ungünstigsten Tage in vollem Maße, während er bei b schneller als bei a und erst
recht als bei d eintrat. Die zahlreichen möglicherweise mitspielenden Zufälle hindern
hier vorerst die Deutung. Der Durchschnitt der Abweichungen von einem Tag zum
anderen ist bei d mit 11,4 % der Durchschnittsleistungen schwächer als sowohl bei b,
wie bei a’s jüngerem Bruder c, dagegen, wohl infolge der Doppelstühligkeit, stärker als
bei a (8
1
/
2
%); die Differenz des Maximums und Minimums beträgt 66,7 % der niedrig-
sten und 47,9 % der Durchschnittsleistung, die höchste Differenz von einem Tage zum
andern 56,5 % der niedrigeren und 41,5 % der Durchschnittsleistung. Das sind nur we-
nig niedrigere Maximalschwankungen als bei b (dem jüngsten [28jährigen] Arbeiter: s.
früher) und auch als bei c (a’s jüngerem, 33jährigen Bruder), dagegen erheblich höhere
als bei dem 37jährigen a: die Zweistühligkeit ist hier wohl das störende Element. Durch
den Einfluß dieses Umstandes wird dies Beispiel überhaupt derartig stark entwertet, daß
es eben nur als ein »Beispiel« für einen bereits a n d e r w e i t , durch zahlreiche
gleichartige und unverdächtige lle als typisch erwiesenen Sachverhalt brauchbar wä-
re. Indes andere, diesen llen auch in bezug auf die geringere »Uebungsfähigkeit« (d.
h. die geringere higkeit des Sich-Einarbeitens in n e u e Sorten, welche schon ge-
gen das 40. Lebensjahr einzutreten scheint) nicht unähnliche Beispiele, die ich anführen
könnte, sind aus wiederum anderen Gründen stets: weil noch a n d e r e Momente,
die den Sachverhalt erklären k ö n n t e n , vorliegen – nicht unbedingt schlüssig. Vor-
erst muß es dahingestellt bleiben, inwieweit bei
10. Geschlecht, Alter, Familienstand in ihrem Einfl auf d. Arbeitsleistung. 173
den Unterschieden, die in diesem Fall hervortreten, die Altersdifferenz mitspricht. So-
weit dies etwa der Fall sein sollte, würde der geringere Uebungszuwachs bei den beiden
alten Arbeitern (a und d) wohl am ehesten darauf zu schieben sein
1)
. Indes nur eine Be-
obachtung genügend g r o ß e r Zahlen von sorgsam auf ihre Schlüssigkeit durchge-
rechneten Fällen, und dann wo dies möglich ist die Kontrolle an Durchschnittslöh-
nen großer Betriebe könnten uns hier über unsichere Vermutungen hinausführen. Die äl-
teren Jahrgänge der Arbeiter des Zeiß-Werkes haben s. Z. die durch den Achtstundentag
gebotene Arbeitsintensivierung überraschend gut geleistet, besser, als die Mehrzahl der
jüngeren Jahrgänge (Intensitätssteigerung in den ersten 4 Wochen nach Einführung des
Achtstundentages: bei den über 40jährigen Arbeitern = 100 : 117,4, höher nur bei den
jüngsten Jahrgängen, 22-25 Jahre: 100 : 117,9, bei den anderen je 5 Jahrgänge von 25-
40 Jahren zusammenfassenden Gruppen: 100: 116,7 bzw. 114,9 bzw. 115,8)
2)
. In der
Leinenweberei scheint recht oft bald nach und zuweilen vor dem 40. Lebensjahr die er-
forderliche Schärfe des Auges nachzulassen.
Hier kam es ja nicht darauf an, Resultate zu erzielen, sondern: an einem für die Ge-
winnung von solchen wenig geeigneten Beispiele zu zeigen, w i e sie etwa gewonnen
werden nnten. Auf Einzelheiten der sonstigen Probleme, die mit der Wiedergabe der
obigen Zahlen ja nur angerührt wurden, ist später zurückzukommen.
Was endlich den Einfluß des F a m i l i e n s t a n d e s betrifft, so verfüge ich dar-
über nicht über Material. Bekannt ist, daß namentlich die Abneigung der Arbeiter gegen
die G l e i c h f ö r m i g k e i t der Arbeit, wenn diese nur sicheres Einkommen
bringt, im allgemeinen und sehr begreiflicherweise entschieden abnimmt, wenn sie erst
einmal Familienväter sind. Möglich auch, daß die Monotonie dann von ihnen »psycho-
physisch« leichter ertragen wird, da der Einfluß des Alkohols, generell wenigstens, zu-
rückzutreten pflegt
3)
. Exakte Untersuchungen über alle diese
1)
Wir kommen darauf noch bei Analyse der Arbeitskurven kurz zurück.
2)
Dabei spielt aber die Art der Verteilung auf die Beschäftigungs a r t e n , die das Maß der Stei-
gerungs f ä h i g k e i t bedingt, mit.
3)
Eben dies traf aber z. B. bei den gleich zu erwähnenden Erhebungen in Kopenhagen n i c h t
zu und auch die Magen- und Darmkrankheiten waren bei den Verheirateten eher s t ä r k e r vertre-
ten: Folge kulinarischer Disqualifikation der Arbeiterfrauen!
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 174
Verhältnisse liegen nicht vor. Beachtenswert, aber auch der umfassenden Nachprüfung
bedürftig sind die Ausführungen von H. Bille-Top
1)
, wonach bei den Verehelichten der
Akkordverdienst um durchschnittlich etwa ein Jahrfünft länger als bei den Ledigen (bei
diesen bis zum 30., bei den Verheirateten bis zum 35. Jahre) steigen resp. auf der Höhe
bleiben soll. Das alsdann beginnende Sinken soll bei den Ledigen um ein volles Jahr-
zehnt früher (mit dem Jahrfünft vom 40. zum 45. Jahre) einen sprunghaften Absturz
zeigen, als bei den Verehelichten [50.-55. Jahr]
2)
. Lässigere Arbeit und frühere Erschlaf-
fung sollen die häufige Folge zu lange d. h. wohl über das Jahrfünft vom 25.-30. Le-
bensjahr hinaus dauernder Ehelosigkeit sein. (Es versteht sich dabei, daß »Ehelosig-
keit« in der Arbeiterschaft, zumal einer Stadt wie Kopenhagen mit dem Weltrekord der
Ungebundenheit, nicht das Entfernteste mit sexueller Frugalität zu schaffen hat: im Ge-
genteil, entscheidend für die »Leistungsfähigkeit« ist – die generelle Richtigkeit der Be-
obachtung vorausgesetzt –, die relative »Ordnung« der Lebensführung durch die Ehe,
nichts anderes.)
Da über die im allgemeinen genügend bekannte Wirkung des A l k o h o l s auf die
Leistungsfähigkeit zu der unermeßlichen Literatur hier Neues ebenso wenig hinzuzufü-
gen ist
3)
, wie dem, was über den Einfluß der Wohnungsverhältnisse und der Länge des
Weges zur Arbeit schon oft gesagt ist, und da das, wie ich glaube, keineswegs irrelevan-
te Sexualleben der Arbeiter in seinen Zusammenhängen mit der Arbeitsleistung noch
gar nicht erforscht ist
4)
, so brechen wir hier die Erörterung der e i n z e l n e n , die
Gestaltung der Leistungskurven g e n e r e l l beeinflussenden Momente ab.
1)
H. Bille-Top, Bidrag til den sociale Arbejderstatistik, Kopenhagen 1904 (A. Bangs Forlag). Es
liegen (s. o.) die Erfahrungen der Krankenkasse Aldertröst in Kopenhagen zugrunde.
2)
Auch die Morbidität beider Kategorien soll sich erheblich unterscheiden.
3)
Die Erhebung L e v e n s t e i n s enthält darüber massenhaftes, die Ansichten Kraepelins in
den wesentlichen Punkten durchaus bestätigendes Material aus dem Munde der Arbeiter. W e -
s e n t l i c h die Schikanen der Polizei, das Fehlen von Gewerkschaftslokalen usw. bringt die Arbei-
terschaft in Abhängigkeit von den Wirten und damit vom Alkohol.
4)
Es ist erstaunlich, daß noch keinerlei Umfrage bei den Aerzten natürlich möglichst internatio-
nal veranstaltet worden ist, welche ein Bild von der unter den einzelnen ethnischen, sozialen, kultu-
rellen, klimatischen Bedingungen als normal geltenden B e i s c h l a f s f r e q u e n z (zunächst
einmal: der ehelichen, die das wichtigste Thermometer ist) geben könnte. Es dürfte dies eine der aller-
chstliegenden und r e l a t i v leicht zu erledigenden Aufgaben medizinischer Enqueten sein.
11. Akkordverdienste und Leistungsdifferenzen. 175
11.
Wir wollen im nachstehenden eine Anzahl von Zahlenreihen analysieren, welche den
Lohnbüchern und Stuhluhrregistraturen eines (schon mehrfach zitierten) Webereibetrie-
bes entnommen und, in der früher erörterten Art, in Prozente von Durchschnitten oder
von Maxima, umgerechnet sind. Ausschließliches Ziel dabei soll sein, in ganz ungefäh-
ren Umrissen ein Bild davon zu gewinnen, ob und an welchen Stellen man überhaupt
Chance hätte, auf »psychophysisc bedingte Momente zu stoßen.
Auf den ersten Blick bieten nun solche Zahlen ein scheinbar gänzlich willkürliches
Chaos. Der Leser ist gebeten, sich z. B. die Tabelle 1 umstehend anzusehen, welche an-
gibt, welchen Prozentsatz des (als garantierter Mindestlohn fungierenden) Normalsatzes
männlicher Arbeiter eine Anzahl
1)
von männlichen und weiblichen Webern in der Zeit
vom August 1907 bis August 1908 glich im Durchschnitt der einzelnen Monate ver-
dient hat, wenn man alle Geschlechtszuschläge, Prämien, Strafen usw. fortläßt, also le-
diglich den »Akkordverdienst« berücksichtigt
2)
.
1)
Sie sind nur insofern absichtsvoll »ausgewählt«, als möglichst die verschiedenen Altersklassen
und Beschäftigungsarten und andrerseits nur solche Fälle zusammengestellt sind, bei denen nicht
durch zweifelsfrei erkennbare besondere Verhältnisse die Vergleichbarkeit allzusehr gestört ist.
2)
Was den Begriff »Akkordverdienst« im Sinne der Zahlen d i e s e r Tabelle anlangt, so ist
über die Art der Berechnung folgendes zu bemerken: Die absoluten Zahlen, deren Umrechnung in
Prozente des Normal- (= Minimal-) Lohns die Tabellenziffern darstellen, werden gewonnen, indem
man mit der Zahl der effektiven Arbeitstage (bzw. Arbeitstagsbruchteile) in denjenigen Teil des Mo-
natsverdienstes dividiert, der aus »Akkord«verdienst besteht, und dessen he aus den Lohnblocks
auch für alle diejenigen Wochen ersichtlich ist, in welchen, da die Akkordleistung hinter dem gewöhn-
lichen Minimallohn zurückblieb, dieser letztere gezahlt wurde. Abgezogen sind alle (ausnahmsweise
bei unstetiger Verwendung vorkommenden) Tagelohntage, ferner alle Prämien und Zulagen für das
Anlernen von »Lehrlinge(wozu zu bemerken ist, daß die durch Zuerteilung eines Lehrlings verur-
sachte Mehrarbeit und Störung nach Ueberwindung der ersten Schwierigkeiten, die den Akkordver-
dienst des Lehrers allerdings beeinträchtigen können, zuweilen bald mehr als ausgeglichen wird
durch die Hilfe, die ein begabter Lehrling dem Arbeiter bietet). Dagegen sind Zuschläge zum Akkord,
die wegen »schlechter Kett sei es, daß das Garnmaterial schlecht war, sei es, daß die Kette
schlecht geschlichtet war gegeben wurden, hier, wo es darauf ankam, zu ermitteln, ob die Lei-
stungs f ä h i g k e i t des Arbeiters in den Zahlen zum Ausdruck kommt, eingerechnet, im Ge-
gensatz zu den weiterhin später, bei Analyse der Ursachen der Schwankungen, gegebenen Zahlen (s.
dort). Nicht ganz einfach gestaltet sich die Frage, wie bei zweistühligen Webern für die Perioden der
bei ihnen, infolge Kettenwechsel, Maschinendefekt usw. an einem der Stühle vorkommenden Einstüh-
ligkeit zu verfahren war. Für diese Perioden werden Stundenvergütungen (
1
/
3
des Normal-
Stundenlohnverdienstes) gezahlt. Bei den weiter unten verwendeten Zahlen, welche für die Analyse
der Schwankungen der Leistungen berechnet sind, ist diese Zahlung natürlich außer Betracht gelassen.
Dagegen habe ich sie bei den Zahlen dieser Tabelle eingerechnet. Der Ausfall an Verdienst, der durch
das Stillstehen eines der beiden Stühle herbeigeführt wird, ist je nach den Ketten und auch individuell
sehr verschieden groß, schon weil die S t e i g e r u n g der Leistung auf dem anderen Stuhl, den
während solcher Perioden der Arbeiter allein bearbeitet, äußerst verschieden groß ist (darüber unten
näher). Im großen Durchschnitt dürfte die Zahlung, wenn man n u r den direkten Wegfall der Ver-
dienstgelegenheit auf dem einen Stuhl einerseits und die dadurch
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 176
Ueberblickt
man diese Zahlen, so ist der erste Eindruck der einer vollkommenen Will-
kürlichkeit, eines Auf und Ab der Verdienste des einzelnen ohne jegliche Regel und ei-
ner ebenso regellosen Verschiedenheit der Leistung der einzelnen Arbeiter untereinan-
der und ebenso deren Bewegung von Monat zu Monat: ein Parallelismus findet sich hier
anscheinend gar nicht. Insbesondere fallen innerhalb der Leistungen der einzelnen eini-
ge mächtige Sprünge nach oben von einem Monat zum andern auf, die im nächsten
Monat wieder ganz oder fast ganz zurückgetan werden, so z. B. bei f vom März zum
April nach oben, bei k vom Dezember zum Januar und bei l vom März zum April eben-
falls nach oben und im folgenden Monat dann bei beiden wieder nach unten usw.
Es muß nun vorweg konstatiert werden, daß diese Sprünge und ebenso die Differen-
zen der einzelnen Monatszahlen überhaupt keineswegs notwendig entsprechende Ver-
schiedenheiten der effektiven Arbeits l e i s t u n g bedeuten. Der Akkordverdienst
wird bei dar Lohnberechnung nach dem vom Arbeiter in der Lohnperiode a b g e -
l i e f e r t e n Quantum festgestellt. Die Ab-
gegebene Chance der Steigerung der Leistung auf dem zweiten andrerseits gegeneinander hielte, den
Ausfall mehr als decken. Was nicht gedeckt ist (und ja auch durch d i e s e Zahlung nicht gedeckt
werden soll), ist die bald zu erörternde Störung der Verdienstchancen durch die mit jeder neuen Kette
und Sorte eintretende Notwendigkeit, sich in die jedesmal n e u e Arbeitssituation hineinzufinden
(der »Einarbeitungs«ausfall). Da immerhin die Einrechnung der Einstühligkeitsentschädigung jene, für
die zunächst im Vordergrunde stehenden Gesichtspunkte noch nicht in Betracht zu ziehende, Schwan-
kungsquelle in ihrer Tragweite für die ohnedies unübersichtlich schwankenden Zahlen teilweise zu
kompensieren geeignet ist, so habe ich sie hier vorerst, wie gesagt, nicht ausgeschieden.
Abgerechnet sind endlich, wie im Text gesagt, die G e s c h l e c h t s zulagen (s. vorigen Artikel
Seite 268). Dies ist bei einem Vergleiche der Weber k-p der Klasse II mit denen der Klasse I (a-f) oder
der Zahlen bei den vom einen zum anderen Stuhl übergehenden Webern (g-i) wohl zu beachten. Die
Akkorde der Klasse II sind (a. a. O.) auf F r a u e n arbeit kalkuliert, daher ist ein 20 % niedrige Ver-
dienstsoll zugrunde gelegt und dies bei den Männern durch 20 % Zulage pro Tag ausgeglichen.
Schlägt man diese 20 % zu den Zahlen der Arbeiter in Klasse II, so verdienen sie vielfach im reinen
Akkord m e h r als die in Klasse I.
11. Akkordverdienste und Leistungsdifferenzen. 177
Tägliche Akkordverdienste (% des Soll-Verdienstes) in Monatsdurchschnitten
August 1907 bis August 1908 bei 23 Arbeitern
Tabelle I.
VIII IX X XI XII I II III IV V VI VII VIII Durch-
schnitt
Alter
Jahre
Männliche
Arbeiter
Stuhlmodell I a 95,3 95,1 94,0 99,3 96,0 88,0 56,6 90,6 79,6 80,0 91,6 85,5 88,3 87,7 30
b 105,0 103,0 97,0 95,0 93,6 88,0 85,6 94,1 97,6 99,0 96,8 94,8 84,3 94,9 48
c 96,0 110,0 99,8 108,5 98,0 127,0 100,3 110,0 89,6 102,3 99,1 114,6 104,5 37
d 116,0 109,3 107,3 104,0 104,6 111,0 114,5 97,1 113,0 117,3
105,3 128,6 111,6 110,7 28
e 70,3 74,0 76,6 77,6 63,3 61,3 75,6 74,0 80,5 85,0 101,3 104,3 110,8 81,1 40
f 54,0 57,1 82,3 69,0 83,6 84,0 71,1 24
auf Modell I, dann
(seit*))Modell II
g 99,3 93,0 99,0*)
67,0 77,3 118,0 97,0 78,3 93,6 83,0 87,6 109,0 87,1 91,5 33
h 92,6 95,5 84,0 82,6 77,1 86,6 83,0*)
82,6 117,6 76,0 96,0 92,0 89,0 96,5 28
i 83,3 86,0 87,3 88,6 82,0 76,8 78,3 88,3 94,1*)
79,0 103,3 93,8 86,6 86,4 19
Stuhlmodell II k 84,3 87,3 87,3 84,3 80,0 (121,6)
77,6 82,5 83,8 78,3 82,6 84,5 83,0 83,8 37
l 79,3 56,3 80,0 69,3 65,5 74,6 56,6 65,3 102,5 80,6 83,0 64,6 75,6 74,1 32
m
74,6 64,1 89,6 69,6 74,6 77,8 67,8 80,5 85,6 83,8 66,8 67,0 67,0 74,5 33
n 63,3 78,0 83,6 67,6 68,6 60,3 82,1 86,0 84,0 78,3 78,1 76,0 51,1 73,6 32
o 92,3 99,0 94,3 101,0 92,0 92,6 88,6 93,5 83,3 96,0 76,0 80,3 92,1 90,9 44
p 67,3 65,5 59,8 77,3 78,3 77,6 58,1 70,1 66,8 79,6 84,0 61,1 73,6 70,7 31
Stuhlmodell III q 75,3 73,0 58,8 68,0 68,3 66,6 65,0 55,0 77,0 77,6 87,8 82,0 81,3 71,9 18
Weibl.
Arbeiter
Stuhlmodell III
102,6 103,0 102,1 101,3 90,3 83,3 99,5 106,1 95,3 101,0
104,1 98,0 88,0 99,6 27
84,3 101,8 76,8 88,0 90,1 100,6 96,6 99,6 98,8 102,3 102,0 98,6 24
73,0 74,6 61,6 79,3 76,1 73,0 66,1 77,8 93,3 87,0 85,8 80,0 77,6 77,3 23
45,3 68,6 46,6 56,0 53,3 48,8 64,3 67,6 69,8 77,3 68,8 73,3 69,6 62,2 22
70,6 79,3 64,5 64,0 43,0 51,1 51,1 59,6 67,8 54,0 61,3 61,8 57,3 60,4 19
auf Modell III, dann
(seit*)) Modell II
81,0 69,3 67,3 64,0 68,3 70,6*)
64,6 62,0 72,0 81,5 55,3 68,7 31
auf Modell II
70,6 78,0 82,6 87,6 84,6 82,0 74,1 68,1 61,6 76,3 76,5 37
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 178
lieferung erfolgt regelmäßig nach Fertigstellung jedes »Stückes«. Da ein solches rund
40 m lang ist, so kann schon der zufällige Umstand, daß eine Ablieferung kurz vor oder
umgekehrt gleich nach Schluß des Monats erfolgt, eine ziemlich starke Schwankung
bedingen. Der Arbeiter hat es aber ferner in der Hand, absichtlich ein Stück auf dem
Warenbaum zu behalten und erst einige Zeit nach der effektiven Fertigstellung abzulie-
fern. Dies zu tun kann er ein erhebliches Interesse haben, wenn, wie im vorliegenden
Fall, ein Prämienlohnsystem kombiniert mit Minimallöhnen besteht. Er läßt dann in ei-
nem Monat mit ohnedies (aus irgendeinem Grund) geringerer Leistung das Stück auf
dem Stuhl und begnügt sich mit dem Minimallohn: infolge dieser Zurückhaltung ge-
langt er dann im folgenden Monat zu einer (scheinbar) besonders hohen Leistung und
damit in eine hohe Pmienklasse. Er kann auf diese Art je abwechselnd einen Monat
»gemächlic im Schatten des Minimallohnes arbeiten und es sich doch, durch den er-
wähnten Kunstgriff, ermöglichen, im folgenden ohne übermäßige Anstrengung Prämien
zu verdienen.
Daran, daß von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird und daß, auch wo dies
nicht absichtsvoll geschieht, die Berechnung auf Grundlage der naturgemäß immer
stoßweisen Ablieferung die Zahlen merklich beeinflußt, ist nicht zu zweifeln. Bei-
spielsweise sind in der Tabelle für Januar bei dem Arbeiter k als Leistung 121,6 % ver-
zeichnet; die Angabe ist in Klammern gesetzt, weil der Arbeiter nur die 6 ersten Ar-
beitstage des Monats gearbeitet hat und die Zahl (im Gegensatz zu allen andern ähnli-
chen Fällen, wo solche kurzen Arbeitsperioden als unvergleichbar, einfach gestrichen
sind) nur des Beispiels halber ausnahmsweise in die Tabelle aufgenommen ist. Sie steht
um mehr als 50 % über der vorhergehenden sowohl als über der nachfolgenden Monats-
leistung, und dies erklärt sich fast gänzlich dadurch, daß in diese 6 Arbeitstage die Ab-
lieferung von 4 Stück Ware, je 2 für jeden der beiden bedienten Stühle, fällt (in diesem
Fall vielleicht ganz ohne planvolle Absicht des Arbeiters). Aus dem Zeitpunkte der Ab-
lieferung erklären sich aber, nach Ausweis der Notizen in den zur Kontrolle der Ketten
geführten Stuhlkarten, auch noch einige andere ähnlich starke Schwankungen, wenn
auch freilich bei weitem nicht alle
1)
. Daß vielmehr noch andere, und zwar
1)
Wie s t a r k die Einwirkung speziell des Lohnsystems als solchen dabei ist, ßt sich nicht si-
cher sagen. Es findet sich eine Anzahl Arbeiter, bei denen
11. Akkordverdienste und Leistungsdifferenzen. 179
sehr
kräftig wirkende Motive für jene Schwankungen vorhanden sind, wird bald zur
Erörterung gelangen.
in den Lohnblocks die Schwankungen von Monat zu Monat nach Einführung des Prämien- und Mini-
mallohnsystems sich s t e i g e r n . Daneben stehen andere, bei denen sie sich teils nicht steigern,
teils abnehmen. Dies letztere ist besonders bei einigen Arbeitern der Fall, deren an sich hohe Leistung
sich nach Einführung des Prämiensystems noch s t e i g e r t e (z. B. d und o der Tabelle), und es
ist ja auch an sich naheliegend, daß die Versuchung, mittels der erwähnten Manipulation zwischen
gemächlicher Arbeit bei sicherem (Minimal-) Verdienst und gesteigerter Anstrengung mit Prämien-
verdienst unter Mitausnutzung des Arbeitsprodukts des vergangenen Monats abwechseln zu nnen,
besonders bei Arbeitern wirksam werden m, welche nach Maßgabe ihrer Veranlagung oder Geübt-
heit nicht so leicht in der Lage sind, kontinuierlich Prämien zu verdienen. Und als Gegenwirkung ge-
gen jene Einwirkung des Lohnsystems kommt in Betracht, daß die Meister nur den tüchtigsten Arbei-
tern gestatten, je zwei »Stück« Leinen zusammenabzuliefern, die untüchtigeren und also zu jenem
Kunstgriff am meisten geneigten dagegen behufs gründlicherer Qualitätskontrolle veranlassen, jedes
Stück einzeln abzugeben. Im ganzen aber überwiegt die Schwankungsamplitude nach der Einführung
des Lohnsystems diejenige der Zeit vorher (wo ein festes Prämiensystem und ein durchweg g l e i -
c h e r Minimallohn noch nicht bestanden), doch nicht so stark, daß man sich die Wirkung der
a b s i c h t l i c h e n Ablieferungsverzögerung auf die Zahlen als allzu stark vorstellen dürfte.
Keineswegs einfach wäre die allgemeinere Frage zu beantworten: welche Einwirkung denn das
Lohnsystem, rein als solches, auf die E n t w i c k l u n g d e r L e i s t u n g e n i m
g a n z e n gehabt hat. Von den männlichen Arbeitern, die hier vornehmlich interessieren, weisen im
Durchschnitt der 3 Monate, welche auf die Einführung des Lohnsystems folgten, genau
2
/
3
eine Erhö-
hung der Leistung gegenüber dem Durchschnitt des vorhergehenden Quartals auf,
1
/
3
eine Verminde-
rung. Das dann folgende Quartal zeigt eine weitere Erhöhung der Leistung nur in
1
/
5
der Fälle, in
2
/
3
ein Sinken, im Rest Gleichbleiben, dergestalt, daß gegenüber dem Quartal v o r der Einführung des
neuen Lohnsystems nur die kleinere Hälfte (
7
/
15
) gestiegen, ebensoviele gesunken,
1
/
15
gleichgeblieben
sind. Dabei ist freilich in Betracht zu ziehen, daß dies Quartal einerseits die dunkelste Jahreszeit um-
faßt, außerdem aber die gewerkschaftliche Bewegung damals besonders lebhaft war (das Prämiensy-
stem mußte, gleichviel ob so beabsichtigt, jedenfalls der Sache nach als ein Gegenzug gegen die ge-
werkschaftlichen Solidaritätsprinzipien erscheinen) und ferner (wovon unten) der Sortenwechsel rela-
tiv besonders stark einwirkte. Vergleicht man nun aber mit dem der Einführung des Prämiensystems
vorangegangenen Quartal die gleichen drei Monate des folgenden Jahres, so zeigt sich in
8
/
15
der Fälle
eine Senkung, in
3
/
15
ein Gleichbleiben, und nur in
4
/
15
ein (allerdings erhebliches) Steigen der nach
dem Akkordverdienst bemessenen Leistung. Die Vergleichbarkeit wird auch hier durch ziemlich
starken Sortenwechsel, technische, mit Akkordherabsetzungen verbundene Aenderungen an einer grö-
ßeren Anzahl Stühlen, beginnende Depression, welche die Intensität der Arbeitsausnutzung herabsetz-
te, gesrt. Aber eine gewisse Erschlaffung nach dem anfänglichen Anlauf bleibt für manche Arbeiter
unverkennbar, und es scheint ziemlich sicher (und entspricht auch den Eindrücken der Betriebslei-
tung), daß das Prämiensystem in Verbindung mit dem garantierten Mindestverdienst ungleich, je nach
der Leistungsfähigkeit und sonstigen Individualität der Arbeiter gewirkt hat: eine Minorität darunter
sowohl die jüngsten, im Anlernen begriffenen wie die an sich besonders leistungs-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 180
Sehen
wir nun die Zahlen, so wie sie einmal sind, zunächst daraufhin an, ob und wo
sich etwa Regelmäßigkeiten irgendwelcher Art entdecken lassen, so llt auf den ersten
Blick nur e i n e ins Auge: die D u r c h s c h n i t t e der Leistungen dieser 13 Mo-
nate stufen sich bei den weiblichen und bei den Webern an Modell II ziemlich genau
entsprechend dem Alter ab
1)
, während dies bei den Webern an Modell I keineswegs der
Fall ist. Nach dem Alter rangiert, stellt sich die Durchschnittsleistung bei:
1. der Stuhlklasse I: b e e a d f
Alter Jahre 48 40 37 30 28 24
Leistung %: 94,9 81,1 104,5 87,7 110,7 71,7
2. der Stuhlklasse II: o k m l n p
Alter Jahre 44 37 33 32 31 31
Leistung %: 90,9 83,3 74,5 74,1 73,6 70,7
3. den Weberinnen:
Alter Jahre 27 24 23 22 19,5
Leistung %: 99,6 98,0 77,3 62,2 60,4
fähigen Arbeiter des Betriebes ist zu einer ziemlich kräftigen Steigerung ihrer Leistungen angeregt
worden; ihnen scheinen andere Arbeiter ebenfalls eine Minorität gegenüberzustehen, welche im
Hinblick auf den garantierten Minimalverdienst ihre Leistung nicht nur nicht gesteigert haben, sondern
eher geneigt waren, weniger zu leisten; endlich hat ein Bruchteil auf die Aenderung des Lohnsystems
anscheinend gar nicht dauernd merklich reagiert. Unter den letzten beiden Kategorien befinden sich
die an sich minder leistungsfähigen Arbeiter des Betriebes, die Prämien nicht oder nur ausnahmsweise
zu erhoffen haben. Vielleicht ist das Prämiensystem in d i e s e r Kombination geeignet, die
D i f f e r e n z i e r u n g der Arbeiter je nach der Leistungsfähigkeit und -willigkeit zu betonen.
Seine Wirkung muß aber je nach der Eigenart der Arbeiter und je nach dem Milieu in jedem Betriebe
eine verschiedene sein. Natürlich entscheidet für die Wirkung auch das M a ß der Prämien: im vor-
liegenden Fall steigen sie bis zu 8 % des Lohnverdienstes an, so daß der Anreiz zur Mehrleistung, an-
gesichts der zahlreichen vom Arbeiter nicht abhängigen Umstände, welche diese bedingen, sich in mä-
ßigen Schranken hält. Wesentlich höhere Prämien aber würden einerseits allerdings zum »Rennen«
provozieren, andrerseits da die Zahlung der Prämien auch von der Erreichung eines gewissen, stets
nur durch Schätzung feststellbaren Q u a l i t ä t s minimums abhängt den, ohnehin in diesem Um-
stand liegenden, an sich unvermeidlichen, Konfliktsstoff zwischen den Arbeitern und dem abnehmen-
den Meister häufen und so das System bei den Arbeitern schnell diskreditieren.
1)
In der Tabelle sind die Zahlen einfach der Nummernfolge in der Stammrolle entsprechend grup-
piert, welche ihrerseits, soweit bei der Zuteilung der Nummer nicht reine Zufälligkeiten obwalten, im
allgemeinen der Zeit des Eintrittes in den B e t r i e b einigermaßen korrespondiert. Bei den die
zumeist bei ihrer Familie wohnen, überhaupt aber mehr ortsgebunden zu sein pflegen, entspricht diese
ihrerseits, wie man in der letzten Spalte sieht, am meisten dem Alter der Mädchen. (Das »Alter« be-
deutet hier stets dasjenige Lebensjahr, welches, laut Stammrolle, der Arbeiter innerhalb des hier zug-
rundegelegten 13monatlichen Zeitraums v o l l e n d e t e . )
11. Akkordverdienste und Leistungsdifferenzen. 181
Bei den Webern an Modell I haben also die drei ältesten zwar zusammengenommen
einen höheren Durchschnitt (93,5) als die jüngeren (86,7), im einzelnen aber herrscht
anscheinend Willkür, die Höchstleistung repräsentiert der zweitjüngste und auch jener
Unterschied der beiden Durchschnitte wird durch Mitzählung des jüngsten erst im An-
lernen begriffenen Webers bedingt. Dagegen repräsentieren die beiden anderen Katego-
rien: Männer der Klasse II und Weberinnen, eine sehr klare Abstufung der Leistung
nach dem Alter. Diese nnte nun bei den winzigen Zahlen durchaus zufällig sein. Und
ein herer Blick ergibt, daß jedenfalls nicht das Lebensalter rein als solches, sondern
die U e b u n g es ist, welche die Abstufung der Leistungen erklärt. Bei den Webern
der Klasse II waren die hier aufgeführten beiden lle (o und k) mit den Höchstleistun-
gen alte, sehr geübte Handweber; das gleiche gilt von dem einen Weber der Klasse I b,
welcher eine der Höchstleistungen aufzuweisen hat; die Antezedenzien von c und von d,
eines besonders gewandten und gleichmäßigen jüngeren Webers, sind mir nicht be-
kannt, doch ist er Handweberkind.
Allein auch von den übrigen älteren Arbeitern sind die Mehrzahl aus Handweberkin-
dern rekrutiert. Viele von ihnen mögen freilich durch stärkere Ziegeleiarbeit (die, als
Sommerarbeit, neben dem Handweben als Winterarbeit herging), einige auch durch
stärkere Betätigung in landwirtschaftlicher Arbeit in ihrer Uebung im Weben gehemmt
worden sein. Indessen ist es sehr wahrscheinlich, daß die geringere Koinzidenz der Al-
ters- (und das heißt: der Uebungsstufen) mit der Durchschnittsleistung bei den Webern
sub I gegenüber den übrigen Webern noch andere Ursachen hat. Zunächst die größere
Bedeutung, welche die Qualitäten des A u g e s gerade auf diesen Stühlen, bei der
hier (Anm. o. S. 165) besonders umfangreichen breiten Fläche feiner, sich bewegender
Fäden haben: es wurde schon erwähnt, daß im fünften Lebensjahrzehnt und zuweilen
schon etwas früher die abnehmende Sehschärfe für die Leistung des Webers überhaupt
recht fühlbar ins Gewicht zu fallen beginnt. Dann aber die konkreten Verhältnisse die-
ses Betriebes: die Sorten der Klasse I waren, im Gegensatz zu den andern, in der hier
analysierten Periode n e u eingeführte Sorten und wurden permanent weiter neu ein-
geführt, neue Akkordsätze erstmalig auf ihre »Richtigkeit« hin an den Leistungen ge-
prüft; in einer solchen Periode müssen not-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 182
gedrungen die reinen Akkordverdienste der davon betroffenen Arbeiter eine Neigung zu
irrationalem Schwanken haben, die garantierten Minimalverdienste sollten zweifellos
u. a. auch diese Quelle von Unzufriedenheit stopfen. Immerhin: die höhere Qualifikati-
on früherer dauernd geübter Handweber ist an sich und auch nach den Erfahrungen des
Betriebs wohl sicher. Am günstigsten freilich werden von der Betriebsleistung die
Chancen solcher Arbeiter beurteilt, welche von Jugend auf an den m e c h a n i -
s c h e n Webstühlen (oder doch in der Spulerei) beschäftigt waren: der augenfällige
schnelle Uebungsfortschritt, der in den Monatsdurchschnitten bei dem Arbeiter f der
Tabelle zu beobachten ist, illustriert dies gut.
Was ferner die Weberinnen in Klasse III anlangt
1)
, die ja mtlich erst im dritten Le-
bensjahrzehnt stehen, so spielt in gewissem Maß auch hier die zunehmende Uebung in
der Bedienung von Webstühlen mit. Aber die higkeit zu Höchstleistungen kann hier
von Arbeiterinnen durch Uebung am Webstuhl a l l e i n wiewohl diese natürlich
Voraussetzung ist wohl nicht erworben werden, sondern erfordert spezifische, und
zwar ziemlich seltene, persönliche Qualitäten, welche sowohl auf Anlage (Geistesge-
genwart und Ruhe, also: sehr sichere Nerven), wie auf anerzogener Lebensführung
(worüber früher gesprochen ist), beruhen können
2)
.
Wenn man nach anderweiten Regelmäßigkeiten in der Bewegung der Akkordver-
dienstzahlen in der Tabelle Umschau lt, so zeigt sich sehr wenig davon. Daß der Ue-
bergang zu anderem Stuhlmodell, also zu mannigfach andersartigen Arbeitsbedingun-
gen zunächst einen Kollaps der Akkordverdienstziffer hervorbringt, ist ohne Kommen-
tar erklärlich: die Leistung steigt dann, der Regel nach, infolge der Uebung bald wieder
an. Aber auch jener in dieser Tabelle durchweg sich zeigende
3)
Kollaps ist keine
1)
Durch Versehen war auf S. 165 d. B. die Zahl von 4 Webstühlen als »normal« angegeben: es
muß auf der untersten Zeile im Text und Zeile 6 S. 166 in der Anmerkung beidemal heißen: » b i s
4 « , wobei überdies »4« als eine wesentlich »idealselten erreichbare »Norm« zu gelten hat. Ein S.
163 (bzw. 169) begangenes Versehen ist: der dort erwähnte männliche Weber ist nicht jener (einzige)
sächsische Arbeiter des Betriebes, mit dem ich ihn bei der Niederschrift verwechselt habe. Der letztere
ist vielmehr der Arbeiter p der Tabelle I, der durch seine niedrige Leistung an g e w ö h n l i c h e n
Stühlen auffällt und unter dem Frauen-Niveau steht.
2)
Dies tritt in dem sehr starken Abstand der Akkord-Verdienste hervor. Ueber die Gründe s. o. S.
165 Anm.
3)
Der Kollaps würde, wenn die Geschlechtszulage beim Stuhlmodell II (s. oben S. 165) nicht ab-
gezogen wäre, noch um 20 % stärker erscheinen.
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 183
ausnahmslose Erscheinung: ein anderer Arbeiter, der auf Stuhlmodell II in den gleichen
Monaten (August 07 bis August o8) 63,0 65,0 68,4 70,1 68,0 75,5 71,0
77,0 77,3 72,6 68,6 64,0 65,0 % das Soll-Normale verdient hatte, brachte es
beim Uebergang zum Stuhlmodell I im September 08 alsbald auf die sehr hohe Zahl von
124,3 %, war also wohl für diesen Wechsel nach seiner Eigenart spezifisch geeignet.
Im übrigen zeigt die Tabelle auf den ersten Blick auch in den Verhältnissen von ei-
nem Monat zum nächstfolgenden Monat keine Gleichartigkeit der Bewegung der Zah-
len und nur in einigen Fällen eine deutliche »Gesamttendenz« derart, daß die entgegen-
gesetzten Bewegungen als zufällige, durch besondere Bedingungen hervorgerufene
»Ausnahmen« angesehen werden nnten. Einigermaßen deutlich ist mir die Tendenz
zum Sinken vom Oktober zum November und dann wieder zum Steigen im Frühjahr.
Da über diese, offenbar durch eine Kombination verschiedener Motive: Einfluß der
künstlichen Beleuchtung in der dunklen Jahreszeit, starre lte im Januar und Februar,
Verstimmungen anläßlich der Gewerkschaftsbewegung, zahlreiche neue Sorten, schon
früher und zwar auf Grund der Heranziehung nicht nur der in diese Tabelle aufgenom-
menen, sondern aller nach Lage des Materials vergleichbaren Arbeitskräfte
1)
gesprochen
wurde, sei hier darauf nur erneut verwiesen.
12.
Es liegt nun, da, wenigstens vorerst, diese Akkordverdienstzahlen eine gewisse Steri-
lität zeigen, insbesondere die Schwankungen weit überwiegend ganz irrational erschei-
nen, der Gedanke nahe, ob man nicht durch Beobachtung der Leistungsschwankungen
in k ü r z e r e n Perioden, möglichst von Tag zu Tag, also mittels der Stuhluhr, wel-
che die Zahl der von Arbeitern gemachten Schüsse exakt für jede beliebige Zeiteinheit
anzeigt, zu besseren Resultaten kommen könne. Dies um so mehr, als ja, wie die obigen
Ausführungen zeigten, in den Zahlen, welche die Monatsakkordverdienste angeben,
stets das Ergebnis von K a l -
1)
Die in diese Tabelle aufgenommenen Arbeiter, welche hrend dieser Periode die Stuhlart ge-
wechselt haben (g, h, i) und alle nicht während der g a n z e n Periode beschäftigten mußten andrer-
seits damals ausgeschieden werden.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 184
k u l a t i o n steckt: ihre Vergleichbarkeit untereinander beruht auf der Vorausset-
zung, daß die Akkordsätze für die Sorten, die ein Arbeiter nacheinander verarbeitet,
»richtig«, d. h. so kalkuliert sind, daß sie das untereinander verschiedene M der Ar-
beitsanstrengung, welches diese verschiedenen Sorten erfordern, durchaus zutreffend
berücksichtigen. Wir werden weiterhin noch sehen, welche Rolle die »Anpassung« des
Arbeiters an die Akkordbemessung für die Leistungsschwankungen spielt, hier erin-
nern wir uns vor allem, daß ja eine wirklich im exakten Sinne »richtige« Bemessung des
Akkords im Prinzip nur dann möglich re, wenn die verschiedenen Leistungen nur in
der Q u a n t i t ä t oder Intensität ihrer Anforderung an die Arbeitskraft unter sich
verschieden wären. Allein dies ist durchaus nicht der Fall. Die Unterschiede der Anfor-
derungen an den Arbeiter sind mindestens insofern q u a l i t a t i v e r Art, als die
einzelnen in Anspruch genommenen »Fähigkeite etwa: Konzentrationsfähigkeit,
Schnelligkeit des Reagierens, Gleichmäßigkeit der Aufmerksamkeitsspannung usw., de-
ren jede ja in g e w i s s e m Grade bei jeder Sorte erfordert wird, bei den verschiede-
nen Sorten in sehr v e r s c h i e d e n e r Weise kombiniert in Betracht kommen. Die
Akkordkalkulation geht dann auch natürlich ganz und gar nicht von Erwägungen über
das Maß, in welchem jede von jenen verschiedenen »Komponenten« der Leistung bean-
sprucht wird, sondern umgekehrt rein empirisch von Erfahrungen über den Leistungs -
e f f e k t das Maß der Maschinenausnützung aus, den ein »brauchbarer Durch-
schnittsarbeiter« bei der Arbeit in einer Sorte zu erzielen p f l e g t , sie verfährt also,
wie dies ganz allgemein schon früher gesagt wurde, aus sehr naheliegenden Gründen,
gerade entgegengesetzt, wie eine »psychophysische Analyse« der Arbeit es tun müßte.
Sollten wir also nicht besser tun, Zahlen, welche auf einer derartigen Grundlage ruhen
und, wie wir sahen, schon weil sie nicht einmal wirklich auf der Basis der »Leistung«,
sondern der A b l i e f e r u n g der Ware ruhen, allen möglichen Zufällen unterlie-
gen, ganz beiseite zu lassen, und uns ausschließlich an die Ergebnisse von S t u h l -
u h r - (Schußhler-)Aufnahmen zu halten, die ja doch, da sie wirklich die Arbeit
selbst unmittelbar »kontrollieren«, ein in ganz andrem Sinn »exaktes« Material darzu-
bieten scheinen?
Es ist nun zweifellos, daß die Messung der von den Arbeitern gemachten S c h u ß -
z a h l durch jene Vorrichtungen in der Tat
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 185
den Ausdruck »exakt« verdient, und daß also, s o w e i t sich die Leistung des Arbei-
ters in dieser Schußzahl ausdrückt, sie auch dadurch »exakt« gemessen wird. Allein daß
die für die Beurteilung des Leistungsmaßes denn doch äußerst wichtige Q u a l i t ä t
des erzeugten Gewebes dabei gänzlich unter den Tisch fällt (diese kann durch Heran-
ziehung der Kettenkontrollkarten mit den Notizen des die Stücke abnehmenden Beam-
ten ermittelt werden aber natürlich weder so noch irgendwie sonst »exakt«, diesen
Mangel teilt die »Stuhluhrmessung« mit den in der Tabelle I wiedergegebenen »nack-
ten« Akkordverdiensten (bei diesen wäre darüber durch Angabe, ob P r ä m i e n ge-
zahlt sind, was nur bei normaler Güte der Ware geschieht wenigstens für die U e -
b e r normalleistungen einige Klarheit zu gewinnen, worauf wir gelegentlich zurück-
kommen). Ferner aber ist es auch bei Stuhluhrmessungen wieder nur der Endeffekt: die
»Leistung«, welche feststeht, und beim V e r g l e i c h e n mehrerer Leistungen un-
tereinander bleiben wir auch hier im Unsichern, w a s solche Schußzahlen eigentlich
über die A r t der Leistung: über das Maß, heißt das, in welchem die verschiedenen
für die Weberei überhaupt relevanten Qualitäten des Arbeiters dabei in Anspruch ge-
nommen werden, aussagen nnen (s. o. S. 129 f.). Ein einfaches Vergleichen nach der
Zahl der per Arbeitstag oder per Stunde vom Arbeiter gemachten Schüsse würde bei je-
dem Sortenwechsel gänzlich schiefe Resultate ergeben. Wieviel Schüsse der Arbeiter
im idealen Grenzfall der in der Wirklichkeit nie eintritt in einer Zeiteinheit machen
k ö n n t e wenn nämlich die Maschine keinerlei Störung erlitte, das Garn unzerreiß-
bar wäre, keine Entleerung und Neufüllung des Schützen mit Garn nötig würde, keiner-
lei Fehler in der Herstellung der Kette Abhilfe verlangten, keine Verwirrung der Fäden
aus anderen Gründen einträte, kurz die Maschine und auf ihr das Garn derart von selbst
kontinuierlich weiter liefen und Gewebe erzeugten, daß d e r A r b e i t e r
ü b e r f l ü s s i g w ä r e , dieses »ideale« Maximum der Maschinenaustzung
richtet sich natürlich vor allem nach der Geschwindigkeit des Ganges der M a s c h i -
n e : ihrer Tourenzahl per Minute, und das Optimum dieser Tourenzahl ist bei jeder
Garnsorte, nach dem M ihres Reißwiderstandes der wieder von Feinheit, »Draht«
(Maß der beim Spinnen dem Garn gegebenen Drehung), Güte des Rohmaterials usw.
abhängt – und ihrer Angreifbarkeit durch Rei-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 186
bung auf dem Stuhl sehr verschieden
1)
. Eine gesteigerte Tourenzahl nun nimmt unzwei-
felhaft ceteris paribus die Aufmerksamkeit des Arbeiters in erhöhtem Maße in Anspruch
und greift wohl auch wiederum: ceteris paribus nervös stärker an; aber die »cetera«
sind eben regelmäßig dabei n i c h t »gleich«: denn wenn es sich um zwei untereinan-
der verschiedene Sorten handelt, so kann jenes Moment durch andere, die Arbeit er-
leichternde Umsnde mehr als ausgeglichen werden. Die hohen Tourenzahlen bei Ver-
wendung der gröberen und deshalb bei gleicher Güte des Materials ceteris paribus we-
niger refähigen Garne gehen, da gröberes Garn auch gröberes Gewebe bedeutet, doch
im großen und ganzen mit einer Entlastung der Aufmerksamkeit und des Auges des Ar-
beiters zusammen, andrerseits wieder bedeutet aber das gröbere Garn, da von ihm nicht
so viel in den Schützen hineingeht, wie von feinerem, eine Steigerung der Zahl der Ar-
beitsunterbrechungen durch neue Schützenfüllungen, unter Umständen um 100 % und
mehr pro Arbeitstag, also für den Arbeiter: m e c h a n i s c h e Mehrarbeit. Es kann
also keine Rede davon sein, einfach die absoluten Zahlen der Schußzähler pro Tag oder
Stunde zum Vergleich zugrunde zu legen
2)
. Vielmehr muß die R e l a t i o n zwischen
g e m a c h t e r und m ö g l i c h e r Schußzahl dafür geeigneter erscheinen. Dazu
einige Vorbemerkungen. Das Maß, in welchem eine von einem Arbeiter bediente Ma-
schine hinter jener idealen Maximalzahl von Schüssen, welche sie bei gegebener Tou-
renzahl in einer Zeiteinheit (Tag, Stunde) machen könnte, zurückbleibt, ist in erster Li-
nie Funktion von zwei Bedingungen: 1. der erforderlichen H ä u f i g k e i t der
Schußfüllung (von der eben die Rede war) ein Umstand, der vom Arbeiter ganz unab-
hängig ist und der, von seiner Geschicklichkeit abhängigen S c h n e l l i g k e i t
der Neuauffüllung, 2. der ufigkeit des Eintritts von Kettenfadenbrüchen (Schußfa-
denbrüche spielen eine ganz untergeordnete Rolle),
1)
Bei sehr hohen Tourenzahlen tritt auch der dann schnell steigende Maschinenverschleiß in
Rechnung. In der Weberei kann Baumwolle die chsten Tourenzahlen (bis über 200 pro Minute) er-
tragen; in der Tuchweberei sind dagegen 75 Touren schon eine ziemlich häufige Zahl, die Leinewebe-
rei steht zwar zwischen beiden, jedoch den mittleren Zahlen der Tuchweberei ganz erheblich her als
den mittleren Zahlen der Baumwollweberei, dabei aber mit 30 bis 40 % Unterschieden je nach Sorte
und Material.
2)
Damit soll durchaus nicht gesagt sein, d nicht auch ein solcher Vergleich lehrreich sein nne
und bei einer wirklich »exakten« Untersuchung dieser Sachverhalte, die hier nicht beabsichtigt sein
kann, gemacht werden sollte.
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 187
welche teils von der Garnnummer, teils von dem Garnmaterial, daneben auch von der
Güte der Schlichte (also von Dingen, die für den Weber »gegeben« sind), abhängt, teils
aber auch von seiner Aufmerksamkeit auf die in das »Fach« einlaufende Kette, da ein
bedeutender Teil der Fadenbrüche Folge von Verwirrungen von Kettenfäden ist, welche
der Arbeiter rechtzeitig beseitigen kann und soll. Was zu diesen beiden Hauptquellen
von Unterbrechungen des Maschinenganges noch an Bedingungen der Arbeitsleistung
hinzutritt, betrifft vornehmlich die Qualität des Gewebes, in deren Interesse der Arbeiter
das Laufen der Kette kontinuierlich beobachten und erforderlichenfalls regulieren muß:
auch hier kann die Notwendigkeit einer Abstellung der Maschine eintreten, allein je
größer die Uebung und Sicherheit des Arbeiters, um so seltener. In jedem Falle steht,
wenn man die erfahrungsgemäß von dem Durchschnitt einer gegebenen Arbeiterschaft
in einer Zeiteinheit bei hinlänglichem Anreiz zur optimalen Anspannung ihrer Fähigkei-
ten e r z i e l b a r e Anzahl von Scssen mit jener theoretischen, idealen Maximal-
zahl der Schüsse, wie sie die Multiplikation der Tourenzahl mit der Zahl der Arbeitsmi-
nuten ergibt, vergleicht, diese normalerweise zu e r w a r t e n d e Schußzahl (und das
heißt: das normalerweise zu erwartende M der Ausnützung der Maschine) zu der
i d e a l e n Schußzahl in einem Prozentverhältnis, welches bei der gleichen Touren-
zahl für jede verschiedene Sorte v e r s c h i e d e n ist und für jede g e g e b e n e
Sorte bei einer bestimmten Tourenzahl ihr O p t i m u m erreicht. Wo aber dies Op-
timum des erzielbaren »Nutzeffekts« bei jeder Sorte liegt, hängt einerseits, wie schon
diese flüchtigen Bemerkungen ergeben, von einer ganzen Anzahl rein technischer oder
im Material liegender Momente ab, andrerseits aber auch von Qualitäten der Arbeiter-
schaft und zwar für jede Sorte v e r s c h i e d e n e n Qualitäten derselben. Da über-
dies die einzelnen Arbeiter diese Qualitäten in sehr verschiedenen Assortimenten in sich
vereinigen, wird die Betriebsleitung auch bei einer und d e r s e l b e n Sorte die Fest-
setzung der Tourenzahl unter Umsnden auch individuell verschieden gestalten; im
ganzen aber wird auch hier wieder mit Erfahrungen über das, was d u r c h -
s c h n i t t l i c h die Arbeiterschaft, so wie sie jeweils einmal ist, an Leistungen »her-
gibt«, operiert werden müssen: man kennt das erfahrungsgemäße ungefähre Durch-
schnittsoptimum der Tourenzahl, bemißt den Akkordsatz
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 188
nach dem durchschnittlich erziel b a r e n »Nutzprozent« (vom idealen Maximum) und
weist dann den einzelnen Arbeitern diejenigen Sorten zu, für die sie, nach den mit ihnen
gemachten Erfahrungen, sich relativ am besten eignen, d. h. deren Verarbeitung durch
sie einerseits für den Betrieb, andererseits für sie selbst, die relativ rentabelste ist. Han-
delt es sich um Einführung neuer Sorten, so ist unter Umsnden ein gewisses Probieren
dabei unausbleiblich, bis feststeht, welche Arbeiter für diese Sorten relativ am geeignet-
sten und fähig sind, das Soll-Normale des Akkordverdienstes an ihnen zu erzielen. Alles
in allem steckt offensichtlich auch in den scheinbar ganz »exakt« gemessenen Stuhluhr-
zahlen überall die K a l k u l a t i o n der Betriebsleitung, und dieser Umstand erfor-
dert Berücksichtigung, sobald V e r g l e i c h e zwischen mehreren Arbeitern oder
zwischen Leistungen desselben Arbeiters zu verschiedenen Zeiten beabsichtigt werden.
Wir nnen hier jedenfalls nicht anders verfahren, als daß wir statt der für V e r -
g l e i c h s zwecke zwischen Leistungen verschiedener Sorten
1)
ganz unbrauchbaren
absoluten Schußzahlen die »Nutzprozente« (Prozente der idealen, »theoretischen« Ma-
ximalleistung der Maschinen) zugrunde legen
2)
, und zwar die aus der Lohnkalkulation
ersichtliche Relation der erwarteten bzw. v e r l a n g t e n Nutzprozente für die Ori-
entierung über die durchschnittlichen Verhältnisse der Schwierigkeit der Arbeit an ver-
schiedenen Sorten, die vom Arbeiter jeweils wirklich g e l e i s t e t e n zur Feststel-
lung des Schwankens seiner Leistung.
Vorerst aber fragen wir: stellt denn nun schließlich wenigsten die gliche Schußlei-
stung eines und desselben Arbeiters und an einer und derselben Kette eine einigermaßen
konstante Größe dar, konstanter als die Schwankungen der monatlichen Verdienst-
durchschnitte? Wir werden dies schon nach dem, was früher
1)
Für Leistungen verschiedener Arbeiter in d e r s e l b e n Sorte lagen mir nur 4 Beispiele vor,
von denen s. Z. die Rede sein wird. Zwei derselben sind schon früher (S. 145 bzw. S. 170) benutzt
worden.
2)
Und zwar wird dabei stets so verfahren, daß die Tagesziffern sämtlich in Prozente der
d u r c h s c h n i t t l i c h von diesem Arbeiter an dieser Kette erzielten Nutzeffektleistungen um-
gerechnet werden. Was die H ö h e der erzielten Nutzprozente selbst anlangt, so ist sie in der Lei-
nenweberei sehr viel niedriger als in der Woll- und Baumwollweberei, die mit Nutzprozenten zwi-
schen 80 und 90 % der theoretischen Maximalleistung (auch noch darüber) rechnen nnen, hrend
in der Leinenweberei die Durchschnittsleistung je nach Sorte, Material und Arbeiterschaft gar nicht
selten bis unter 50 % sinkt, zumal bei Bedienung mehrerer Stühle. Uns interessieren hier indessen die-
se Abstufung nicht.
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 189
(S. 144 f.) gesagt ist, kaum erwarten. Oder zeigen sich in den Bewegungen der Arbeits-
leistung von Tag zu Tag bei m e h r e r e n gleichzeitig arbeitenden Webern irgend-
welche Regelmäßigkeiten? Nach dem, was S. 145 gesagt ist, werden wir das für denk-
bar, nach den Beobachtungen aber, die S. 171 wiedergegeben sind, nicht für sicher hal-
ten. Sehen wir also zu: die Tabelle II gibt für eine Anzahl herausgegriffener Monate und
für die in denselben der Stuhluhrkontrolle unterworfen gewesenen Arbeiter die Zahl
der vorliegenden Kontrollnotizen ist an sich klein und schwankt leider auch für die ein-
zelnen Monate sehr stark – für jeden Tag die Zahl wieder, welche das V e r h ä l t n i s
der betreffenden Leistung zum D u r c h s c h n i t t der von ihnen a n d e r b e -
t r e f f e n d e n K e t t e erzielten Schußzahl ausdrückt und (an den Sonntagsdaten
in gesperrten Ziffern) die Durchschnittszahl der vergangenen Woche
1)
. – Es fällt nun bei
Betrachtung dieser Zahlenreihen um mit diesem Punkt zu beginnen in die Augen,
daß irgendeine gleichmäßige und eindeutige Tendenz dieser Schwankungen n i c h t
vorhanden ist. Insbesondere zeigt sich, daß nicht etwa die jeweilig an einem Tag beste-
henden meteorologischen oder irgendwelche sonstigen »allgemeine Bedingungen der
Arbeit die Schwankungen zu erklären vermögen.
Wenn die glichen Schwankungen der Arbeitsleistungen von solchen »allgemeinen«
Umständen irgendwelcher Art in beträchtlichem Grade abhängen sollten, so ßte, we-
nigstens in irgendwie annäherndem Maße, doch offenbar die große Mehrzahl der
gleichzeitig beschäftigten Arbeiter sich von ihnen an einem und demselben Arbeitstage
in der gleichen Richtung beeinflußt zeigen. Das ist aber nicht der Fall. Wir fanden zwar
in einem früher besprochenen Fall, daß der Wassersättigungsgrad der Luft eine ziemlich
genaue Parallele mit der Leistung einiger an diesem Tage beschäftigter Arbeiter zeigte
2)
.
Und die Erschwerung der Arbeit durch gesteigerte Trockenheit der Luft ist an sich un-
zweifelhaft.
1)
Stets: die g a n z e Woche, so daß also die Zahlen von v e r s c h i e d e n e n Sorten
eventuell in denselben Durchschnitt zusammengezogen werden. 2 Arbeiter, die im Monat Juli noch
mit je 2 Ketten kontrolliert wurden, sind hier Raumes halber fortgelassen, sie werden später gesondert
erörtert.
2)
Um das Beispiel zu vervollständigen: 5 exakt beobachtete Arbeiter zeigten folgendes Verhalten:
% der Durchschnittsleistung (dieser 5 Arbeiter!) am: 23. (Hygrometerstand 77): 109,3; 24. (70): 99,5;
25. (64): 92,1. Vom 23. zum 24. hatten 2 Arbeiter eine Abnahme, 2 eine Zunahme der Leistungen, 1
blieb sich gleich. Vom 24. zum 25. hatten 4 eine Abnahme, 1 eine kleine Zunahme.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 190
Tagesleistungen von Arbeitern
(in % der in der betreffenden Kette von ihnen erzielten Durchschnittsleistung).
Tabelle II.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Januar
1908
Arbeiter 1 (c) 91,6 79,5 92,1 87,6 79,1 92,4 101,9 114,5 96,4 120,4 109,1
» 2 (m) 115,1 104,7 119,2 106,0 82,9 105,1 124,5 113,2 126,8 116,4 112,4 106,5 96,8 104,9 119,5
» 3 94,9 115,2 124,4 90,8 102,9 76,1 77,9 58,4 109,4 135,9 93,6 113,4 114,9 88,6 89,4
» 4 (g) §)84,7
105,0 106,3 100,9 103,1 86,2 97,9 85,0 93,2 106,0 93,9
» 5 (e)
Febr.
1908
Arbeiter
1
(c)
110,3
108,6
110,3
109,7
---
110,3
112,6
111,2
110,9
84,5
97,7
83,0
97,1
94,6
88,6
» 2 (m) 95,8 96,7 104,1 105,9 80,9 96,9 83,2 80,2 102,9 108,1 94,7 93,8
»
4
(g)
86,3
96,7
86,3
96,4
-------
110,1
110,0
104,0
99,0
106,6
111,5
116,0
96,6
97,1
104,4
»
5 (e) 77,7 92,0 77,7 72,2 81,1 91,3 80,7 67,5 84,2 (75,8)
Juni
1908
Arbeiter 1 (c) 96,0 106,0 88,1 §)88,4
86,7 93,0 96,0 110,4 115,4 99,5 109,5 107,5 100,8 108,3
» 2 (m) 88,5 86,2 81,7 102,1 †)82,1
58,9 82,4 99,2 117,2 100,0 109,8 116,9 106,9 61,9
» 4 (g) 117,3 105,5 101,8 116,0 100,9 122,3 109,3 98,7 93,6 101,8 103,2 114,3 102,3 101,9 114,3
» 5 (e) 115,8 115,3 103,0 107,7 102,1 95,0 106,4 93,8 115,7 114,1 103,3 105,7 106,4 107,8 95,8
» 6 (n) 93,3 103,6 98,9 104,7 94,1 91,1 97,6 106,4 102,4 98,9 107,5 99,2 102,5 106,0 86,4
Arbeiterin 7 88,4 108,0 107,1 99,0 105,7
Arbeiter 8 (h)
§)95,6
104,4 88,5 117,1 103,3 103,2 99,6
Juli
1908
Arbeiter
1
(c)
105,4
96,9
103,2
99,8
98,8
84,8
84,8
---
93,7
106,4
87,3
91,8
§)61,7
82,8
»
2
(m)
41,4
115,9
66,2
96,0
84,8
99,0
95,2
111,7
-------
132,4
82,7
109,4
70,3
-----
88,8
119,8
»
4
(g)
103,8
96,7
104,0
104,2
97,5
93,1
100,7
--------
100,7
105,1
100,9
10,2
96,1
-----
91,6
96,0
»
5
(e)
103,0
73,3
115,3
90,0
99,3
105,7
91,5
--------
88,1
81,5
119,3
101,0
103,8
-----
96,3
101,31
»
6
(n)
104,8
99,8
107,5
95,8
105,1
90,1
110,6
--------
79,8
96,1
82,1
90,0
106,5
-----
85,1
77,0
» 8 (h) 110,5 100,0 80,1 121,7 103,5 96,5 105,0 137,5 (113) §)104,1
» 9 111,1
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 191
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Januar
1908
Arbeiter 1 (c) 96,4 124,3 113,5 99,1 111,8 100,7 93,9 78,0 106,7 98,3 109,8 89,8 108,8 114,2 115,9
» 2 (m) 107,2 106,8 76,4 §)85,3
90,2 103,9 88,9 85,3 92,6 98,6 106,1 87,2
» 3 98,3
» 4 (g) 105,9 103,1 97,4 105,5 105,7 94,1 101,4 97,4 105,8 101,6 81,5 94,1 107,1 101,9 106,5
»
5 (e) §)114,0
114,2 123,1 92,4 110,9 114,4 119,7 76,6 93,1 67,5
Febr.
1908
Arbeiter 1 (c) §)108,2
88,5 82,1 90,0 79,0 89,6 84,0 95,9 113,4 87,2 91,6 106,1 96,4
» 2 (m) 92,1 88,7 (90,4)
97,0 92,1 113,7 89,8 104,7 99,4
» 4 (g) 97,1 79,7 103,4 §)86,5 91,6 91,6 90,1 94,5 92,6 76,0 96,0 104,3 91,9
»
5 (e) 71,3 136,4 144,4 114,4 150,9 123,5 106,2 133,1 132,6 104,9 73,1 72,9 105,8
Juni
1908
Arbeiter 1 (c) 114,6 106,6 97,6 103,2 105,1 113,1 89,4 89,4 76,7 109,1 99,3 96,1 91,1 97,4
» 2 (m) 81,4 108,0 112,9 90,3 88,0 113,1 109,8 102,1 §)85,9
99,7 115,3 74,1
» 4 (g) 111,2 109,8 121,9 114,1 113,9 105,7 §)54,7
79,4 90,7 103,2 97,5 88,4 83,9 92,7
» 5 (e) 100,0 92,5 74,1 86,8 92,1 116,0 115,3 122,8 103,0 99,0 109,5 110,8 100,8 114,1
» 6 (n) 85,9 113,3 109,4 100,1 95,3 118,0 99,8 101,1 112,3 103,6 105,8 108,1 114,5
Arbeiterin 7
Arbeiter 8 (h) 108,3 85,2 98,8 92,1 97,7 91,6 110,9 78,0 77,8 93,3 95,3 90,8 97,8 110,9
Juli
1908
Arbeiter 1 (c) 78,9 68,8 73,1 102,0 102,0 113,5 103,8 109,1 99,7 104,7 105,7 110,5 119,5 102,7 86,8
» 2 (m) 90,9 113,3 98,9 119,8 123,9 115,9 111,6 §)62,7
67,1 111,9 57,2 143,2 129,0
» 4 (g) 107,9 118,7 100,3 99,2 106,8 104,4 105,0 105,0 111,9 105,4 106,7 108,1 112,5 109,0 103,4
» 5 (e) 101,3 103,0 §)66,1
98,3 93,4 105,1 95,0 104,0 93,6 104,0 109,7 111,1 109,0
» 6 (n) 106,9 105,3 94,7 106,9 106,1 88,7 99,2 110,8 98,9 101,7 §)63,6
101,6 85,0 120,3
» 8 (h) 111,6 103,9 106,5 99,3 106,9 106,9 106,2 60,4 86,8 94,6 97,6 96,4 105,2 97,1 91,2
» 9 88,9 118,4 106,1 100,5 108,1 101,8 92,7 113,8 86,9 101,1 91,3 85,0 86,3 112,3 116,5
*) Neue Kette der gleichen Sorte. §) Neue Sorte. †) Desgl. auf andern Stuhl. 1) Aenderung am Stuhl. (die Buchstaben in Klammern hinter den
Ziffern der Arbeiter verweisen auf Tabelle I.)
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 192
Sie wird auch den Arbeitern, die sich dann über die sich stark steigernden Fadenbrüche
zu beschweren pflegten, subjektiv fühlbar. Gleichwohl findet sich nur noch an e i -
n e m einzigen anderen Tage ein ähnlich klar liegendes Beispiel
1)
. Dagegen zeigen die
wenigen sonstigen Tage, an denen der hygrometrisch gemessene Sättigungsgrad der
Luft 70 %, unterschritt – oberhalb dieser Grenze ist eine Einwirkung an den T a g e s -
ziffern überhaupt nicht konstatierbar nur sehr unbestimmte Einwirkungen, manche
aber das gerade Gegenteil der erwarteten Senkung der Leistung
2)
. Und ganz allgemein
zeigt die Tabelle, daß die Abweichungen vom Durchschnitt sich bei den verschiedenen
Arbeitern am gleichen Tage in allen erdenklichen Varietäten vorfinden und daß hier von
einer bei ihnen g e n e r e l l vorhandenen, daher möglicherweise durch ä u ß e r e
allgemeine Verhältnisse bedingten Tagesdisposition, deren Variation v o n e i n e m
T a g e z u m a n d e r n die gewaltigen Schwankungen der T a g e s leistungen
erklären würde, nicht die Rede sein kann
3)
1)
30. Mai 08: 1. Durchschnitt von 5 beobachteten Arbeitern: am 19. V. (H.-Stand: 70): 91,8; am
20. V. (65): 81,7; am 21. V. (70); 103,3. 2. Die Leistung steht am 20. V. bei jedem der 5 Arbeiter unter
seinem Leistungsdurchschnitt, bei 4 zeigt sie gegen den 19. V. Abnahme, bei 1 Zunahme; vom 20.
zum 21. zeigt sie bei allen 5 Zunahme; vom 21. zum 22. V. (Hygr.: 76) gegen den 21. bei 4 von ihnen
Zunahme, bei 1 Abnahme. Das ist immerhin leidlich dem Postulat entsprechend.
2)
Der 2. Juni 08 mit nur 68 % ist zugleich einer der ganz seltenen Tage, an dem bei mehr als 4
beobachteten Arbeitern a l l e (um 3,6-15,3 %) ü b e r ihrer Durchschnittsleistung standen. Der
1. Juni mit dem gleichen Hygrometerstand ist ein Montag, daher nicht brauchbar. Der 16. Mai mit
demselben niedrigen Sättigungsgrad zeigt ebenfalls Zunahme bei 4 von 5 beobachteten Arbeitern. Das
bedeutet natürlich nicht etwa die I r r e l e v a n z der hygrometrischen Verhältnisse, sondern nur:
1. daß erst bei s t a r k e m Unterschreiten des Soll-Normale, 2. in verschieden starkem Maß und
Tempo bei den einzelnen Arbeitern der Einfl sich m e ß b a r zeigt, endlich 3. daß er, wenn sich
die Schwankungen in Grenzen bis zu etwa
1
/
6
des Soll-Normale halten, so stark durch a n d e r s arti-
ge Umstände (s. u.) gekreuzt wird, daß er nicht direkt mbar hervortritt.
3)
Noch überzeugender ergibt sich dies aus folgender Beobachtung: In einer Zeitperiode von 197
Arbeitstagen wurde eine Anzahl in bezug auf ihre Leistungen mit der Stuhluhr exakt beobachteten Ar-
beitern an allen den Tagen, an welchen mehr als einer von ihnen arbeitete, auf ihre Abweichungen
vom Durchschnitt (100 %) der Leistung jedes von ihnen (an der jeweils von ihm bearbeiteten Kette)
untersucht und dann die einzelnen Tage daraufhin verglichen, wie weit v e r s c h i e d e n unter-
einander sich ihre Leistung verhielt. Die Zahl der Arbeiter schwankte an den betreffenden Tagen zwi-
schen 2 und 6. Dabei zeigte sich an 141 Tagen = 70 % der Tage eine Abweichung von m e h r als
15 % des Durchschnitts zwischen ihnen, und an 119 von d i e s e n 141 Tagen (= 60,1 % aller) wei-
chen sie dabei zugleich nach verschiedenen Richtungen (+ bzw. –) vom
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 193
Die
Kälte der Außentemperatur im Winter, welche oft die ersten 2 Stunden der Arbeits-
leistung, bis zum »Auftaueder nde, sehr fühlbar drückt, ebenso das winterliche
Arbeiten bei elektrischer Beleuchtung statt bei Tageslicht, welches die winterlichen
Morgen- und Abendstunden belastet, andererseits starke trockene Hitze im Sommer,
welche das Arbeiten an Mittags- und Nachmittagsstunden erschwert, üben selbstver-
ständlich den ihnen entsprechenden Einfluß aus: dieser steckt in den starken Senkungen,
die in heißen Sommer- und kalten dunklen Winter m o n a t e n im Leistungs -
d u r c h s c h n i t t beobachtet werden, darin. Aber nur ein Bruchteil der Arbeiter-
schaft reagiert auf diese Erschwerungen der Arbeit das ufigere Reißen der Fäden
bei Trockenheit der Luft, die erschlaffende Hitzewirkung, die Tendenz zu unsicherem
Funktionieren und die Ermüdung des Auges bei künstlicher Beleuchtung prompt auf
den Tag oder die Woche mit Abnahme der Leistung. Die anderen suchen offenbar ihren
bisherigen Verdienststandard durch gesteigerte Anstrengung zu behaupten, und es ge-
lingt ihnen dies ufig so gut, daß gerade einige der hydrographisch ungünstigen Tage
besonders günstige Leistungen aufweisen
1)
. Erst wenn die Ungunst der allgemeinen Ar-
beitsbedingungen l ä n g e r e Zeit hindurch anhält und einen gewissen Grad über-
steigt, versagt diese Gegenwirkung mit Erschlaffung der Arbeitskraft und -lust der Ar-
beiter.
Wie die meteorologischen, so scheiden aber auch alle sonst etwa denkbaren »allge-
meinen«, d. h. die Arbeiterschaft jeweils gemeinsam betreffenden Bedingungen der Ar-
beit als mögliche
Durchschnitt ab. Abweichungen von mehr als je 10 % vom Durchschnitt in verschiedener Richtung
kamen dabei an 46 Tagen (= 23,3 % aller) vor. Insgesamt weichen die Arbeiter nach v e r s c h i e -
d e n e n Richtungen vom Durchschnitt ab in 134 Tagen (= 67,6 % aller). Abweichung der Leistun-
gen voneinander von w e n i g e r als 5 % des Durchschnitts zeigten nur 17 (8,6 %), von weniger
als 2 % nur 5 (4,9 %) Tage. Dabei gestaltete sich aber das Verhältnis so, daß an den Tagen, an denen
m e h r als 2 Arbeiter zugleich in bezug auf ihre Leistung beobachtet wurden, in 83,4 % der Fälle die
Leistungen nach v e r s c h i e d e n e n Richtungen vom Durchschnitt abweichen, daß sich mit je-
der weiteren Zunahme der Zahl der beobachteten Arbeiter dieser Prozentsatz steigert und schon bei 6
Arbeitern (innerhalb dieses Zahlenmaterials) = 100 wird, also einfach Funktion der Zahl der gleichzei-
tigen Beobachtungen ist, mithin durch g e n e r e l l für alle Arbeiter mgebenden Tendenzen
k e i n e s f a l l s bestimmt sein kann.
1
)
S. die vorigen Anmerkungen. hlbar wird den Arbeitern, nach Auskunft der Betriebsleitung,
jede e r h e b l i c h e Unterschreitung der normalen Luftfeuchtigkeit, und sie verlangen alsdann
Abhilfe. Da trotzdem, wie gesagt, ein Parallelismus von Hygrometerstand und Tagesleistung
n i c h t (resp. nur in extremen Fällen) stattfindet, ist wohl nur die vorstehende Erklärung möglich.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 194
Erklärungsgründe für die Tagesschwankungen der Leistungen aus, wenn diese, wie sich
zeigt, überhaupt keinerlei Gleichmäßigkeit aufweisen. Also bleibt hier wie bei den Mo-
natsschwankungen nichts übrig, als die einzelnen Arbeiter mit ihren Leistungen geson-
dert vorzunehmen, wenn man auf Ergebnisse hoffen will. Dabei scheidet für T a -
g e s leistungen selbstredend von vornherein der Gedanke aus, auf irgendeinem Wege
festzustellen, warum die Leistung eines Arbeiters etwa am 1. November 1907 um 100
% höher und nicht um ebensoviel niedriger gewesen ist als am Tage vorher oder nach-
her. Es wäre gewiß ein nützliches Unternehmen, einmal eine größere Anzahl von Arbei-
tern, die mit Stuhluhren arbeiten, zu veranlassen, jeden Tag am Abend den Stand des
Zählers zu notieren und dabei alsbald auch möglichst sorgfältig anzugeben, w e l c h e
Gründe ihrer Ansicht nach die Unterschiede der Leistung an den einzelnen Tagen
bedingt haben. Aber es läßt sich dabei mit voller Sicherheit prophezeien: 1. daß dabei
soweit die Unterschiede n i c h t in objektiven Arbeitsbedingungen, d. h. in Maschi-
nen- oder Materialverhältnissen (verschieden große Häufigkeit von Fadenbrüchen u.
dgl.) begründet sind, auch (oder vielmehr: g e r a d e ) bei großer Gewissenhaftigkeit
des Antwortenden wirklich sichere Angaben nur in einer nicht sehr großen Minderheit
von llen werden gemacht werden nnen; ferner 2. daß man, wenn man versuchshal-
ber den Schußzähler irgendwie für den Arbeiter verdecken und d a n n ihn um Anga-
ben ersuchen würde, auf welche Leistung er, und warum, an diesem Tage glaube ge-
kommen zu sein?, d. h. auf eine um wieviel etwa größere oder geringere als gestern?
daß man dann, sage ich, in einem n o c h geringeren Bruchteil von Fällen auch nur
annähernd zutreffende Antworten erhalten würde. Denn das M der eigenen psycho-
physischen »Disposition« zur Arbeit entgeht selbst Versuchspersonen im Laboratorium
oft oder bleibt ihnen unerklärt, und die Arbeiter vollends zeigen sich, von Ueberstunden
und exzeptionellen anderen Anstrengungen abgesehen, regelmäßig nicht einmal imstan-
de, den Grad der eigenen Ermüdung durch die Arbeit irgendwie abzuschätzen, ja oft
sich auch nur der Tatsache der Ermüdung selbst ganz klar bewußt zu werden. Um so
weniger werden wir hier versuchen wollen, in die Gründe der Schwankungen zwischen
den einzelnen um
3
/
4
bis 1
1
/
2
Jahr zurückliegenden Arbeitstagen einzudringen. Verfol-
gen wir immer-
12. Stuhluhrmessungen und Leistungsschwankungen. 195
hin, zunächst lediglich des Interesses an den Fakten selbst halber, die glichen Lei-
stungsschwankungen eines einzelnen (einstühligen) Webers, für den zufällig fortlaufen-
de Kontrollnotizen für die 10 Monate November 1907 bis August 1908 vorliegen (es ist
dies c der Tabelle 1), so zeigt sich (Tabelle III, S. 197) folgendes Bild:
Man sieht: die Leistungen des Arbeiters, der übrigens zu den am gleichmäßigsten ar-
beitenden Webern des Betriebes gehört, schwanken in der allermannigfachsten und
zweifellos durch kein Mittel für uns erschöpfend zu erklärenden Art. Immerhin lassen
sich nun doch für die Zahlen der Tabellen II und III einige Einzelbeobachtungen ma-
chen
1)
. Für uns kommt wesentlich die eine in Betracht, daß ein sehr erheblicher Teil der
n i e d r i g e n Leistungen am Beginn neuer Sorten und Ketten liegen
2)
. Zwar setzt
keineswegs jede neue Kette mit einer Senkung des Tagesleistungsprozentes ein: auch
das Gegenteil, hohe und dann sinkende Anfangsleistungen kommen vor. Wie es scheint,
namentlich (wenn schon keineswegs ausschließlich) dann, wenn der Wechsel zu einer
neuen Sorte einen Uebergang von schwerer zu l e i c h t e r e r Arbeit darstellt: der
Arbeiter, dem die Arbeit ungewohnt leicht von der Hand geht, unterschätzt die Anstren-
gung und sucht viel zu verdienen, beispielsweise in Tabelle III am 18. VIII., wo der Ar-
beiter bei gleichbleibender Tourenzahl und Breite des Gewebes ein um
1
/
3
gröberes
Garn zu einer um rund 28 % weniger dichten Sorte zu verarbeiten hatte und ähnlich in
einzelnen anderen Fällen. Doch findet sich auch in solchen Fällen ü b e r w i e g e n d
eine niedrigere Anfangsleistung. Andererseits kommen, wie wir sehen werden, auch
Fälle vor, wo ein sehr leistungsfähiger Arbeiter beim Uebergang zu einer s c h w i e -
r i g e r e n Sorte die bisherige Schußzahl pro Tag mit aller Anstrengung aufrecht zu
erhalten sucht und erst
1)
Eine Einzelheit: die beiden letzten Augustsamstage, deren Ziffern eingeklammert sind, weil sie
(infolge Betriebseinschränkung) nur eine 4stündige Arbeitsdauer repräsentieren, zeigen durch ihre je-
desmal rund 10 % gegen den Freitag betragende Leistung die Wirkung der kurzen Arbeitszeit auf die
Höhe der Leistung. Das Gleiche tritt bei den meisten anderen Arbeitern in teilweise noch weit stärke-
rem Maße hervor (Zunahme bis zu 47 % gegen den Vortag), jedoch nicht bei allen. Die Zunahmen
betragen etwas über
3
/
4
aller Fälle; von dem Rest, der Abnahme zeigt, ist ein Teil durch Zufälligkeit
bedingt, es bleiben aber einige lle, wo die Arbeits n e i g u n g offenbar infolge der kurzen Ar-
beitszeit gesunken ist.
2)
Dabei ist, was die Tabelle III anlangt, zu berücksichtigen, daß die Anfang November laufende
Kette schon einige Zeit im Oktober gelaufen war.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 196
nach einiger Zeit kollabiert. Wir halten uns hier zunächst an die Tatsache, daß die Ar-
beit an neuen Sorten, auch neuen Ketten derselben Sorte, jedenfalls sehr häufig u n -
t e r der im ganzen an dieser Kette erreichten Durchschnittsleistung bleibt und fragen,
ob und in welchem Maß dies dem D u r c h s c h n i t t entspricht. Soweit dies der
Fall wäre, würde wohl naheliegen, anzunehmen, daß wir es hier mit » U e -
b u n g s « erscheinungen zu tun haben. Diese wollen wir etwas genauer auf ihr Vor-
handensein prüfen.
13.
Allerdings darf man, wie gleich vorauszuschicken ist, auf keinen Fall l e d i g l i c h
die zunehmende »Uebung« des Arbeiters als Grund des niedrigen Einsetzens der Lei-
stung an neuen Sorten oder Ketten ansprechen
1)
. Die Bearbeitung des Kettenanfangs ist
ebenso wie die des Kettenendes dessen Tage im Gesamtdurchschnitt daher ebenfalls
Senkungen der Leistungen zeigen an sich, aus technischen Gründen, die in den Be-
dingungen des Webstuhls liegen, schwieriger als die der Kette im übrigen, und diesem
Umstand muß wenigstens für die allererste Zeit wohl der überwiegende Teil der Ver-
antwortung für die niedrigeren Leistungen zugeschoben werden. Allein, daß »Ue-
bungs«einflüsse stark mitbeteiligt sind, ergibt sich trotzdem mit großer Wahrscheinlich-
keit aus der Beobachtung, daß, auch wenn ein Arbeiter an die Stelle eines andern an ei-
ner von letzteren schon zur Hälfte aufgearbeiteten Kette tritt, er in a l l e n denjenigen
Fällen, wo dies im Material zu beobachten ist, u n t e r seinem nachher erreichten
Durchschnitt beginnt und dann erst steigt
2)
.
1)
Ebenso wie die niedrige Montagsleistung (s. früher) nicht nur Folge der unhygienischen Sonn-
tagsverwendung seitens der Arbeiter ist: die Maschine, welche von Sonnabendabend bis Montagmor-
gen gerade dreimal so lang gestanden hat als sonst von einem Tag zum andern, mit den von Klebstoff
(Schlichte) überzogenen Fäden auf sich, setzt der Inbetriebsetzung Montags auch größere Schwierig-
keiten entgegen als sonst.
2)
So z. B. beginnt die Tagesleistung eines mitten in der Bearbeitung einer Kette an die Stelle eines
Mädchens tretenden Webers mit 80,0 % seiner nachher, erreichten Durchschnittsleistung in den ersten
drei Tagen. Von 101,6 auf 93,9 % im Durchschnitt der ersten 3 Tage sinkt auch die Leistung an derje-
nigen Kette, welche der in Tabelle III behandelte Arbeiter zuletzt bearbeitete, als auf 1. September ein
neuer (ebenfalls tüchtiger) Arbeiter an seine Stelle tritt, um in der zweiten Woche wieder auf 102,2 %
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 197
Tagesleistungen (und Wochendurchschnitte derselben) eines Webers während 10 Monaten
(Nov. 1907 bis Aug. 1908)
Tabelle III.
Tag 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Monat 1907
XI
102,9
96,7
100,7
95,5
102,4
-----
102,2
100,3
107,6
101,2
107,4
82,4
102,9
85,0
92,8
96,4
XII 105,6 91,6 97,3 99,2 110,3 99,2 96,1 99,1 98,2 99,1 100,0 88,1 96,0 96,3 84,4
Monat 1908 I Neu-
jahr
91,6 79,5 92,1 87,6 79,1 92,4 101,9 114,5 96,4 120,4 109,1
II
110,3
108,6
110,3
109,7
-----
110,3
112,6
112,2
110,9
84,5
97,7
83,0
97,1
94,6
88,6
III 96,4 77,2 91,0 102,2 116,1 96,5 105,3 92,12 99,7 99,2
IV *)86,5
92,9 105,3 83,8 88,5 101,2 97,4 100,6 108,0
V 123,0 119,2 110,9 104,5 109,5 115,5 103,7 93,7 105,3 107,9 115,8
VI 96,0 106,0 88,1 §)88,4
86,7 93,0 96,0 116,4 115,4 99,5 109,5 107,5 100,8 108,3
VII
105,4
96,9
103,2
99,8
98,3
84,8
84,8
-----
93,7
106,4
87,3
91,8
§)62,7
82,8
VIII
103,7 104,6 107,1 106,1 111,3 111,1 110,8 109,3 96,8 103,3 109,5 72,5 95,5
Tag
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Monat 1907 XI 94,6 101,9 99,0 Bußtag 93,8 96,9 112,3 100,9 109,2 107,1 105,2 101,1
XII 114,7 110,4
124,3
92,8 117,6 104,2 Weihnachten §)71,6
59,1 (65,5) 87,1
Monat 1908 I 96,4 § 108,2
113,5 99,1 111,8 100,7 93,9 78,0 106,7 98,3 109,8 89,8 108,3 114,2
115,9
II 88,5 82,1 90,0 79,0 89,6 84,0 95,9 113,4 87,2 91,6 106,1
III
IV 101,7 79,3 92,9 98,7 83,4 101,4 90,8 79,3 115,3 119,2 110,0
V (111,7)
†)71,9 82,1 68,6 106,6 117,9 110,2 92,8 105,1 105,5 118,8 116,2 110,0
111,1
VI 114,6 106,6 97,6 103,2 105,1 113,1 89,4 89,4 76,7 109,1 99,3 96,1 91,1 97,4
VII 102,5 78,8 81,7 101,5 102,0 114,3 103,8 109,2 99,7 105,1 105,7 110,5 119,5 102,7
85,8
VIII
§)110,3
101,3 96,3 100,3 (111,5)
103,9 92,5 96,7 107,2 112,0 96,4 (105,1)
101,6
100,3
*) Neue Kette (der gleichen Sorte). §) Neue Sorte. †) Aenderung am Stuhl.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 198
Es
fragt sich nur, wie l a n g e solche Uebungswirkungen spürbar sind, wieviel Zeit
also ein an sich schon im Weben gut geübter Arbeiter braucht, um sich in eine neue Sor-
te bzw. eine neue Kette derselben Sorte »einzuarbeiten«. Man wird geneigt sein, anzu-
nehmen, daß dies eine Sache weniger Tage sei, und einzelne Zahlenreihen in den Tabel-
len, welche ein sehr rasches Ansteigen der Leistung nach anfänglichem Tiefstand zei-
gen, scheinen dies zu bestätigen. Allein hier nnen nur Durchschnittszahlen Klarheit
geben, denn es können für dieses Ansteigen im konkreten Fall die verschiedensten Um-
stände, sowohl Zufälligkeiten des Materials, wie außergewöhnliche Anstrengungen, die
der Arbeiter im Einzelfall einmal, es sei aus welchen Gründen immer, macht, wie end-
lich die späterhin besonders zu erörternden Bedingungen des zweistühligen Webens (bei
schmaler Ware) bestimmend sein. Angesichts der durch die verschiedenen Tourenzah-
len bedingten verschiedenen Geschwindigkeiten des Fortschreitens der Abarbeitung der
Kette legen wir dabei zweckmäßigerweise die durchschnittliche Tagesleistung für eine
L e i s t u n g s einheit, also: für je ein »Stüc(je nach den Sorten einige Meter über
oder unter 40 lang) zugrunde und nicht die Verhältnisse eines Zeitraums. Für einen Teil
der mit Stuhluhren kontrollierten Arbeiter liegen Feststellungen vor, welche dies gestat-
ten. Da die betreffenden Ketten ganz verschieden lang sind, manche schon mit dem 7.
Stück ablaufen, andere z. B. 25 Stück ergeben, so ist die Zahl derjenigen Ketten, die für
die Durchschnittsleistung bei Beschränkung auf die ersten Stücke herangezogen werden
können, erheblich größer als die Zahl derjenigen, welche in Betracht kommen kann,
wenn man möglichst auch die späteren Stücke heranziehen will (5). Nehmen wir also
zunächst nur die ersten 8 Stücke mtlicher überhaupt kontrollierter Ketten (24) und
setzen wir die tägliche durchschnittliche Schußleistung am 1. Stück = 100, so ergibt sich
folgende Reihe der Schußleistungen.
Stück: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Leistung in % 100 105,2 105,2 107,3 110,9 105,5 108,4 109,1
Oder: für Stück 1 und 2 zusammen: 102,6, für Stück 3 und 4 106,2, für Stück 5 und
6: 108,2, für Stück 7 und 8: 108,7 % de beim ersten Stück gezählten Leistung. Eine
immerhin – mit
zu steigen, usw. Ebenso bedeuten technische Veränderungen am Stuhl, welche w ä h r e n d des
Laufens einer Kette angebracht werden, auch wo sie im Effekt die Arbeit e r l e i c h t e r n müs-
sen, doch, lediglich ihrer Ungewohntheit halber, zunächst ein starkes Sinken und erst allmähliches
Wiederansteigen der Leistung selbst bei einem so geübten Weber wie dem in Tabelle III behandelten:
vgl. die Zahlen für den 18., 19., 20. Mai daselbst (ebenso bei anderen Arbeitern d u r c h w e g ) .
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 199
einem auf den starken Anstieg beim 5. Stück erfolgenden Rückschlag beim 6. leidlich
regelmäßige Zunahme, für deren Beurteilung freilich (s. o.) in Betracht zu ziehen ist,
daß m i n d e s t e n s beim ersten Stück, wohl auch noch beim zweiten, die erwähn-
ten rein technischen Bedingungen des Webens, nicht die »Uebungszunahme« allein, als
Ursache der Steigerung anzusprechen sind und es in ungünstigen Fällen wohl möglich
ist, daß sich jene Einflüsse noch weiter erstrecken. Für die Weiterentwicklung ergibt
sich bei Beschränkung auf die langen Ketten
1)
folgende Reihe:
Stück: 1-3. 4-6. 7-9. 10-12. 12-15. 16-18.
Leistung in % 100 109,2 107,9 111,2 110,3 114,0
oder, bei Zusammenfassung von je 6 Stück: 1-6: 104,6, 7-12: 109,5, 13-18: 112,2 % der
Leistung am ersten Stück. Also ein an sich ebenfalls ganz leidlich rhythmischer Anstieg
der Leistung um 14 % bei den drei letzten
2)
gegen die Leistung der drei ersten Stücke
zusammengenommen und um etwa 7 %, wenn man je 6 Stück zusammenfaßt. Hier wird
man immer im Auge behaltend, daß die Kleinheit der Zahlen zur Vorsicht mahnt es
für doch ziemlich wahrscheinlich ansehen dürfen, daß tatsächlich die »Einarbeitung« in
die einzelne Sorte bzw. Kette vorwiegend bestimmend ist, da ein Mitspielen der Ketten-
anfangsschwierigkeiten von der 2. Gruppe von je 3 Stück an unwahrscheinlich und, auf
die Zusammenfassung von je 6 Stück hingesehen, über das 6. Stück hinaus ausgeschlos-
sen ist
3)
. Man wird das wahrscheinliche Vorhandensein eines l e d i g l i c h innerhalb
der einzelnen Kette und für diese stattfindenden
Uebungsfortschrittes um (innerhalb ca. 3 Monaten) etwa 10 % (wenn man den Einfluß
der Kettenanfangsschwierigkeiten abzieht) bei älteren und s c h o n r e c h t g u t
1)
Von diesen sind bei der Berechnung 1. eine spezifisch »schlechte Kett(weil, je schlechter die
Kette, desto ungleichmäßiger zugleich die Verteilung der Garnfehler zu sein pflegt); 2. ein wegen be-
sonders großer Unstetheit der Arbeit schlecht vergleichbarer Arbeiter ausgeschieden worden. Schließt
man diesen letzteren ein, so würde sich übrigens das Bild von je 3 zu 3 Stück nur wie folgt verschie-
ben: 1-3: 100, 4-6: 107,9, 7-9: 108,0, 10-12: 106,7, 13-15: 105,5, 16-18: 109,0, also ebenfalls ein (nur
nicht ganz so rhythmisches) Ansteigen zeigen.
2)
D. h. der drei letzten h i e r mit in Betracht gezogenen. Am Ketten e n d e sinkt die Lei-
stung wieder etwas.
3)
Da die langen Ketten, an denen bis zu 4 Monaten gearbeitet wurde, mit Anfang und Ende in sehr
verschiedene Jahreszeiten fallen, so ist allerdings auch das Mitspielen der allgemeinen meteorologi-
schen Bedingungen der Arbeit wenigstens möglich, obwohl sich die in die Rechnung einbezogenen
Ketten darin gegenseitig leidlich ausgleichen würden. Immer aber m daran festgehalten werden, daß
alle diese Zahlen k e i n e »Resultatsind, sondern »Möglichkeitedarstellen, die mit g r ö -
ß e r e m M a t e r i a l nachzuprüfen wären.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 200
g e ü b t e n Arbeitern und bei einer dem Anschein nach so gleichförmigen Arbeit, als
welche das mechanische Weben sich darstellt, immerhin keineswegs selbstverständlich
und, wenn es sich bei Nachprüfung an größeren Zahlen in anderen ähnlichen Industrien
als Tatsache herausstellen sollte, als nicht unwichtig ansehen. Zusammen mit den durch
den W e b s t u h l geschaffenen Schwierigkeiten der »Einarbeitung« ist es überdies
von nicht geringer Bedeutung für die Beurteilung der Wirkung des größeren oder gerin-
geren Sorten- und Ketten w e c h s e l s auf die Interessen der Arbeiter. –
Neben der Entwicklung der Höhe der Leistung muß nun für die Frage, ob und inwie-
weit »psychophysische« (Uebungs-)Einflüsse feststellbar sind, die S t ä r k e der
S c h w a n k u n g e n im Verlauf des »Sicheinarbeitens« in eine neue Sorte (oder
neue Kette der gleichen Sorte) Interesse bieten. Sie nnten eine Art von P r o b e
darauf darstellen, ob das über die Uebungseinflüsse vorstehend (wenn auch unter allem
Vorbehalt) für einigermaßen wahrscheinlich Erklärte wirklich als plausibel hingenom-
men werden darf. Nach psychophysischen Erfahrungen müßte die Amplitüde dieser
Schwankungen mit zunehmender Uebung die Tendenz haben, abzunehmen, die Arbeit
»stetiger« werden.
Wenn man nun für die je ersten 6 Wochen
1)
der Arbeit an einer Sorte den Durch-
schnitt der täglichen Schwankungen (in Prozenten der Durchschnittsleistung) berechnet,
so ergibt sich für die nachfolgenden zwanzig auf gut Glück herausgegriffenen Fälle fol-
gendes Bild von der Bewegung der in Prozent der Durchschnittsleistungen berechneten
Schwankungen:
Woche 1 2 3 4 5 6
a) 13,3 15,9 8,2 20,2 17,3 23,6
b) 9,1 28,2 8,0 4,8 8,1 8,3
c) 23,2 20,5 28,5 15,2
d) 12,1 6,9 9,5 12,6 6,7 8,3
e) 7,2 8,2 5,6 13,3 8,1 6,3
1)
Die folgenden Wochen wurden nicht mit herangezogen, da die Zahl der Fälle, in denen in der 7.
Woche eine (kurze) Kette abgearbeitet ist, schon zu groß wird. (Schon in der 6. und sogar der 5. Wo-
che gehen e i n z e l n e Ketten zu Ende, die betreffenden Zahlen sind dann schon für diese Woche
in der Tabelle fortgelassen.
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 201
Woche 1 2 3 4 5 6
f) 13,6 12,3 17,3 16,1 9,3 1,3
g) 19,0 10,9 15,9 3,5 11,3 10,7
h) 15,6 10,9 11,1 10,2 10,7 19,2
i) 13,2 13,5 18,9 10,9
k) 15,5 8,5 8,1 6,3 6,3 9,5
l) 7,7 8,3 29,9 17,7 5,9
m) 8,1 7,5 14,7 6,8 11,5
n) 3,4 12,4 4,4 2,8 7,1 4,7
o) 13,9 12,1 14,4 16,7 9,1 0,8
p) 13,6 7,5 16,3 14,6 9,5
q) 12,1 15,8 5,2 24,6
r) 9,8 7,9 4,4 5,5 7,2 4,3
s) 16,1 6,4 5,1 13,7 7,1 3,4
t) 18,7 10,2 12,0 2,2 9,6
u) 6,2 8,9 5,0 5,7 3,3 3,6
Brechen wir hier ab: die Hinzufügung noch weiterer Fälle würde an dem Eindruck
bunter Willkürlichkeit, den diese Zahlen zunächst machen müssen, nichts ändern und
das Material würde andererseits zur Gewinnung hinlänglich großer Zahlendurchschnitte
doch nicht ausreichen. Ermitteln wir nun aber immerhin zur Probe den D u r c h -
s c h n i t t dieser nur 20 Fälle (an denen nur 8 verschiedene Arbeiter beteiligt sind), so
zeigt sich folgendes Bild:
Woche: 1 2 3 4 5 6
Schwankungen % 12,57 11,19 12,17 11,17 8,36 8,0
Das würde, wenn man von der dritten Woche absieht, die einen Rückschlag zeigt, ein
stetiges S i n k e n der Schwankungen von 12,57 % auf 8,0 %, d. h. auf unter
2
/
3
der
Anfangsschwankungen darstellen, also mit der Zunahme der Leistungs s t e t i g -
k e i t , welche psychophysisch als Folge des »Uebungsfortschritts« zu postulieren wä-
re, in wenigstens leidlichem Einklang stehen. Fassen wir je 2 Wochen zusammen, so
betragen die Schwankungen im 1. Drittel: 11,88, im 2.: 11,67, im 3.: 8,18 %. Besinnen
wir uns nun, daß die Schwankungen bei zweistühligem Weben notwendig irrationaler
ablaufen
1)
, als bei einstühligem, erwägen wir dazu noch, daß im vorstehenden in der 5.
und 6. Woche einige der mit in die Berechnung einbezogenen Ketten zu Ende gingen
und daher aus der Tabelle ausschieden, so werden wir die Vermutung hegen, daß bei
ausschließlicher Berücksichtigung einstühliger Weber und bei Beschränkung auf Fälle,
wo alle
1)
Weil die Arbeit an dem einen Webstuhl durch die Verhältnisse auf dem andern, insbesondere
auch durch Einlage neuer Ketten usw. auf diesem, auf das stärkste mit beeinflußt wird.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 202
6 Wochen vollwertige Zahlen bieten, die Zahlenreihe noch stetiger verlaufen müsse.
Machen wir den Versuch und berechnen den Durchschnitt für diese Fälle (es sind lit. d,
e, n, o, r, s, u, also nur 7 Fälle, so zeigt sich folgendes Bild:
Wochen: 1 2 3 4 5 6
Schwankungen: 9,83 7,54 7,06 10,04 6,53 4,49
Also auch hier bei sonst ganz stetigem Anschwellen und zwar diesmal bis auf unter
46 % der ersten Woche – ein einzelner Rückschlag, diesmal in der 4. Woche. Wiederum
je 2 Wochen zusammengeft, ergibt im 1. Drittel: 8,68, im 2.: 8,55, im 3.: 5,71 %, also
in Maß und Rhythmus des Rückgangs ähnliche Verhältnisse, wie bei der Zusammen-
stellung aller Fälle überhaupt. Daß in beiden Fällen erst das dritte Drittel (5. und 6. Wo-
che) ein sehr dezidiertes Schwinden der Schwankungsgröße zeigt, scheint mit dem Um-
stand gut im Einklang zu stehen, daß das Einarbeiten in eine neue Sorte ganz überwie-
gend stoßweise, mit starker Anspannung und entsprechenden Rückschlägen, zu erfolgen
pflegt (davon später).
Trotzdem ist nun auf das ernstlichste davor zu warnen, diese Zahlenreihen als
»Resultate« anzusehen, welche »beweisen« nnten, daß jene psychophysischen
Erfahrungen auch hier gelten, oder deren Ablauf gar als deren unzweifelhafter
»Ausdruck« angesehen werden nnte. Der bei jeder der beiden Durchschnittsreihen
sich findende »Rückschlag« zwar nnte bei genauer Analyse wohl als wirkliche
»Zufälligkeit« sich herausstellen
1)
und dürfte wohl bei sonst hinlänglicher Deutlichkeit
des »Typus« auch ohne solchen Spezialnachweis als solche behandelt werden, würde
jedenfalls die Zahlenreihen nicht entwerten. Aber immer hin: das zugrunde gelegte
Zahlenmaterial ist denn doch weitaus
1)
Sowohl in der ersten wie in der zweiten der beiden Zahlenreihen wird da Herausfallen aus dem
Rhythmus derselben in je einer Woche durch gewisse abnorme Verhältnisse bestimmter Wochen be-
dingt (Einstühligkeitstage bei zweistühligem Weben, ferner Halbtagsarbeit mit entsprechender Inten-
sitätssteigerung – und Ausfall von Arbeitstagen). Die Verschiedenheit der Z a h l der Arbeitstage in
den einzelnen Wochen ist überhaupt recht srend. Aber würde man einfach von der Wocheneinteilung
absehen und etwa die Leistungen und Schwankungen von je 5 oder 6 Tagen, an denen gearbeitet wor-
den ist, zusammen fassen, so würden z. B. die Besonderheiten des Montags, der dann bald einmal bald
zweimal in diesen Gruppen sich finden würde, das Resultat sren. – Es sei immer wieder hervorgeho-
ben, daß hier nicht »Ergebnisse«, sondern W e g e auf denen man vielleicht, unter günstigeren Be-
dingungen als sie diese Industrie bietet, solche finden k ö n n t e , dargelegt werden sollen.
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 203
zu klein, und es würde der Prüfung an einem mindestens um das Zwanzigfache größe-
ren bedürfen, um zu leidlich sicheren Resultaten zu kommen.
Ferner und vor allem: stellt sich wirklich definitiv ein Abschwellen der Schwankun-
gen, zunehmende Stetigkeit des Leistungseffekts also, als »typisch« heraus, so fragt es
sich wiederum: inwieweit ist die zunehmende »Geübtheit« des Mannes und inwieweit
sind außerhalb seiner Person liegende Bedingungen seiner Leistung dar verantwort-
lich? Es kommt auch da vor allem der uns schon oben begegnete Umstand in Betracht,
daß nach der Einlegung einer neuen Kette in einen Stuhl zunächst eine gewisse Zeit
vergeht, bis überhaupt ähnlich normale B e d i n g u n g e n des Arbeitens eintreten,
wie siehrend des weiteren Verlaufes der Arbeit bestehen, die dann solange andauern,
bis wieder durch das bevorstehende Ablaufen der Kette und die dadurch entstehende
Unsicherheit der Bewegungen des Kettenbaums ähnlich ungünstige Verhältnisse entste-
hen wie am Anfang. Sicherlich die erste Woche und wohl oft auch noch die zweite ste-
hen unter dem Einfluß solcher, von der »Geübtheit« des Arbeiters ganz unabhängigen,
ungünstigen Umstände und sind also nicht einfach mit den folgenden vergleichbar; es
muß auch immerhin mit der glichkeit gerechnet werden, daß sich diese Einflüsse ge-
legentlich noch weiter erstrecken und daß es also j e d e n f a l l s unsicher bleibt, in
welchem G r a d e die an sich plausible und wahrscheinliche Tendenz der zuneh-
menden »Einarbeitung« in eine Sorte (im Sinn zunehmender » U e b u n g « des Arbei-
ters) und in welchem Grade jene t e c h nischen Bedingungen seines Arbeitens an der
Abnahme der Leistungsschwankungen (wenn sie durch umfassendere Proben nachweis-
bar sein sollte) beteiligt sind, wenn man keine ngeren, als sechswöchentliche Zeiträu-
me zugrunde legt. Andererseits würde, wenn ich ausschließlich die Fälle derjenigen
Ketten, die mehrere Monate ( u n d dabei e i n stühlig) laufen, zugrunde legte, die
Zahl der exakt beobachteten Fälle bei s o stark von irrationalen Umsnden abhängi-
gen Erscheinungen, wie es die Tages s c h w a n k u n g e n sind, entschieden zu ge-
ringfügig sein
1)
. D die verschiedenen Jahreszeiten mit ihnen unter-
1)
Sie sind natürlich wesentlich irrationaler bedingt als die erörterten durchschnittlichen Gesamt -
l e i s t u n g e n einer Periode, bei denen die oben gewonnenen »Resultatauch schon nur mit al-
lem Vorbehalt als solche angesehen
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 204
einander
sehr verschiedenen Einflüssen auf die Arbeitsleistung (Beleuchtungs-, Tempe-
ratur-, Wassersättigungsverhältnisse) auch auf den Grad der Schwankungen Einfluß ha-
ben, erscheint a priori kaum zweifelhaft, da diese ja teils von der Zahl der Fadenbrüche
(die bei Trockenheit steigt), teils von der Schnelligkeit und Sicherheit des Sehens und
der Bewegungen des Arbeiters (die von künstlicher Beleuchtung, starker Hitze oder
Kälte ungünstig beeinflußt werden) abhängig sind; das läßt sich aber hier nicht sicher
verifizieren, da das vorhandene exakte Material für Sommer und Winter zu verschiede-
ne S o r t e n aufweist.
Denn wir werden von vornherein annehmen, daß die Schwankungsamplitüde nicht
nur innerhalb einer und derselben Kette, sondern erst recht zwischen verschiedenen Ket-
ten und, vor allem: Sorten, und überhaupt je nach den konkreten Bedingungen der Ar-
beit, und endlich auch nach der Eigenart der Arbeiter verschieden groß sein wird. Läßt
sich nun darüber etwas einigermaßen Plausibles aus dem Material gewinnen?
Wir nehmen zur Probe zunächst einmal den gleichen Arbeiter, dessen Leistungszif-
fern für 10 Monate oben in Tabelle III wiedergegeben wurden, und verfolgen die
Durchschnittsschwankungen durch die von ihm hrend dieser Zeit gearbeiteten Sorten
hindurch, deren äußerlich meßbare Eigenschaften (Dichte, Breite, Garnfeinheit) ebenso
wie die Tourenzahl der Maschinen, die normalen (durchschnittlich erwarteten) Nutzef-
fekte und das Abweichen der faktisch erzielten, alles in Prozent der zuerst gearbeiteten
Sorte (dabei aber in abgerundeten Zahlen) angegeben wird. Das entstehende Bild ist
folgendes:
1. 2. 3. 4. 5. 6.
1. Breitenverhältnis % 100 97 100 87 115 115
2. Verh. der Dichte % 100 100 128 128 128 100
3. Verh. der Garnfeinheit % 100
1)
150 162 150 100
4. Verh. der Tourenzahlen % 100 99 95 95 95 95
5. Verh. der Akkordsätze % 100 95 126 126 145 92
6. Verh. der normalen Nutzeffekte 100 117 91 104 89
2)
werden durften. (Ein Versuch der Analyse der Zahlen für die späteren Wochen hätte, da dieselben
ganz unstet und schroff schwanken, kein Interesse.)
1)
Die Garnfeinheit ist hierbei, da der Reißwiderstand und das sonstige Verhalten des Materials
ganz verschieden ist, ohne Vergleichswert.
2)
Nicht berechnet.
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 205
1. 2. 3. 4. 5. 6.
7. Der erzielte Nutzeffekt beträgt
weniger als der normale %
13,5 16,3 8,7 16,1 0,3
8. Die Tagesschwankungen
betragen:
a) % der erzielten Leistung
b) % derjenigen bei Sorte 1
6,89
100
11,9
170
12,6
180
9,7
139
10,3
147
(8,2)
1)
(131)
1)
9. Verh. der erzielten Nutzpro-
zente %
100 114,5 102,2 111,1 102,7 115,9
10. Arbeitsdauer in der Sorte 1. XI
bis
20. XII.
27. XII
bis
14. II.
18. II
bis
3. IV.
5. VI
bis
12. VII.
15. VII
bis
13. VIII.
18. VIII
bis
30. VIII.
Man sieht: Die Schwankungsamplitüde geht mit k e i n e r der Zahlen wirklich
parallel. Beobachten läßt sich zwar, daß die drei dichtesten Sorten, welche zugleich die-
jenigen mit den höchsten Akkordsätzen sind (3, 4, 5), gegenüber den drei mit niedrige-
ren Akkorden bewerteten (1, 2, 6) im D u r c h s c h n i t t die größeren Schwankung-
samplitüden aufweisen (160 % der Amplitüde bei der ersten Sorte gegen 127 %.). Aber
wie die Zahlen ergeben, ist ein Parallelismus der im Akkordsatz sich ausdrückenden
Leistungsschwierigkeit mit der Höhe der Leistungsschwankungen im e i n z e l n e n
nicht nachweisbar
2)
. Während ferner bei einer und derselben Sorte bzw. Kette, nach
dem oben wahrscheinlich Gemachten, die Entwicklung so verläuft, daß mit steigender
Uebung (welche das geleistete Nutzprozent steigen lassen muß) die Schwankungsampli-
tüde s i n k t , ist hier, im Verhältnis z w i s c h e n mehreren Sorten, ein solcher
umgekehrter Parallelismus nicht klar zu finden: die beiden Fälle, in welchen der g e -
l e i s t e t e hinter dem n o r m a l e n Nutzeffekt am wenigsten zurückbleibt (Sorte
3 und 5), haben je eine der drei höchsten Schwankungsamplitüden, während umgekehrt
bei der Sorte 2 mit niedrigem erzieltem Nutzeffekt auch die Schwankungen starke sind.
Vollends von einem Parallelismus
1)
Die eingeklammerten Zahlen ergeben sich bei Einrechnung, die andern bei Nichteinrechnung der
infolge Betriebseinschränkung Sonnabends geleisteten Halbtagsarbeit mit ihrer entsprechend höheren
Leistung, deren Zusammenrechnen mit vollen Arbeitstagen die Durchschnittszahl der Schwankungen
erhöht.
2)
Allerdings war der Akkordsatz der Sorte 4, die auf eine besondere Einzelbestellung hin erstmalig
gemacht wurde, »probeweise« angesetzt. Es ist diejenige, deren Rentabilität für den Arbeiter durch
mangelhafte Angepaßtheit der Sorte an den Stuhl gestört wurde (s. Text).
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 206
des Schwankungsgrades mit Breite, Garnfeinheit, Tourenzahl (die ja allerdings nur ge-
ringe Unterschiede zeigt, übrigens auch ihrer absoluten Zahl nach, welche dem Prin-
zip gemäß hier nicht wiedergegeben wird, niedrig steht), ist keinerlei Rede. Es dürften
eben in den durch so einfache Ziffern n i c h t erfaßbaren Qualitäten der Garne so we-
sentliche Unterschiede der Leistungsbedingungen liegen, daß wenigstens in diesem
Fall die sonstigen Unterschiede demgegenüber nicht eindeutig zur Geltung kommen
können. Ueberdies fällt ins Gewicht, daß nur die 1. und 3. Sorte lange Ketten waren,
von denen die eine (Sorte 1) bei Beginn der hlung schon einige Zeit lief, also die
starken Anfangsschwankungen schon hinter sich hatte, die andere (Sorte 3) 4 Monate
auf dem Stuhl lag, hrend dagegen Sorte 2 nur 7 Wochen, Sorte 4 nur 5 Wochen, Sor-
te 5 nur 4 Wochen und Sorte 6 nur 2 Wochen nachher kam ein anderer Arbeiter an
den Stuhl gearbeitet wurde. Sorte 1 präsentiert sich also wahrscheinlich zu günstig,
Sorte 6 sicher zu ungünstig.
Die letztere Sorte steht in Dichte und Garnfeinheit der Sorte 1 gleich, in der Touren-
zahl um nur (rund) 50 % niedriger, in der Breite um 15 % her, ihr Garnmaterial ist
etwas leichter zu verarbeiten: das alles findet seinen Ausdruck in einem um 6,8 % nied-
rigeren Akkord. Ob nun der Umstand, daß das an ihr erzielte Nutzprozent um 15 % hö-
her steht als bei 1, unter diesen Verhältnissen einen »Uebungsfortschritt« bedeutet, ist
schlechterdings nicht zu entscheiden. Sorte 3 verdankt ihre hohe Schwankungsamplitü-
de bei günstigem Nutzeffekt (sub Nr. 7) teils einem Kettenwechsel, teils einer techni-
schen Aenderung am Stuhl, deren ungünstige Wirkung auf die Leistung dieses Arbeiters
schon einmal erwähnt wurde, teils schlechter Gesundheit, die im Frühjahr zweimal zur
Arbeitsunterbrechung führte. Das mit niedriger Leistung (sub Nr. 7) verbundene auffal-
lend starke Schwanken bei der zweiten Sorte dagegen hat wohl wesentlich in der Weih-
nachtszeit mit ihrer unsteten Arbeit und der zufällig gerade damals lebhaften Gewerk-
schaftsbewegung seinen Grund. Die – mit mittlerer Schwankungsamplitüde verbundene
Minderleistung (gegenüber der Kalkulation) an Sorte 4 erklärt sich aus Unangepaßt-
heit der Sorte an den Stuhl. Sorte 5 mit einer (bei einstühligen Webern) mittleren, viel-
leicht etwas über mittleren Schwankungsziffer (sub Nr. 8) – die bei einer längeren Kette
wohl wesentlich niedriger ausgefallen Wäre – zeigt den Arbeiter
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 207
in dem nahezu dem geforderten Normalsoll entsprechenden Nutzeffekt (sub Nr. 7) auf
der Höhe seiner Leistung: die Sorte ist, wie der Akkord (sub Nr. 5) zeigt, schwierig, in-
folgedessen der verlangte Nutzeffekt (sub Nr. 6) niedriger: Der als (relativ) nicht sehr
gewandt, aber sehr kräftig und ausdauernd bekannte Arbeiter konnte bei m ä ß i g e n
Ansprüchen an die S c h n e l l i g k e i t (Tourenzahl und Nutzeffekt) sein Bestes lei-
sten.
Versuchen wir nun, nachdem dies Einzelbeispiel zeigte, in welchen Komplex sehr in-
dividueller Bedingungen die Analyse der Schwankungsunterschiede bei einem Einzel-
arbeiter führt, ob nicht doch sich bei einem Ueberblick über eine größere Zahl von Bei-
spielen irgendwelche deutlichen Tendenzen zu Parallelismen ergeben, so scheint es zu-
nächst wahrscheinlich, daß e r h e b l i c h e Steigerungen der T o u r e n z a h l die
Tendenz haben, die Schwankungen zu s t e i g e r n . Ordnet man eine herausgegriffe-
ne Serie mit der Stuhluhr kontrollierter Ketten nach den Tourenzahlen, mit denen sie
verarbeitet wurden, die höchste = 100 gesetzt, so zeigt sich in der Tat, daß alle Schwan-
kungsdurchschnitte, welche 14,0 % (der Durchschnittsleistung an der Kette) überstei-
gen, sich bei Tourenzahlen von ü b e r 75 % finden, daß dagegen sich bei diesen ho-
hen Tourenzahlen von den Schwankungsdurchschnitten unter 10 % nur ein einziger Fall
(9,5 %) findet, bei einem ungehnlich tüchtigen Mädchen: als dasselbe an der glei-
chen Kette von einem allerdings nur sehr mittelmäßigen männlichen Arbeiter abgelöst
wurde, schnellte die Amplitüde der Schwankungen für die zweite lfte der Kette auf
20,9 % von dessen Durchschnittsleistung auf die Höchstschwankung aller Ketten in
die Höhe. Dagegen überwiegen bei Tourenzahlen von 75 und weniger % die niedrigeren
Schwankungsdurchschnitte von 12 bis zu 6,5 % herab und finden sich nur vereinzelte
über 12 % (bis zum Maximum von 14 %) hinausgehende. Im übrigen besteht aber ein
irgendwie strenger Parallelismus von Tourenzahl und Schwankung n i c h t .
Was die D i c h t e der Gewebe anlangt, so haben von den 6 unter den kontrollier-
ten Ketten, welche 100-95 % der Maximaldichte haben, die Hälfte mehr als 12 %
Durchschnittsschwankung,
5
/
6
mehr als 10 %; bei den Ketten mit 90-60 %, der höchsten
(kontrollierten) Dichte haben
1
/
3
mehr als 12,
4
/
5
mehr als 10 % Amplitude, bei den noch
niedrigeren Dichtegraden kommen infolge der hohen Tourenzahl – wieder mehr höhe-
re Durch-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 208
schnitte vor; bei der Kleinheit der Zahlen sind jedoch diese Unterschiede überhaupt
nicht beweisend.
Die Garn f e i n h e i t fällt meist mit der Dichte der Sorte zusammen, und dann gilt
das eben Gesagte; wo dies ausnahmsweise nicht der Fall ist, das Gewebe also locker ist,
ist ein Parallelismus nicht ersichtlich; auch sind, wie schon gesagt, beim Garn verschie-
dene andere Qualitäten, die sich nicht in ziffernmäßigen Vergleich bringen lassen, von
Bedeutung.
E i n e Hauptunterscheidung ist nun noch übrig: einstühliges oder zweistühliges
Weben. Sie ist für die Art der Ansprüche, die an den Weber gestellt werden, natürlich
von größter Wichtigkeit. Das Arbeiten zwischen den beiden Stühlen, einen jeweils vor
sich, einen hinter sich, mit der Nötigung, bei der Inanspruchnahme durch den einen den
andern zeitweise aus den Augen zu lassen, wirkt namentlich auf die Nerven ungeübter
Arbeiter sehr beunruhigend. Wie demgemäß nicht anders zu erwarten, sind die Schwan-
kungen jeder einzelnen Kette im zweistühligen Weben im großen und ganzen stärkere
als beim einstühligen; der Durchschnitt der Schwankungen bewegt sich bei den letzte-
ren um etwa 10, bei den ersteren um etwa 14 % der Durchschnittsleistung. Allein es
finden sich beim zweistühligen Weben Ausnahmen mit (relativ) sehr niedrigen
Schwankungsziffern (bis wenig über 5 % herab), und zwar sind es besonders geübte
Arbeiter (männliche und weibliche), welche sie aufweisen.
Die Schwankungen und überhaupt die Bewegung der Leistungen beim zweistühligen
Weben erregen aber überhaupt besonderes Interesse und es sei daher auf diesen Punkt
noch etwas näher eingegangen.
A priori nnte man glauben, die Schwankungen der Leistung an zwei von demsel-
ben Arbeiter bedienten Stühlen würden sich der Regel nach gegeneinander kompensie-
ren: wenn der Arbeiter seine Aufmerksamkeit dem einen Stuhl zuwende, leide die Lei-
stung auf dem andern Not. Daß dies jedoch bei den Schwankungen zwischen den ein-
zelnen Tagesleistungen keineswegs generell der Fall ist, zeigen die leider freilich
nicht sehr zahlreichen Fälle, wo Stuhluhrmessungen an zwei von einem und demsel-
ben Arbeiter bedienten Stühlen vorliegen. Die Regel ist bei weitaus der Mehrzahl der
beobachteten Tagesleistungen, daß sie sich, wenn auch meist in sehr ungleichem Ver-
hältnis, in der g l e i c h e n Richtung (aufwärts bzw. abwärts) von einem Tage
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 209
zum andern bewegen. Man nnte daraus schlien wollen, daß darin die gleichmäßige
Wirkung der jeweiligen »Tagesdisposition« des Arbeiters für die Arbeit zum Ausdruck
gelange. Das dürfte in gewissem Me wohl auch entschieden der Fall sein. Allein es
gibt durchaus kein Mittel zu entscheiden, in w e l c h e m Me, und sicher scheint,
daß andere, in der Technik des Arbeitsprozesses liegende Umstände die überwiegende
Rolle spielen. Der Arbeiter, welcher zwei Webstühle bedient, kann, wenn an einem Tag
die Bedienung des einen besondere Schwierigkeiten macht, besonders zahlreiche Ket-
tenbrüche eintreten, die Konsequenzen mangelhaften Schlichtens der Kette oder andere
Gründe ihn stark in Anspruch nehmen, auch den andern Stuhl nicht so präzis bedienen,
wie an Tagen, an welchen die Kette auf dem ersteren glatter läuft. Dieses gegenseitige
Sichbeeinflussen der Arbeit auf beiden Stühlen dürfte die weitaus vorwiegende Rolle
bei jener Erscheinung spielen, die jetzt noch durch einige Zahlen illustriert werden mag.
Wir werden dann später sehen, daß und warum auch die umgekehrte Erscheinung: ent-
gegengesetztes Verhalten der Leistung auf beiden Stühlen, sich findet. Bei einem be-
sonders gewandten und zugleich stetigen Arbeiter stellten sich zwischen 30 aufeinander
folgenden Arbeitstagen die Schwankungen der Leistung von einem Tag zum folgenden
auf den beiden Stühlen, die er bediente (in % der Durchschnittsleistung) folgenderma-
ßen:
Tage: 1-2 2-3 3-4 4-5 5-6 6-7 7-8 8-9
Stuhl A: +5,0 -1,4 +2,4 +5,4 -3,4 -1,3 +9,1 -3,7
Stuhl B: -0,9 -8,0 +1,5 +14,0 -9,2 -0,9 +1,8 -0,6
Tage: 9-10 10-11 11-12 12-13 13-14 14-15 15-16 16-17
Stuhl A (Forts.):
-7,0 +11,4 -11,7 +5,0 -2,5 -3,1 +7,7 -3,6
Stuhl B (Forts.):
-0,8 +6,8 -9,6 +6,9 -5,4 +2,9 +4,5 -10,0
Tage: 17-18 18-19 19-20 21-22 22-23 23-24 24-25 25-26
Stuhl A (Forts.):
-9,6 +10,8 -9,3 +8,1 -1,3 +0,7 -2,0 -20,4
Stuhl B (Forts.):
-14,9 +13,8 -8,8 +7,3 -2,2 +7,5 -19,2 +9,2
Tage: 25-26 26-27 27-28 28-29 29-30
Stuhl A (Forts.):
(+7,0) (+44,9)
(-20,3) (-9,1) (-6,1)
Stuhl B (Forts.):
(Ketten-
ende)
außer
Betrieb
(Einla-
ge)
(Ketten-
anfang)
(Voller
Betrieb)
Während der 25 Tage, an denen beide Stühle liefen, bewegte sich also die Leistung
nur in 3 Fällen von einem zum andern Tag in entgegengesetztes Richtung; und davon
gehört einer (24./25. Tag) schon der Zeit des Zuendegehens der Kette auf Stuhl B an.
Addiert man für jeden Tag die Zahl der Schüsse auf beiden Stüh-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 210
len, so zeigt sich als durchschnittliche Schwankung der Gesamtleistung zwischen je
zwei Tagen 6,11 %, hrend die Leistung auf Stuhl A für sich vom 1. bis 25. Tage um
durchschnittlich 5,96 %, auf Stuhl B, der eine um etwas aber 9 % höhere Tourenzahl
hat, um durchschnittlich 7,36 % schwankt. Der Schwankungsdurchschnitt der Gesamt-
leistung steht zwar dem niedrigen der beiden Eigendurchschnitte näher als dem höheren,
aber nicht unter beiden, wie es der Fall sein würde, wenn die Schwankungen der beiden
Leistungen überwiegend die Tendenz gehabt hätten, sich gegenseitig auszugleichen.
Der Schwankungsdurchschnitt zwischen den mtlichen 30 Tagen auf Stuhl A, die ein-
stühligen Tage also eingerechnet, beträgt 8 %, gegen 5,96 % während der zweistühligen
Arbeit, also um über ein Drittel mehr. Die Leistung auf Stuhl A schnellt eben hrend
der völligen Außerbetriebsetzung von Stuhl B um rund 45 % des Durchschnittes in die
Höhe (26./27. Tag), nachdem sie vorher während der mühsamen Arbeit am letzten Teil
der Kette auf Stuhl B (24./25. Tag) schnell gesunken war, und senkt sich dann h-
rend der Wiederinbetriebsetzung von B wieder zu ihrem vorherigen Durchschnitt herab.
Auf diesem Wechsel zwischen Einstühligkeit und Zweistühligkeit beim Kettenwechsel
beruht zu einem Teil der stärkere Schwankungsdurchschnitt, den die Stuhluhren an
Stühlen für schmale (also zweistühlig gewebte) Ware aufweisen. Zu einem ferneren Teil
beruht er, wie schon kurz angedeutet wurde, darauf daß der Wechsel der Sorten (oder,
bei gleichbleibender Sorte, der Güte des Garnmaterials) auf dem einen Stuhl stets auch
das M der Leistung auf dem andern Stuhl mit beeinflußt. Wird die Arbeit an dem ei-
nen Stuhl schwieriger, so sinkt die Leistung an dem andern Stuhl und umgekehrt, und
dies äußert sich teils bei Beginn des Wechsels in schrofferen Unterschieden der Ta-
gesleistung, teils in dauernd stärkeren Abweichungen nach unten bzw. oben vom Ge-
samtdurchschnitt der auf die Kette erzielten Leistung. Wenn beispielsweise der Durch-
schnitt der Gesamtleistung auf die Kette von Stuhl A = 100 gesetzt wird, so steht die
ganze oben betrachtete 25 Tage umfassende Periode der Doppelstühligkeit, hrend
welcher auf Stuhl B eine sogenannte »mitteldichte« Sorte lief, auf Stuhl A mit durch-
schnittlich 121,5 %, i n f o l g e d e s S o r t e n w e c h s e l s auf B, um mehr als
1
/
5
über dem G e s a m t durchschnitt, während, nach Einlegung einer feinen und um 25
% dichteren Sorte auf den andern Stuhl
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 211
(B), die Leistung auf Stuhl A nur in der ersten Woche noch, offenbar kraft besonderer
Anstrengung des Arbeiters
1)
, (der ja seine Leistung a n der Stuhluhr kontrollieren
kann), sich noch über dem Durchschnitt bewegt (104,0), weil er zunächst versucht,
möglichst die gewohnte Schußzahl herauszubringen. Dann aber sinkt sie im Durch-
schnitt der folgenden 25 Tage unter den Gesamtdurchschnitt der Kette auf 95,4 %, auf
welcher Höhe sie sich nun auch weiterhin lt
2)
. Und zugleich mit der sinkenden Lei-
stung steigen die Schwankungen. Die Durchschnittsschwankung der Gesamtleistung
(die gemachten Schüsse auf beiden Stühlen addiert) beträgt 6,93 % der Durchschnitts-
leistung (gegen 6,11 in der ersten Periode von 25 Tagen). Das Charakteristische ist da-
bei, daß diese Vermehrung der Schwankungen keineswegs besonders stark auf Stuhl B
hervortritt, obwohl dichte Ware, zumal bei feinen Garnen, eine wesentlich größere Zahl
von Kettenbrüchen aufweist als leichtere: die Höhe der Durchschnittsschwankung ist
auf Stuhl B t r o t z d e m zufällig genau die gleiche in der zweiten wie in der ersten
Periode
3)
: 7,36 %. Dagegen schwankt die Leistung auf dem Stuhl A, auf welchem die-
selbe Kette weiter lief, merklich stärker als in der ersten Periode, nämlich um durch-
schnittlich 6,99 % (gegen 5,96 % der ersten Periode). Der Durchschnitt der Schwan-
kungen der Gesamtleistung steht hier also unter demjenigen jeder von beiden Einzellei-
stungen, was dadurch bewirkt wird, daß hier in 7 Fällen (gegen 3 in der ersten Periode)
die Schwankungen der letzteren in entgegengesetzter Richtung verlaufen, also sich
kompensieren: in diesem Falle hat der Arbeiter, nachdem er seinen anfänglichen Ver-
such, beide Stühle auf der bisherigen Schußzahl zu erhalten, hatte aufgeben müssen, of-
fenbar seine Aufmerksamkeit so stark auf die neue Sorte konzentriert, daß er zwar diese
letztere auf der
1)
Denn auch die Leistung auf Stuhl B ist, zumal für einen Kettenanfang, recht hoch.
2)
Die Erhöhung der Tourenzahl auf B um noch nicht 0,9 % spielt dabei schwerlich eine irgendwie
fühlbare Rolle. Die meteorologischen Arbeitsbedingungen waren in beiden Perioden (Juli bzw. Au-
gust und erste Septemberwoche 1908) nicht irgend wesentlich verschieden und im ganzen für diese
Jahreszeit relativ günstig. Eine begrenzte Betriebseinschränkung im August (Sonnabends mehrfach nur
Halbtagsarbeit, einzelne Sonnabende volle Stillstellung) war, bei der Eigenart dieses äußerst lei-
stungswilligen Arbeiters, eher geeignet, die Leistung der zweiten 25 Tage in die Höhe zu treiben.
3)
Nur der Umstand, daß in der ersten Periode die starken Schwankungen der Leistungen zwischen
den letzten 3 Tagen (Kettenende) mit einbezogen sind, bedeutet einen gewissen Unterschied.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 212
Höhe hielt oder selbst steigerte, gleichzeitig aber die Bedienung des andern Stuhles mit
der ihm schon vertrauten älteren Kette litt, der Stuhl z. B. bei Kettenbrüchen durch-
schnittlich wesentlich nger stehen blieb usw. und so auf diesem Stuhl niedrigere und
stärker schwankende Leistung eintrat.
Stellen wir nun diesem hochgeübten, besonders leistungsfähigen und -willigen
(29jährigen) Arbeiter noch einen andern, leidlich veranlagten, aber um 10 Jahre jünge-
ren gegenüber, der ebenfalls, und zwar zur gleichen Zeit, zweistühlig arbeitete. Die
Tourenzahl seiner beiden Stühle war um rund 2 bis rund 6 % niedriger als auf Stuhl B,
um rund 3 bis rund 7 % höher als auf Stuhl A des andern Arbeiters, Unterschiede, die
für unsere Zwecke nicht ins Gewicht fallen. Die Sorten, welche er machte, waren über-
wiegend leichte Sorten also (normalerweise) gut laufende relativ bequeme Arbeit,
daneben nur einmal eine schwerere Sorte, deren Dichte sich aber zu derjenigen der von
dem andern Arbeiter gemachten wie 2 : 3 bzw. wie 3 : 5 verhielt. Seine Arbeit war also
ganz wesentlich leichter als die des andern Arbeiters, dafür aber war er auch, mit 19
Jahren, noch nicht 3 Jahre in der Arbeit und 1
3
/
4
Jahre im Vollakkord, also ganz wesent-
lich weniger geübt als der andere Arbeiter. Demgemäß steht auch das Maß der Leistung
und Maschinenausnützung, welches er erzielte, trotz der leichteren Arbeit ganz wesent-
lich hinter der Leistung des andern zurück: je nachdem man die Zahl der gemachten
Schüsse oder was allein ein einigermaßen richtiges Bild gibt die he der »Nutz-
prozente« zugrunde legt, um rund 18 bzw. um rund 28 %
1)
, wobei allerdings der mehr
als doppelt so häufige Ketten w e c h s e l bei dem Jüngern mit ins Gewicht fällt (7
verschiedene Ketten und 5 verschiedene Sorten in 15
1
/
2
Wochen auf den beiden Stühlen
des Jüngern gegen 3 verschiedene Ketten und ebensoviel Sorten in 13
1
/
2
Wochen bei
dem Aelteren). Sieht man sich nun die Schwankungen bei dem jüngeren Arbeiter an, so
betragen dieselben zwischen den ersten 14 Tagen, an denen die gleichen Ketten neben-
einander liefen,
1)
Direkt vergleichbar scheint die Leistung beider Arbeiter für eine Periode, während deren beide
gleichzeitig an der gleichen Sorte arbeiteten und der ältere Arbeiter einen um 38 % höheren Nutzeffekt
erzielte als der jüngere, oder nach Schuß gezählt bei einer um 6
3
/
4
% höheren Tourenzahl des Stuhles
eine um 29,7 % höhere Schußzahl. Indessen ist 1. die technische Einrichtung der Stühle nicht in allen
Punkten die gleiche und 2. hatte der jüngere auf dem andern daneben laufenden Stuhl eine andere
(leichtere) Sorte als der Aeltere.
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 213
auf dem einen Stuhl (C): 23,0 %, auf dem andern (D) 16,1 % des Gesamtdurchschnittes
der betreffenden Kette, während die Gesamtleistung (beide Nutzprozente jedes Tages
addiert) um 14,3 % schwankt. Daß die Schwankungen der Gesamtleistung stark u n -
t e r denen von jeder der beiden einzelnen stehen, hat seinen Grund darin, daß bei die-
sem Arbeiter zwischen den 14 Tagen der Periode 5mal die Leistungen in entgegenge-
setzter Richtung, 8mal in der gleichen sich bewegen. Es folgen dann 15 Tage mit drei-
maligem Ketten- und Sortenwechsel (1 auf Stuhl C, 2 auf Stuhl D) und demgemäß sehr
heftigen durchschnittlichen Schwankungen auf beiden Stühlen: 29,4 % auf Stuhl C,
27,3 % auf Stuhl D. hrend der alsdann folgenden Periode von insgesamt 31 Tagen
hatte der Arbeiter den Vorteil, die g l e i c h e
1)
leichte Sorte auf b e i d e n Stühlen
zu haben. Demgemäß sinken die Schwankungen. Sie betragen zwischen den zur h-
lung geeigneten
2)
25 Tagen im Durchschnitt: 11,0 % auf Stuhl C, 16,4 % auf Stuhl D,
und für die Gesamtleistung: 11,2 %, also immer noch annähernd das Doppelte wie bei
dem älteren Arbeiter. Die Zahl der lle, in denen sich die Leistungen von einem Tag
zum andern entgegengesetzt bewegen, beträgt 9 (von 25), also relativ weniger als in der
ersten Periode dieses Arbeiters, aber auch jetzt wesentlich mehr als bei dem älteren Ar-
beiter. Man wird in dem Unterschied der Schwankungsamplitüden sowohl wie in dem
Unterschied der Schwankungskompensationen Konsequenzen des Unterschieds der
G e ü b t h e i t zwischen den beiden Arbeitern erblicken dürfen. Der jüngere Arbeiter
schwankt – so darf man als Erklärung auch hier annehmen – mit seiner Aufmerksamkeit
zwischen den beiden Webstühlen in höherem Me hin und her als der ältere, der sein
Augenmerk mehr darauf richtet und, zufolge seiner heren Geübtheit auch mit mehr
Erfolg darauf zu richten imstande ist, beide Stühle so voll auszunützen wie möglich und
daher, im Effekt, beide etwa gleichmäßig im Gang lt. »Gleichmäßig im Gang halten«
heißt dabei nicht etwa: auf jedem von beiden möglichst die gleiche Anzahl Schüsse er-
zielen, sondern: nach Möglichkeit dasjenige
1)
Denn der Unterschied von nur 3 % in der Breite kommt für die Arbeitsleistung natürlich nicht in
Betracht. Es tritt dazu, daß auch die andern gleichartigen Sorten sehr ähnliche waren, so daß auch ein
Uebungseffekt mitspielen kann.
2)
Es mten einige Tage, an denen auf dem einen Stuhl wohl wegen Defektes nicht gearbeitet
wurde, außer Betracht bleiben.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 214
Optimum von A u s n u t z u n g jeder von beiden Maschinen zu erzielen, welches
der L o h n kalkulation zugrunde gelegt ist und also vorausgesetzt, daß diese »rich-
tig« ist dem Betrieb das unter den gegebenen Bedingungen quantitativ und qualitativ
mögliche Optimum von Waren, dem Arbeiter das (bei den der Kalkulation zugrunde ge-
legten Soll-Löhnen) mögliche Maximum von Lohn in der Zeiteinheit gewährt
1)
. Die
Kalkulation kann, auch wenn sie »richtig« war, durch individuelle Bedingungen ins-
besondere Materialbeschaffenheit natürlich desavouiert werden: Dann hat der Betrieb
(in der Warenqualität) und der Arbeiter (im Lohn) den Schaden
2)
. Andrerseits würde ei-
ne im konkreten Fall für zwei von einem Arbeiter bediente Webstühle »falsche«, d. h.:
den rein technischen Bedingungen der Leistungen auf jedem von ihnen n i c h t ent-
sprechende Bemessung der Akkordsätze die Folge haben, daß der Arbeiter w e n n
er seine Verdienstchancen richtig abwägt seinen Arbeitsverdienst auf dem Weg des
»kleinsten Kraftmaßes« zu gewinnen sucht, d. h. jeweils den Stuhl am intensivsten aus-
nützt, auf welchem mit geringerem
1)
Ein Webstuhl, dessen Tourenzahl bei gleichbleibender Sorte um nehmen wir an – 20 % erhöht
würde, könnte, selbst unter der Voraussetzung, daß diese Beschleunigung pro Meter Kette keinerlei
Steigerung der Fadenbrüche oder sonstige Störungen herbeiführte, dennoch unmöglich um 20 % mehr
Ware liefern, wenn der Arbeiter für jede Schußspulauswechslung und für die Beseitigung jedes Faden-
bruches usw. die g l e i c h e Zeit bedarf, wie bei der um 20% geringeren Tourenzahl, einfach weil
die durch solche Unterbrechungen des Arbeitsprozesses verloren gehende Zeit natürlich, auf die Me-
terzahl Waren gerechnet, einen g r ö ß e r e n Ausfall bedeutet, als bei geringerer Tourenzahl. Nur
wenn der Arbeiter e b e n f a l l s alsbald um 20 % schneller reagieren könnte, würde die Steige-
rung des Ertrages 20 % betragen. Schon deshalb ist das Maß der von einem und demselben Arbeiter
normalerweise erzielten Maschinenausnützung je nach der Tourenzahl nicht gleich hoch. Nun ist aber
ferner natürlich die Höhe der Tourenzahl von erheblichem Einflauch auf die Zahl der Fadenbrüche
und das sonstige Verhalten des Garns beim Weben und zwar z. B. je nach Feinheit und Draht dessel-
ben in sehr verschiedenem Maße und daher in ihrem Optimum von diesen (und sehr vielen anderen)
Umständen abhängig.
2)
Die sehr großen Unterschiede des Materials würden eins der verschiedenen Probleme bei dem
Versuch des Abschlusses von Tarifverträgen bilden. Heute wird im Fall »schlechter Ketten« durch in-
dividuelle Zuschläge nachgeholfen. Die he solcher Zuschläge ließe sich nicht leicht tarifieren. Und
es tritt ferner dazu: die Zahl der Fadenbrüche ist (auch in der Baumwollweberei) keineswegs n u r
Funktion der Garnsorte und der Güte ihrer Herstellung, sondern in nicht unerheblichem Maße auch
vom Arbeiter abhängig, der einen erheblichen Bruchteil davon durch Kontrolle der Kette und rechtzei-
tigen Eingriff verhüten kann. Geübte Arbeiter pflegt der beaufsichtigende Meister u. a. auch daran zu
erkennen, daß sie sich ebensoviel hinter wie vor den Webstühlen aufhalten (auch in der Baumwollwe-
berei).
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 215
Arbeitsaufwand mehr zu verdienen ist, weil für die auf ihm gemachten Sorten der Lohn-
satz relativ im Verhältnis zu der gleichzeitig auf dem andern Stuhl gemachten Sorte
»zu günstig« kalkuliert ist.
Die uns interessierende Frage ist nun: w i e w e i t bei »richtiger« Kalkulation je-
ne Anpassungstendenz, die zur Geltung kommen muß, w e n n der Arbeiter das Maß
der Ausnutzung der Stühle der Lohnkalkulation und den aus dieser sich für ihn erge-
benden Verdienstchancen anpaßt, auch tatchlich sich realisiert? Darauf kann nur bei
Betrachtung l ä n g e r e r Z e i t r ä u m e , während deren die g l e i c h e n Sor-
ten nebeneinander laufen, eine Antwort gegeben werden. Um diese Antwort – soweit sie
bei dem bescheidenen Umfang des Materials überhaupt möglich ist – gleich in dem we-
sentlichen Punkt vorwegzunehmen: eine solche Anpassung findet, wie es scheint, bei
den einzelnen Arbeitern in sehr verschiedenem Grade statt. Jeder Arbeiter, der mehrere
Stühle bedient, wird in einem gewissen Maß zur »Anpassung« an die Bedingungen der
optimalen Produktion genötigt, wenn anders er nicht ökonomische Nachteile (Lohnaus-
fall oder, bei andauerndem starken Zurückbleiben hinter der kalkulatorisch erwarteten
Leistung, Entlassung) gewärtigen will. Aber ziemlich verschieden scheint der Grad zu
sein, in welchem ihm diese Anpassung gelingt. Aus der Beobachtung der Verdienst-
schwankungen einer größeren Anzahl von zweistühligen Arbeitern schien mir hervor-
zugehen und dies wurde von der Betriebsleitung als auch ihren Erfahrungen entspre-
chend bestätigt daß die überhaupt »begabtesten« Arbeiter auch diejenigen sind, wel-
che sich der Kalkulation am besten anzupassen wissen. Und zwar scheint sich diese An-
passung so zu vollziehen, daß der Arbeiter, welcher gleichzeitig zwei verschiedene Sor-
ten neben einander zu weben anfängt, wenn er leistungsfähig ist, meist damit beginnt,
zwischen den beiden Sorten mit dem Maximum seiner Anspannung abzuwechseln, so
daß ein stoßweises Emporsteigen der Leistung zuerst auf dem einen Stuhl, dann bei
gleichzeitigem Stehenbleiben oder auch mäßigem Sinken der Leistung auf diesem, ein
ebensolches Ansteigen auf dem andern Stuhl stattfindet, was sich dann eventuell noch
ein bis zweimal wiederholen kann, bis der Arbeiter, nachdem er die Leistungen auf bei-
den Stühlen durch »Uebung« genügend gesteigert und zugleich ihre mögliche relative
Lohnrentabilität »ausprobiert« hat, allmählich seine Leistungen
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 216
auf die beiden Stühle so zu verteilen gelernt hat, daß er das Optimum und d a s
h e i ß t , bei »richtiger« Akkordkalkulation: auf jedem von beiden etwa g l e i c h -
v i e l verdient. Dies würde, anders ausgedrückt, bedeuten, daß die Leistungen der von
einem Arbeiter bedienten Stühle, in Produktionsquanten ausgedrückt, bei geübten Ar-
beitern und »richtiger« Kalkulation eine Tendenz haben, sich umgekehrt proportional
dem Akkordsatz der Sorten zu stellen. Eine »Tendenz«: das heißt, daß eine Unmasse
individueller, im Material, im Stuhl, in den »Dispositionen« des Arbeiters, in der Jah-
reszeit usw. liegende Bedingungen es hindern nnen, daß dies Resultat wirklich ein-
tritt, zumal jene Unterschiede der durch die verschiedenen Sorten bedingten Anforde-
rungen an den Arbeiter, welche durch die Differenzen der Akkordsätze berücksichtigt
werden sollen, sich ja nicht auf eine einzige einheitliche und gleichmäßige, für alle Sor-
ten bedeutsam Fähigkeit desselben beziehen, sondern auf einen ganzen Komplex von
solchen, die für die verschiedenen Qualitäten in ganz verschiedenem Maße relevant
werden, so daß die Individualität der Arbeiter starke Abweichungen bedingen muß.
Trotz all dieser Störungsquellen findet sich nun aber die erwähnte Tendenz gerade bei
den geübtesten Arbeitern mehrfach ziemlich deutlich realisiert. So zeigt um wenig-
stens zwei Beispiele herauszugreifen der ältere und geübtere der beiden oben als Bei-
spiel für die Tagesschwankungen verwerteten Arbeiter beim Weben zweier unter sich
um 7,5 % in der Akkordfestsetzung verschiedener Sorten, welche er 4
1
/
2
Monate neben-
einander webte, zuerst von der ersten zur zweiten Halbmonatsperiode ein starkes
Ansteigen der Leistung auf beiden Stühlen, und zwar am stärksten in der dichteren Sorte
mit dem höheren Akkord. Auf diese, offenbar durch kontinuierliche Ueberanspannung
erzielte Steigerung folgt vom zweiten zum dritten Halbmonat ein erhebliches Sinken,
stärker wiederum bei der dichteren (für das gleiche Quantum höher gelohnten) Sorte.
Vom dritten zum vierten Halbmonat steigt die Leistung in der schwierigeren Sorte,
während sie in der leichteren um ein Weniges sinkt, vom vierten zum fünften ist genau
das Umgekehrte der Fall, vom 5. zum 6. Halbmonat wird die Entwicklung durch einen
Kettenwechsel in der leichteren Sorte gestört: beide Leistungen sinken, um dann wieder
vom 6. zum 7. beide langsam zu steigen, vom 7. zum 8. beginnt der Anlauf zum Anstieg
in der schwierigen Sorte von neuem, hrend die leichtere
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 217
mäßig sinkt, mit dem 9. geht die Kette der ersteren zu Ende (beide sinken). Dabei hat
sich im Durchschnitt von je 1
1
/
2
Monaten die Differenz des Produktionsverhältnisses (in
Metern W a r e n ausgedrückt) von 14,5 % der mittleren Leistung im Tagesdurch-
schnitt im ersten Drittel auf 6,5 % im Tagesdurchschnitt des letzten Drittels gesenkt.
Dabei hat aber im ersten sowohl wie im zweiten Drittel die Produktionsleistung der
schwereren Sorte in je einem Halbmonat ü b e r derjenigen der leichteren gestanden,
und erst im letzten Drittel hat sich der in der Akkorddifferenz (7,5 %) zum Ausdruck
gebrachte Unterschied der Schwierigkeit der Arbeit annähernd zutreffend in der Diffe-
renz der Leistung ausgeprägt. Der Unterschied zwischen dem täglichen Durchschnitts -
v e r d i e n s t auf jedem der beiden Stühle ist im Drittelsdurchschnitt auf die lfte
zurückgegangen, wobei in den beiden ersten Perioden das M, in welchem bald der ei-
ne, bald der andere Stuhl das Uebergewicht hat, erheblich schroffer wechselt als in der
dritten; der Stuhl mit der leichteren Sorte v e r d i e n t e mehr (+) oder weniger (-)
als der andere (in Prozenten von dem jeweils niedrigen Verdienst): 1. Halbmonat:
+14,0; 2. Halbmonat: -8,5; 3.: +18,7; 4.: -13,8; 5.: + 14,7; 6.: + 9,2; 7.: + 12,9; 8.: + 5,2;
9.: + 3,9. Man sieht aus allem, daß der Arbeiter durch fortgesetztes bewußtes oder un-
bewußtes Probieren und Sichanpassen allmählich sich den der Kalkulation der Akkor-
de zugrunde gelegten relativen Bedingungen der Arbeit an den beiden Stühlen annähert.
Noch deutlicher als bei diesem Arbeiter der, beiläufig bemerkt, Gewerkschaftler ist
– tritt die Tendenz zur Ausgleichung des Stuhlverdienstes bei einem ebenfalls besonders
chtigen Mädchen hervor, wenn man folgende Zahlen betrachtet, die sich auf die
Halbmonate nach Beginn der zweistühligen Arbeit an zwei untereinander im Akkord
um 17,6 % verschieden angesetzten Sorten bezieht: Der Verdienst am Stuhl A (mit der
höher angesetzten Sorte) verhielt sich zu B (mit der niedriger angesetzten Sorte) in den
Halbmonaten:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 0
wie 100 zu 262 155 120 96,0 86,2 93,0 86,9 101,5 100,0 100,6
Also im Durchschnitt der drei ersten Halbmonate wie 100 : 146, im Durchschnitt der
vier mittleren wie 100 : 90,5, in den drei letzten endlich standen die Verdienste mit win-
zigen Abweichungen einander gleich. Anders ausgedrückt: in den ersten vier Monaten
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 218
hat sich die Arbeiterin, welche in der Sorte auf Stuhl B schon 2 Halbmonate gearbeitet
hatte, in die neue schwerere Sorte (auf Stuhl A) eingearbeitet, dabei aber durch Konzen-
tration ihrer Aufmerksamkeit auf die alte leichtere Sorte den Stuhl B in vollem Betrieb
erhalten (denn die auf diesem Stuhl produzierten Quantitäten stehen pro Tag nur im
zweiten Halbmonat etwas niedriger als der Durchschnitt); nachdem dann mit dem drit-
ten Halbmonat die Einarbeitung in die schwere neue Sorte (auf A) vollzogen ist, wendet
die Arbeiterin zeitweise ihre Aufmerksamkeit dieser mit entsprechend höherem Akkord
ausgezeichneten Sorte so viel stärker zu als der billigeren, daß die Leistungen in dieser
letzteren um etwa 15 % sinken; hrend der letzten Zeit der Arbeitsperiode jedoch ste-
hen die V e r d i e n s t e an beiden Stühlen einander gleich und das bedeutet: die
P r o d u k t i o n s leistungen standen umgekehrt proportional den Akkordsätzen, der-
gestalt, daß die Produktionsleistungen auf B niedriger stehen als in der ersten, diejeni-
gen von A als in der zweiten Periode, also ein Ausgleich auf einer Art »mittlerer« Linie
und zwar umgekehrt proportional dem kalkulierten Akkordsatz stattfindet, nachdem die
Arbeiterin erst in der einen, dann in der anderen Sorte durch starke Anstrengungen ihren
Uebungsstandard hinlänglich erhöht hatte. Es mag an der Analyse dieser beiden Fälle,
denen einige andere ähnliche zur Seite gestellt werden nnten, genügen und nur noch
bemerkt werden, daß diesen Fällen, in denen es sich stets um sehr geübte Arbeitskräfte
handelt, zahlreiche andere, und zwar speziell bei minder geübten oder minder begabten
Arbeitern, gegenüberstehen, in denen ein sehr unstetes Schwanken zwischen den beiden
Stühlen dauernd bestehen bleibt, die Ausgleichung und Anpassung an die Lohnkalkula-
tion also nicht gefunden wird, – was s t e t s den Verdienst schmälert.
Wir sind mit diesen Darlegungen bereits ganz in die Analyse der Leistungsschwan-
kungen e i n z e l n e r Arbeiter hineingeraten, wie dies auch früher bereits gelegent-
lich der Fall war. Damals hatten wir allerdings wesentlich die Entwicklung der Leistun-
gen an einer und derselben Sorte (bzw. zwei Sorten auf zwei Stühlen) beobachtet. Wir
wollen nunmehr was bisher nur vereinzelt und skizzenhaft zu illustrativen Zwecken
erfolgte für eine Reihe von Arbeitern längere Zeitperioden, die einen mehrfachen
W e c h s e l der Sorten umschlien, betrachten.
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 219
14
Wir beginnen mit einer Arbeiterin, deren Leistungen gänzlich den Charakter
reiner Handarbeit an sich tragen: der »Andreherin«, welche in diesem Betriebe
auch die Arbeiten des »Einlegens«, »Einziehens« und »Blattstechens«, also die
ganze r e i n manuelle Vorbereitungsarbeit an der zur Verarbeitung bestimm-
ten Kette zu vollziehen hat. Die für die Verdienstchance und Arbeitsökonomie
in erster Linie wichtige Teilarbeit (die unter andern Verhältnissen, d. h. sowohl
in größeren Betrieben wie mangels einer so hoch wie hier qualifizierten Arbeits-
kraft, unter mehrere Arbeiterinnen spezialisiert zu sein pflegen) ist das Andre-
hen, und es scheint, daß die Leistung in dieser, hauptsächlich aus unaufhörlich
aufeinanderfolgenden, möglichst schnellen, drehenden Handgriffen an vorher
mit ebenfalls größter Schnelligkeit richtig ausgesuchten Fäden bestehenden Ar-
beit in sehr hohem Maße von natürlicher Anlage (bestimmten Fingergeschick-
lichkeiten) abhängig ist, außerdem absolute Unempfindlichkeit gegen die uner-
hörte Eintönigkeit der 10 und mehrere Male in der Minute sich wiederholenden,
absolut gleichen und dabei genaues Hinsehen erfordernden, hastigen Handbe-
wegungen voraussetzt. Die andern Arbeiten deren relative Dauer und Schwie-
rigkeit am einfachsten durch das Verhältnis der auf je 1000 Fäden berechneten
Akkordsätze Andrehen : Einlegen : Einziehen : Blattstechen = 100 : 40 : 140
(bzw. 174)
1)
: 30 charakterisiert wird geben an Eintönigkeit dem »Andrehen«
wenig nach, doch dürfte die Leistung in ihnen nicht in gleichem Grade Funktion
natürlicher Anlage sein wie dort. Die Stellung der Arbeiterin im Produktions-
prozeß bringt es mit sich, daß das Mihrer Beschäftigung und auch die Art der
Verteilung derselben unter jene vier Arbeiten, die ihr obliegen, permanent, je
nachdem neue Ketten eingelegt werden, wechselt. Man gewinnt ein Bild davon
wohl am besten durch die in Tabelle IV wiedergegebenen Zahlenreihen. Zu be-
merken ist dazu: die Akkordsätze der Arbeiterin, die in jüngeren Jahren Hand-
weberin war, dann aber Garten- und andere Arbeit tat und von der Beschäfti-
gung im Garten des
1)
Vom Juli ab hatte sie beim Einziehen unter neuen, höhere Aufmerksamkeit fordernden
Bedingungen zu arbeiten, zuerst teilweise, dann ganz. Die Erschwerung der Arbeit drückt sich
in einem um etwas über 24 % erhöhten Akkord aus. Dadurch wird eine gewisse Störung in
die Zahlen gebracht, die jedoch, wie die Tabelle zeigt, nur kurze Zeit von Erheblichkeit war.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 220
Chefs in die Fabrik eintrat, anfangs den halben Tag dort, die andere Hälfte im
Garten arbeitete und seit Februar 1907 voll im Akkord beschäftigt war, wurden
gemäß einer gleich anfangs ihr gemachten Ankündigung von Juni 1907 an
um 10 % ermäßigt
1)
. Wie es nach der Tabelle Zeile 4 e als wenigstens mög-
lich erscheinen muß, r e a g i e r t e die Arbeiterin darauf v o r dem kriti-
schen Monat mit niedriger, dann aber, n a c h d e m trotzdem die Herabset-
zung eingetreten war, mit so stark steigender Leistung, daß diese im Verdienst
die Herabsetzung mehr als ausglich. Eine zweite ihr r die Zeit nach dem Sep-
tember 1907 angekündigte Herabsetzung um nochmals 10 %. (gegen welche die
Arbeiterin vielleicht im September mit der in diesem Monat sinkenden Leistung
s. Zeile 4. e reagierte), unterblieb, da inzwischen die gewerkschaftliche Be-
wegung zunahm und die Arbeiterin auch so hinlänglich rentabel war. Die nied-
rigeren Leistungen in den vier dunklen Monaten im Winter 1907-1908 (Novem-
ber bis Februar) erklären sich wohl, wie bei vielen andern Arbeitern, zum Teil
aus der größeren Arbeitsmühe bei künstlichem Licht. Der starke Absturz im
September 1908 erklärt sich daraus, daß die Depression und Betriebseinschrän-
kung dieses Monats besonders intensiv gerade auf die Andreherin wirkt, deren
Beschäftigungsgrad ja besonders eindeutig von der jeweiligen Inangriffnahme
neuer Ketten, also vom Maß der Bestellungen abhängt: wie Zeile 2 ergibt, ist sie
nur 15 Tage (von den 26 Arbeitstagen des Monats) im Akkord beschäftigt gewe-
sen, hat also um das Doppelte mehr unter der Einschnkung gelitten, als die an-
dern Arbeiter, indem sie nur bis zu 4 Tagen in der Woche Arbeit fand und na-
mentlich die Beschäftigung beim »Einzieheauf fast
1
/
5
sank. Ueberhaupt ist,
auch in Zeiten der Vollbeschäftigung, für die Leistung der Arbeiterin, jedenfalls
für ihre Leistung in einer ihrer vier Einzeltätigkeiten, durchaus der jeweilige Be-
darf des Betriebes maßgebend. Wie Zeile 1 und 2 ergeben, ist in 11 von 19 Mo-
naten die Zeit der Akkordarbeit von der überhaupt geleisteten Arbeitszeit ver-
schieden, und die Zahlen in Zeile 5 zeigen, daß selbst bei Zusammenrechnung je
eines ganzen Quartals die Zusammensetzung des Gesamtverdienstes aus den
Verdiensten an den 4 Einzelarbeiten ohne Regel wechselt.
1)
Der Vergleichbarkeit halber sind die Zahlen bis Juni derart umgerechnet, daß sie erge-
ben, wieviel die Arbeiterin verdient haben w ü r d e , wenn die Sätze von Anfang an so
hoch gewesen wären.
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 221
Entwicklung der Tagesakkordverdienste einer Arbeiterin bei reiner Handarbeit
(März 1907 bis September 1908)
Tabelle IV.
III IV V VI VII VIII IX X XI XII I II III IV V VI VII VIII
IX
1.
Monats g e s a m t verdienst in %
des ersten Monats
100
94
99
117
109
125
118
141
117
100
89
119
127
126
131
127
130
113
76
2.
Arbeitstage im Monat 24
23
1
/
2
24
1
/
2
25
25
1
/
2
2
26
1
/
2
24
26
1
/
2
25
20
1
/
2
24
3
/
4
25
26
23
23
1
/
2
23
26
1
/
2
21
16
3.
Davon im Akkord 23
3
/
4
23
1
/
2
24
1
/
2
25
25
1
/
2
24
1
/
4
24
24
1
/
4
24
20
2
/
5
22
1
/
3
22
1
/
2
24
1
/
5
23
22
1
/
2
20
24
3
/
4
17
1
/
2
15
4.
Der durchschnitt-
liche T a -
g e s a k -
k o r d ver-
dienst betrug %
des Verdienstes
im 1. Monat
a) Andrehen
100
85
114
105
96
105
81
147
138
168
122
125
141
156
98
168
144
157
152
b) Einlegen 100
94
110
114
110
114
68
138
147
136
134
121
152
162
98
129
126
166
159
c) Einziehen 100
102
36
136
*)167
167
210
108
49
0
82
102
59
63
179
100
82
98
20
d) Blattstechen 100
320
161
120
140
160
220
0
0
0
40
40
0
0
58
20
0
0
0
e) im ganzen 100
96
95
114
114
124
115
132
112
112
113
116
120
131
127
140
121
140
118
5.
An dem durch-
schnittl. T a -
g e s a k -
k o r d ver-
dienst sind
durchschnittl. be-
teiligt m. %:
a) Andrehen
54
-------
53
-------
43
-------
67
-------
59
-------
57
-------
64
b) Einlegen 21
21 17 23 23 19 24
c) Einziehen 24
21 *)36 10 17 20 12
d) Blattstechen 1
5 3 0 0,6 3 0
6.
Halbjährlicher durchschnittl. T a -
g e s a k k o r d verdienst in % des
Verdienstes im ersten Monat
100
------------
111,0
------------
144,4
------------
132,2
*) Aenderung in der Arbeitsweise (Erschwerung der Arbeit und entsprechend 24,3 % höherer Akkord).
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 222
Natürlich k ö n n t e dabei auch ein v e r s c h i e d e n e s Mvon U e -
b u n g s zunahme in den verschiedenen einzelnen Arbeiten mitspielen. Aber die
Zahlen in Zeile 4 a-d mit ihrem gänzlich regellosen Wechsel der Leistungen in
je einer der Arbeiten zeigen, daß davon jedenfalls nichts für uns erkennbar sein
würde. Was dagegen gerade angesichts dieses lediglich durch jeweilige Be-
triebsbedürfnisse bedingten starken Arbeits w e c h s e l s in hohem Me in-
teressiert, ist die aus Spalte 6 ersichtliche Tatsache eines Uebungsfortschritts um
ein volles Drittel der Leistung des März 1907, welcher seinerseits bereits der
zweite Monat der Beschäftigung der Arbeiterin war. Zugleich lehrt uns der Ver-
gleich dieser klaren und eine stetige Entwicklung zeigenden Zahlen, welche sich
bei Zusammenfassung dieser großen, 6 Monate umfassenden Periode ergeben,
mit der Regellosigkeit der Zahlen, welche monatliche und selbst vierteljährliche
Perioden
1)
ergeben, wieder, was schon früher mehrfach hervortrat, daß erst die
Vergleichung großer Durchschnitte darüber entscheidet, ob man es bei Unter-
schieden der Leistung mit »Zufälligkeiten« oder mit Differenzen, die in Ue-
bungs- oder Anlage-Unterschieden begründet sind, zu tun hat. Dem starken Ue-
bungsfortschritt des Mädchens entspricht seine Eigenart: die Arbeiterin ist 42
Jahre alt und von so starkem Erwerbssinn, daß sie, als das Kostgeld, welches sie
ihrer Familie gab, um 10 Pfg. unterboten wurde, von dieser fortzog. –
Wir wenden uns nun den Verdienstkurven einiger Maschinenweber zu.
Die Entwicklung der Verdienstzahlen eines der in Tabelle I aufgeführten ein-
stühligen Webers (b) haben wir im wesentlichen schon oben bei Besprechung
der Schwankungen analysiert. An der mäßig dichten, aber ziemlich breiten Sor-
te, die er bis zum 20. Dezember bearbeitete, hat er im ganzen gut verdient und
im September (110 %) und November (108,5 %) Qualitätsprämien bezogen,
während die Weihnachtszeit sinkende Leistung und, infolge Kettenwechsel und
niedriger Anfangsleistung nach einwöchentlicher Unterbrechung, Zurückbleiben
hinter dem Normalverdienst brachte. Anfang Januar, nach Uebergang zu einer
1)
Die Folge der durch die Einflüsse der Depression entstandenen niedrigen Zahlen im Juli
und September 08 und der durch die Winterbedingungen herbeigeführten Niedrigkeit der
Zahlen im Januar und Februar bringen es mit sich, daß diese beiden Quartale gegen die vo-
rangehenden Rückschläge zeigen. Erst die Zusammenfassung von Halbjahren zeigt die Ste-
tigkeit des Steigens.
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 223
leichteren Sorte mit haltbarerem Material, schnellte sein Verdienst zu außeror-
dentlicher he empor (127 %) infolge quantitativ sehr bedeutender Leistung.
Doch bezog er trotzdem keine Pmien, scheint also infolge der schnellen Arbeit
qualitativ nicht genügt zu haben: er ist ein Mann in mittleren Jahren, sehr kräf-
tig, aber weder schnell noch besonders gewandt. Die Wochen l e i s t u n -
g e n
1)
an dieser neuen Sorte steigerten sich vom Dezember bis Mitte Januar
von 65,6 zu 87,6-96,4-113,5 %, dann erfolgte wohl infolge der damaligen
starken Kälte ein Rückschlag auf 98,3, sodann ein Wiederansteigen auf 108,6
und Anfang Februar 110,9 %, worauf Mitte Februar das Kettenende mit 88,6 %
folgt. Der Verdienst im Februar hält sich, weil die Leistungen am Kettenende
der alten und am Anfang der damals beginnenden neuen Sorte niedriger waren,
nur auf Normalhöhe (100,3 %). Diese neue, schwerere Sorte, hat der Arbeiter
dann in zwei Ketten bis in den Juni bearbeitet, mit folgenden aufeinander fol-
genden Wochenleistungen (stets: % des Durchschnittes seiner Leistung an dieser
Kette): 89,6-96,4-96,5-99,2 (Mitte März), worauf eine längere Krankheit des
Arbeiters folgte, und dann im April folgende Leistungen: 88,5-101,7-90,8-110,9
bis 105,3-111,7; dann (im Mai) nach Vornahme einer Aenderung am Stuhl:
92,8-111,1, 1-96,7 (Kettenende Anfang Juni). Monatlich erzielte der Arbeiter im
März 101,7, im April 104,3, im Mai vor der Aenderung am Stuhl 116,7 der Fe-
bruarleistung und sein Verdienst pro Tag hob sich infolgedessen von 100,3 %
im Februar auf 110 % im April (der März ist im Verdienst nicht vergleichbar, da
damals der Arbeiter anfangs unstet arbeitete, dann ngere Zeit gar keine Arbeit
tat). Die Leistung sinkt dann im Mai infolge der Stuhländerung und der entspre-
chenden Aenderung des Akkordes auf 90,6 der Februarleistung, und der Ver-
dienst auf 89,5 % des Normalverdienstes. Das Ansteigen vom Februar zum Mai
wird vielleicht z. T. Folge der sich mit der Jahreszeit bessernden allgemeinen
Arbeitsbedingungen sein. Daß aber auch der Uebungsfortschritt stark mitspielt,
scheinen die Zahlen nach der Stuhländerung (Steigung der Wochenleistung von
anfangs nur 92,8 auf 111,1 %) zu zeigen. Der Juni ergibt mit 102,3 % einen an-
gesichts des Sortenwechsels leidlichen Ver-
1)
Am Durchschnitt der Leistungen an d i e s e r Kette gemessen (s. früher), welcher in
diesem Fall, an den Leistungen des Arbeiters an a n d e r e n Ketten gemessen, eine
h o h e Leistung repräsentiert.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 224
dienst: auf die neue, besonders leichte und nur 12
1
/
2
% schmälere Sorte hat sich
der Arbeiter offenbar mit großem Eifer gestürzt und anfangs auch günstige Fort-
schritte erzielt. Dann aber erlahmte er sichtlich: die Wochenleistungen bewegen
sich von 87,5 % in den ersten Tagen zu 107,5-105,1-96,1-98,8-91,8 % (Mitte Ju-
li), dergestalt, daß der Arbeiter hier von einem jüngeren zweistühlig arbeitenden
Vetter überholt wurde, wie dies früher
1)
erwähnt worden ist. Außer starker Trok-
kenheit in der einen Juniwoche und der (übrigens relativ mäßigen) Julihitze
spielte dabei neben der, wie erwähnt, nicht sehr großen Gewandtheit des Arbei-
ters auch was zu den Bemerkungen im vorigen Aufsatz S. 145 hinzuzufügen
ist der Umstand eine Rolle, daß diese nur gelegentlich auf Bestellung herge-
stellte Sorte für den schweren großen Stuhl, den der Arbeiter bediente, schlecht
paßte. Der Juliverdienst stellte sich demgemäß, da überdies der Uebergang zu
einer neuen Sorte von gleicher Dichte wie die vom Februar bis Juni gearbeitete,
dabei aber von beträchtlich größerer Breite, erfolgte, etwas unter normal (99,1).
In dieser neuen Sorte hat dann aber der Arbeiter im August gut (114,6 % der
Norm) verdient und dabei auch zum erstenmal die von der Lohnkostenkalkulati-
on als »Soll« zugrunde gelegte Norm erreicht (s. die Zahlen S. 205) und dabei
auch qualitativ sich auf solcher Höhe gehalten, daß er zum erstenmal seit No-
vember wieder Pmien verdiente. Sieht man von den beiden leichten Sorten
(Januar/Februar und Juni/Juli) ab, so wird man sagen dürfen, daß der Arbeiter
sich vor zunehmend schwierige Arbeit gestellt sah, daher seiner langsamen
Natur entsprechend nur langsam sich in die jeweils neuen Aufgaben hinein-
fand, ihnen aber doch stetig zunehmend gerecht wurde. Es fällt ihm aber ganz
offensichtlich leichter, die rein m e c h a n i s c h e Mehrarbeit zu verrichten,
welche grobe Sorten (mit häufigerer Neufüllung des Schützen und großen, die
Körperkräfte und die Sicherheit des Auges in Anspruch nehmenden Breitever-
hältnissen) verlangen, als Erfolge bei der Bedienung feiner und dabei brüchiger
Sorten zu erzielen. Die Schwankungen in seinen Monatsverdiensten in Tabelle I
erklären sich nach dem Vorstehenden teils aus unsteter Arbeit (Weihnachten),
teils aus einer Unterbrechung durch Krankheit (März), teils aus besonderen
Schwierigkeiten mit einer für den Stuhl nicht ganz geeigneten Sorte (Juni), im
übrigen aber
1)
S. 170.
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 225
d u r c h w e g aus Ketten- und Sortenwechsel oder Aenderungen am Stuhl. –
Ein anderer der in Tabelle I aufgeführten Arbeiter (g), etwas jüngerer (33 Jah-
re alter) Vetter des vorigen, vollzog nach dreimonatlichen überdurchschnittlich
guten Leistungen auf zwei Stühlen des Modells II (ohne die Geschlechtszulage
im August und Oktober fast die volle Norm) im November den Uebergang zum
Modell I, auf dem er einstühlig arbeitete. Sein Einarbeiten in die neue Aufgabe
vollzog sich, wie die Tabelle zeigt, nur stoßweise. In den Monaten November
und Dezember ist die Leistung für einen an sich tüchtigen Weber, wie er es ist,
außerordentlich niedrig, 33 bzw. 23 % unter der Norm. Erst im Januar an einer
groben Sorte mit sehr haltbarem Material begann er stark zu steigen, leistete
mehr als das kalkulationsmäßige Soll und verdiente im nackten Akkord
beträchtlich (18 %) über den Durchschnitt. Indessen dieser starke Anlauf hielt in
den nächsten Monaten zunächst nicht ganz vor: den höheren Leistungsansprü-
chen, die an die folgenden schmäleren, aber dichteren und um 25 % in der
Garnnummer und außerdem in der Garnqualität feineren Sorten (des gleichen
Materials) gestellt wurden, vermochte er trotz herabgesetzter Tourenzahl nicht
zu genügen, was sich in seinen unternormalen Akkordverdiensten bis Juni in der
Tabelle ausdrückt. Erst mit dem Uebergang zu breiteren, mäßig dichten Sorten
aus sehr feinem Garn besserten sich seine Leistungen, die vom Juni bis August
noch ungleich waren, im Herbst beträchtlich und überschritten im Oktober und
November das Kalkulations-Soll dieser, aus weit brüchigerem Material herge-
stellten, Waren. Die für die q u a n t i t a t i v bestimmbaren Verhältnisse von
Sorten und Leistung seit Januar 1908 charakteristischen Zahlen sind die folgen-
den:
Sorte: 1 2 3 4 5
Dichte: 100
114
114
114
114
in %
Breite: 100
97,8
85,1
87,2
100
der ersten
Tourenzahl: 100
95,1
95,1
95,1
95,1
Sorte
Soll-Nutzeffekt
100
106
108
117
109
Akkordsatz 100
113
106
113
117
Erreichter Nutzeffekt
+
%: + 8,7
– 19,7
– 14,6
– 2,8
+ 6,4
gegenüber dem Soll
Die Akkordverdienste und Leistungen in den 5 Sorten pro Monat, die letzte-
ren in % der Durchschnittsleistung (und eingeklammert in % der Soll-Leistung),
verlaufen bis dahin wie folgt:
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 226
Januar Februar März April
Akkordverdienst %: 118 97,0 78,3 93,6
Leistung %: Sorte 1: 99
(107,6)
Sorte 1: 100,2
(109,9)
Sorte 2: 91,6
(76,2)
Sorte 2: 103,6
(86,5)
Sorte 3: 96,2
(84,1)
Mai
1)
Juni Juli August
Akkordverdienst %: 84,0 87,6 109,0 87,1
Leistung %: Sorte 3: 97,9
(85,3)
Sorte 3: 108,0
(94,2)
Sorte 4: 90,1
(88,9)
Sorte 4: 101,5
(98,3)
Sorte 4: 94,7
(91,7)
Im Monat September steigt die Leistung an Sorte 4 beträchtlich: es liegt die
Annahme nicht fern, daß dieser Arbeiter durch die größere Ruhezeit infolge der
Betriebseinschränkung (freier Samstag) besonders stark in der Leistungsfähig-
keit und -willigkeit gesteigert wurde. Denn die Leistung in der 5. Sorte, mit der
er im Oktober begann, steigerte sich im November nach Fortfall der Betriebsein-
schränkung nur auf 101,0 % der Oktoberleistung, wofür allerdings die stets un-
günstig einwirkende künstliche Beleuchtung mit verantwortlich sein mag, au-
ßerdem aber auch der Umstand, daß Garnfeinheit und Garnbleiche bei der 4. und
5. Sorte dieselben Verhältnisse aufweisen, mithin die 5. Sorte durch die 4. be-
reits vorgeübt war und wohl daher von Anfang an in der Leistung hoch einsetz-
te. Der im ganzen recht tüchtige Arbeiter zeigte bei den Sorten, die er bearbeite-
te, bezüglich seiner w o c h e n weisen »Einarbeitungs«fortschritte folgendes
Bild: Seine Leistungsziffern betragen in Wochendurchschnitten % der in der be-
treffenden Sorte geleisteten Durchschnitte:
Woche: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Sorte 1: 97,7 97,4 101,6 96,7 104,0 104,7
» 2: 91,6 91,9 88,3 99,5 104,9 107,8
» 3: 82,6 97,3 95,2 98,2 96,2 89,1 97,8 109,3 102,3 113,9
» 4: 85,4 98,4 100,3 98,3 102,8 107,9 94,7 92,4 92,4 99,5 104,8 104,2
» 5: 100,3 98,4 101,5 93,1 100,5 92,8 94,7
Man sieht, um wie viel undeutlicher die Erscheinungen des Uebungs-
fortschrittes (speziell bei Sorte 4 und 5) hier werden, als wenn man ganze Mona-
te zusammenfaßt; insbesondere sind sie auch undeutlicher als bei dem vorigen
Arbeiter (b). Die Schuld tragen bei den beiden letzten Sorten die schon erwähn-
ten Verhältnisse, außerdem hat in der 7.-9. Woche der 4. Sorte der Arbeiter aus
irgendeinem Grunde nur unstet gearbeitet; an dem Kollaps (auf 89,1) in der 6.
Woche der 3. Sorte k ö n n t e n
1)
Aenderung des Akkordsatzes infolge von Aenderungen am Stuhl.
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 227
ungünstige hygrometrische Verhältnisse (Sinken des Sättigungsgrades an einem
Tage bis auf 68 %) Einfluß gehabt haben. Im übrigen zeigen die D u r c h -
s c h n i t t e der (allein vergleichbaren) ersten 6 Wochen trotz der scheinbar
ganz willkürlichen Abweichungen im einzelnen doch einen immerhin leidlich
rhythmisch aufgetreppten Fortschritt von 91,5 % der Durchschnittsleistung an
der Kette in der ersten Woche zu 94,7-97,3-97,1 bis 103,7-100,4 % in den fol-
genden 5 Wochen oder von 93,1 % in den ersten beiden zusammen zu 97,2 % in
der dritten und vierten und 102,0 % in der fünften und sechsten.
Es mag hiermit an Beispielen aus dem Gebiet des für die Beobachtung der
einfachsten Komponenten der Leistung besonders günstigen einstühligen We-
bens genug sein, da das, worauf es ankommt, durch das Gesagte hinlänglich il-
lustriert ist: die ganz überragende Bedeutung, welche die jeweils bearbeitete
S o r t e und vor allem der Sorten w e c h s e l r die Bewegung der Lei-
stungs- und Verdienstziffern hat. Es darf hinzugefügt werden, daß von den star-
ken Schwankungen, welche die Akkordverdienstzahlen in Tabelle I zeigen, nach
Abzug eines Bruchteiles von etwa
1
/
2
, welcher durch rein persönliche (speziell:
Krankheit und ähnliche) Störungen oder durch Einflüsse der Jahreszeit oder
Witterung bedingt erscheinen, fast der ganze Rest auf Sortenwechsel zurückzu-
führen ist.
Darin drücken sich teils die mechanischen Bedingungen der Arbeit (Kettenan-
fang und Ende) aus, teils die Unterschiede der Eignung der Arbeiter r die ein-
zelnen Sorten (namentlich: größere oder geringere Schnelligkeit der Reaktion
und damit verbundene Unterschiede der geistigen »Beweglichkeit«, daneben
aber selbstverständlich eine große Zahl anderer individueller Differenzen der
qualitativen Arbeitsereignung), teils: die Notwendigkeit der »Einarbeitung« in
j e d e neue Arbeitsaufgabe und eine solche stellt ersichtlich jede neue Sorte
oder Kette, nur in verschiedenem Maße also: die Uebungsverhältnisse, teils
endlich und damit kommen wir auf ein in den früheren Ausführungen schon
einmal berührtes Moment die durch die Eigenart der Arbeitsbedingungen er-
zeugte (bewußte oder unbewußte) »Stimmungslage« der Arbeiter bei der Arbeit.
Der Einfluß dieses Umstandes sei noch an einigen Beispielen illustriert.
Daß die Qualität des Garnmaterials und die Sorgfalt der Vorbereitung der
Kette, insbesondere der Schlichtereiarbeit, auf die
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 228
Tabelle V.
Gesamt- und Stuhlverdienst
1906 1907 (Halbe
X XI XII I II III
15-30 1-15 15-30 1-15 15-30
1-15 15-30 1-15 15-30 1-15 15-30
1. Akkordsatz (Anfangs-
sorte auf Stuhl a =100
gesetzt, die Dezimalzah-
len abgerundet)
Stuhl a
100
100
100
| |
107*)
107
107
107
| |
100
100
100
107
107
107
Stuhl b
112
112
112
112
126
126
126
|
170
170
170
170
170
2. Akkordarbeitstage
Stuhl a
13
3
/
5
13
12
13
10
11
13
1
/
7
9
1
/
4
11
11
10
Stuhl b 13
1
/
2
11
3
/
5
12 10 10 12 6
1
/
4
9
1
/
4
11 13 10
3. Gesamttagesverdienst im Akkord
80,3
95,0
96,6
88,6
94,3
94,1
103,3
107,1
117,6
98,6
125,6
in % des Sollnormale. ---
95,6
---
91,3
---
98,6
---
112,3
---
112,0
4. Stuhlverdienst (in
Klammern: einschl. Ex-
trazuschlag), Anfangs-
verdienst = 100 gesetzt,
die Dezimalen abgerun-
det
auf
Stuhl a:
100
125
103
107
104
98
123
110
123
125
149
auf
Stuhl b:
100
119
154
138
149
163
125
180
180
155
194
*) Die fetten Zahlen bedeuten: Kettenwechsel. Wo zugleich ein Sortenwechsel vorliegt, ergibt sich dies aus der
Aenderung in der Höhe der dem Akkord entsprechenden Prozentziffer.
Stimmungslage der Arbeiter von erheblichem Einfluß ist, bildet eine in der gan-
zen Weberei bekannte Erscheinung und zeigt sich sehr deutlich auch in den
Antworten der Textilarbeiter auf die Frage des L e v e n s t e i n schen Frage-
bogens nach der »Arbeitsfreude«. Zwar wird der Ausfall an Akkordverdienst bei
schlechten oder schlecht geschlichteten Ketten wohl überall durch Spezialzula-
gen auszugleichen gesucht. Immer aber bleibt dabei für die subjektive Emp-
findung des Arbeiters die unvermeidlich arbiträre Bewilligung solcher Zula-
gen an sich, die Unsicherheit, ob sie ihm den bei tadellosem Material und gleich
starker Anspannung möglichen Verdienst ersetzen werde (was, weil es sich
nicht strikt beweisen läßt, begreiflicherweise subjektiv von ihm
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 229
eines zweistühligen Webers.
Monate.) 1907 1998
IV V VI VII Ganze Monate
1-15 1
5
-
3
0
1
-
1
5
1
5
-
3
0
1-15 15-30 1-15 15-30
VIII IX X XI XII I
107
|
100
1
0
0
1
0
0
1
1
0
110
110
128
128
128
128
128
128
|
100
100
97
170
1
7
0
1
5
3
§
|
|
1
3
5
1
3
5
135
135
135
135
135
135
135
135
135
135
|
130
10
1
/
2
1
2
3
/
4
1
2
1
2
1
/
2
13
12
1
/
2
11
3
/
5
13
25
1
/
4
23
3
/
4
27
20
3
/
5
18
1
/
5
21
1
/
5
12 1
2
3
/
4
7
1
/
2
1
2
1
/
2
13 12
1
/
2
12 10
1
/
3
27 24 24
2
/
3
24
3
/
5
19
4
/
5
20
2
/
5
107,0
1
3
2
,
0
7
7
,
6
1
0
5
,
3
85,3
89,3
87,0
89,6
97,0
94,6
93,6
90,3
101,3
86,6
---
119,1
---
91,
3
---
87,3
---
88,3
131
1
5
3
8
5
1
1
7
110
115
106
120
118
104
115
(138)
117
(123)
126
115
164
2
0
4
1
2
4
1
5
9
115
(135)
121
(138)
124
(143)
116
(147)
142
148
(163)
138
114
148
118
§) Aenderung am Stuhl, welche Herabsetzung des Akkordes nach sich zog.
fast stets bezweifelt wird) und die Tatsache der fortwährenden Störung und ge-
steigerten qualitativen Unannehmlichkeit der Arbeit bestehen und muß auf die
innere Attitüde zur Arbeit zurückwirken. Wie nachhaltig eine solche Rückwir-
kung sein kann, auch nachdem ihre Ursache ngst beseitigt ist, zeigt z. B. das
Verhalten eines 30jährigen, seiner Begabung und Geübtheit nach sehr tüchtigen
zweistühligen Webers, wie es die nachfolgenden Zahlen widerspiegeln (Tabelle
V).
Die Zahlen ergeben bis zur zweiten lfte Mai einen ganz augenscheinlich
sehr bedeutenden Anstieg der Leistungsfähigkeit. Zwar zeigt die große Mehr-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 230
zahl von Perioden, in welche ein Sortenwechsel fällt, ein Sinken derselben,
meist auf demjenigen Stuhl, auf
14. Analyse einzelner Arbeitsleistungen und ihre Entwicklung. 231
welchem der Wechsel stattfand, zuweilen wenn der Arbeiter auf diesem Stuhl
besondere Anstrengungen machte auf dem andern. Und ebenso schwanken
auch unabhängig vom Sortenwechsel die Leistungen erheblich: eine Folge der
Berechnung der Akkordleistung nach dem abgelieferten Quantum, welche na-
mentlich bei der Rechnung nach Halbmonatsperioden starke nur scheinbare
Schwankungen der Leistung ergeben muß. Aber: das Steigen der Gesamtlei-
stung ist ganz offensichtlich und um so zweifelloser ein Ausdruck für eine ent-
sprechend gesteigerte g e n e r e l l e Qualifikation als Weber, als die Kombi-
nation der Akkordsätze deutlich die Ansprüche, die an den Arbeiter gestellt
wurden, zeigt. Der gliche Akkordverdienst ist im Durchschnitt des Monats
April 1907 um nahezu 50 % gegenüber dem Anfangsverdienst im Oktober 1906
gestiegen. Alsdann aber erfolgt ein her Absturz im Mai, nachdem 1. an dem
einen der Stühle (b) eine ihrem Zweck nach die Arbeit erleichternde, daher mit
Akkordherabsetzung verbundene Aenderung vorgenommen worden und 2. auf
dem gleichen Stuhl eine neue Sorte in Arbeit gekommen war, deren Kette uner-
wartet schlechtes Material aufwies. Wie die Tabelle zeigt, erfolgte der Absturz
um 30-44 % auf b e i d e n Stühlen. Von diesem Absturz hat sich nun die
Leistung des Arbeiters nicht wieder erholt, obwohl vom Juni an, wie die Tabelle
zeigt, durch Zuschläge zu den Akkorden, außerdem durch eine sonst nicht übli-
che spezielle Erhöhung der Einstühligkeitszulage, seinen Verdienstchancen
nachgeholfen wurde, und obwohl er in der zweiten Hälfte Juli und im August
mit tadellosen Ketten arbeitete und im September und Oktober eine mangelhafte
Kette, wie die Tabelle zeigt, durch eine außergewöhnlich hohe Spezialakkordzu-
lage vergütet wurde. Als vielmehr die Gewerkschaftsbewegung seit Juli 1907
lebendig wurde, begann er zu bremsen. Der weitere Verlauf ist (S. 158) schon
erwähnt, hier liegt für uns das Gewicht darauf, daß den ersten Anstoß zu jener
oppositionellen Attitüde, welche sich späterhin in absichtlicher Obstruktion äu-
ßerte, ganz augenscheinlich die vielleicht zunächst nur halb bewußte Verstim-
mung durch das Verhalten des Materials einer »schlechteKette bildete, wel-
che ihrerseits sinkende Leistung, sinkenden Verdienst und damit weitere Anläs-
se zur Verstimmung schuf.
Wenn bei diesem Arbeiter die zuerst durch schlechtes Garnmaterial hervorge-
rufene ungünstige Stimmungslage sehr schnell
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 232
in bewußte Opposition umschlug, so ist das nicht die Regel. Aber allerdings: die
Wirkung jenes psychischen Habitus, welcher durch ein Verhalten des Materials
oder der Maschinen erzeugt wird, das der Arbeiter, nach seiner Gehnung als
ungewöhnlich und unerwartet hinderlich und lästig und daher gewissermaßen
als eine spezifische »Tücke« desselben empfindet, erstreckt sich, zumal bei tem-
peramentvollen Arbeitern, wohl immer erheblich über die objektive (das heißt
hier: rein technische) Arbeitserschwerung hinaus. Man pflegt daher besonders
»geduldige« Arbeiter mit der Bearbeitung solchen Materials zu betrauen. Wie
stark aber der Abstand von der Normalleistung auch bei Arbeitern, welche gut
veranlagt und gut geübt sind, bei fortgesetzter Zuteilung schwierigen Materials
(trotz entsprechender Vergütung des Minderverdienstes) ist, und wie stark dem-
gemäß ihre »Geduld« auf die Probe gestellt wird, zeigen u. a. folgende Zahlen,
die einen, seiner großen Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit wegen anhal-
tend in jener Art beschäftigten Arbeiter betreffen (Tabelle VI).
Die obersten Reihen ergeben zunächst, daß dieser Arbeiter auf seinen beiden
Stühlen
1)
in 17 Monaten 15 Kettenwechsel, darunter 9 Sortenwechsel, erlebte,
und dabei insofern die Akkorddifferenz ein annäherungsweiser Ausdruck der
Schwierigkeitsdifferenzen ist Schwankungen der Schwierigkeit der Arbeit um
mehr als das 2
1
/
2
fache. Unter den 16 Ketten der Arbeitszeit waren zum minde-
sten 3 ganz schlechte (teils des Materials, teils mangelhaften Schlichtens wegen)
und noch mehrere andere waren, wie die Zahl der notierten Fehler trotz der no-
torischen Sorgfalt des Arbeiters zeigt, übernormal schwierig. Ueberdies hatte
der Arbeiter eine ungewöhnlich feine Sorte (Stuhl b Dezember 1907) herzustel-
len, welche ganz abnorme Ansprüche stellte. Die Konsequenz alles dessen ist,
daß der anfänglich kräftig in seinen Leistungen ansteigende Arbeiter, trotz sei-
ner besondern Tüchtigkeit, e i n s c h l i e ß l i c h der gewährten Ge-
schlechtszulage (20 %) nur in 3 von den 17 Monaten das Normalsoll des Ak-
kordverdienstes
1)
Die Ueberweisung eines temporär verwaisten dritten Stuhles in der Periode der höch-
sten Konjunktur Juli 1907 darf hier als eine bloße Episode vernachlässigt werden: der Ar-
beiter verdiente zwar, wie man sieht, in diesem Monat nicht unbeträchtlich mehr als in den
andern, und ebenso stieg die nackte Meterleistung pro Tag, aber der Grad der Maschinenaus-
nutzung und die Qualität des Produktes gingen so stark herunter bei überdies bestehender
Gefahr der Ueberanstrengung des Arbeiters, wie sie wohl auch in dem Kollaps des folgenden
Monats hervortritt – daß dies der einzige Fall im Betriebe geblieben ist.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 233
überschreitet, meist aber bedeutend, und auch im Gesamtdurchschnitt (72,0 %)
um 8 % unter dem Niveau zurückbleibt, welches für dieses Stuhlmodell zugrun-
de gelegt ist (80 %) und in der Geschlechtszulage Ausdruck findet. Er bewegt
sich im Durchschnitt der Quartale von 78,3 % zu 77,3-73,3-71,0-80,0 bis 63,0 %
also absteigend, abgesehen von dem Anstieg im vorletzten Quartal, der durch
eine dem Material nach besonders günstige (d. h. besonders wenig zu Fadenbrü-
chen geneigte) Kettenqualität (der einzigen dieser Art in den ganzen Monatsse-
rien) bedingt war. Das Sinken der Akkordverdienste in den letzten Monaten ist
aus Sorten und Material nicht erklärbar, wäre auch durch die infolge Be-
triebseinschränkung längere wöchentliche Arbeitsunterbrechung höchstens im
letzten Monat, der aber gerade wieder ein mäßiges Steigen zeigt, hypothe-
tisch zu deuten. Es scheint, daß die große Zahl der Kettenwechsel und schlech-
ten Ketten überhaupt, die der Arbeiter zu erleiden hatte, auf sein gewohntes
»Arbeitstempo«, vielleicht auch (unbewußt) auf seine Arbeitsstimmung ge-
drückt hat; ob es der Fall war, dürfte sich der Feststellung entziehen. Jedenfalls
zeigt auch dieser Fall ebenfalls den entscheidenden Einfldes Materials und
speziell der Sorten- und Kettenwechsel auf die Schwankungen der Leistungen.
Regelmäßig findet wie das erste der zuletzt erwähnten Beispiele zeigte trotz
der Notwendigkeit, in jede neue Sorte, Kette und sonstige Arbeitsbedingung sich
»einzuarbeiten«, doch ein »genereller« Uebungsfortschritt statt. Aber es
scheint möglich, daß durch ein Uebermaß von Hemmung durch allzu ungünstige
Bedingungen dieser Uebungsfortschritt reduziert wird, wie dies im zweiten Fall
(vielleicht!) geschah.
15.
Wir brechen hier ab und setzen diese, im Rahmen eines als Literaturreferat
gedachten Aufsatzes ohnehin schon übermäßig langen Darlegungen nicht fort.
Freilich, als eine S a c h darstellung oder gar als eine Monographie angesehen,
wären dieselben über die Men dürftig. Die Aufgaben einer solchen würden
ungefähr da anfangen, wo wir aufhören. Nicht als ob die Bearbeitung an diesem
Punkte besondere sachliche Schwierigkeit zu zeigen drohte: es ist eher das Ge-
genteil der Fall, und vor allem würde der eigentliche Reiz einer wirklichen
Sachdarstellung erst da beginnen, wo sie von der bloßen Durchrechnung von oft
viel-
15. Resumé. 234
Tabelle VI.
1907 1908
V VI VII VIII IX X XI XII I II III IV V VI VII VIII IX Durch-
schnitt
1-15 16-31 1-15 16-31 1-15 16-31
1. Akkordsatz,
Anfangssatz auf
Stuhl
Stuhl a
100
109*)
109
109
109
109
88
88
88
88
88
| 84 |
88
88
88
88
88
83
83
83
83
91
91
91
77
77
a = 100 gesetzt,
die Dezimalen ab
» b
88
95*)
0
)
95 95 95 95
95
95
95
95
95
200
200
104
104
108
108 108
108
116
108
116
116 116
gerundet.
» c
66 66
2. Akkordsarbeits-
tage.
Stuhl a
8 12
1
/
2
10 10
3
/
4
9
1
/
2
10
3
/
5
27 23 25 20
1
/
2
21 24
3
/
4
22
1
/
2
23
1
/
2
20
1
/
2
24
1
/
5
22
1
/
5
26
1
/
2
20
3
/
4
22
1
/
2
» b
3
/
8
8 10
2
/
2
10 12 9
1
/
2
13 24
1
/
3
23 23
2
/
3
21
1
/
3
18 23 21
1
/
4
25 19
1
/
4
25 23
1
/
2
24
1
/
10
23
3
/
4
22
1
/
2
» c
9
1
/
2
13 -
3. Durchschnittlicher
täglicher Gesamt-
akkordverdienst
(% des Soll-Normale)
63,3
64,0
76,6
86,6
96,3
91,0
63,3
79,0
93,3
67,6
66,3
58,3
63,6
69,3
84,6
78,3
80,0
78,3
49,3
61,6
72,0
4. M e t e r -
l e i s t u n g
pro Arbeitstag.
Die
Stuhl a
100
109
103
159
109
134
120
139
143
132
98
136
106
154
151
140
133
109
56
80
Anfangsleistung
= 100 gesetzt, die
» b
100 81 144 110 118 120 97 134 145 112 92 31 104 83 132 124 132 137 98 103
Dezimalen ab-
gerundet.
» c
100§) 71§)
*) Akkorderhöhung um (rund) 9 %. Bei den Zahlen sub Nr. 3 für den 1.-15. V (erste Spalte) ist, der Vergangenheit wegen, der ab 16.V. gültige Akkordsatz zugrunde gelegt.
0
)
Fette Zahlen = Kettenwechsel. Ob auch Sortenwechsel, ergibt der Vergleich der Akkorde (außer in der zweiten Spalte, vgl. vorige Anmerkung). §) Natürlich nur unter sich ver-
gleichbar.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 236
deutigen, immer abstrakten, Buchziffern im Kontor in die Realität der Werkstatt
träte und dort dem lebendigen Menschen und der ruhelosen Maschine ins Antlitz
blickte. Allein eine wirkliche Sachdarstellung, welche vor allem die T e c h -
n i k des Webstuhles und seiner einzelnen Modelle, die Art der Anforderun-
gen, die jedes von diesen und die jede Materialqualität stellt, die einzelnen Han-
tierungen, Grade und Art der Aufmerksamkeitsspannung usw. analysiert, sodann
zu den Personalien der Arbeiter übergehend jeden von ihnen nach Alter, Her-
kunft, beruflichen und anderen Antezedenzien, Familienstand und Eigenart un-
tersucht und Beziehungen zwischen diesen Umsnden und seiner Stellung und
Leistung im Betrieb aufgespürt hätte, eine solche Darstellung sollte und konn-
te hier schon aus Gründen nicht beabsichtigt werden, die in der Natur des Ob-
jekts lagen. Der Betrieb, dessen Verhältnisse hier exemplifikatorisch hereinge-
zogen wurden, hat zunächst eine sehr streng l o k a l e Arbeiterrekrutierung;
er stand ferner, wie an mehreren Stellen hervortrat übrigens gleich anderen
Betrieben seiner Art in den letzten Jahren in einem Stadium starker Umgestal-
tung der von ihm hergestellten Warenkategorien und der von ihm gebrauchten
Maschinenmodelle. Und endlich gehörte er einer Branche der Weberei an, die
an sich für die Zwecke von Untersuchungen, wie sie hier angeregt werden soll-
ten, keineswegs geeignet ist. Zwar ist das Maß, in welchem Quantität und Quali-
tät des Produkts von den Qualitäten der Arbeiterschaft abhängt, verglichen z. B.
mit der Spinnerei, ein ziemlich erhebliches, trotzdem die Lohn k o s t e n die
in der Werteinheit des Produkts stecken, natürlich in der Spinnerei relativ höhere
sind, zum mindesten wenn man die mittleren Massenartikel beider Branchen in
Betracht zieht. Aber im Wesen großer Branchen der Weberei, zumal der hier in
Frage stehenden, liegt, namentlich in Deutschland, eine sehr starke Vielseitigkeit
der Produktion mit ihrer Konsequenz eines (relativ) sehr starken Sortenwech-
sels. Grad und Art der Einwirkung dieses letzteren Umstandes festzustellen, war
eine der Hauptzwecke dieser Zeilen. Nun ist zwar an sich ein gewisses Maß von
Sortenwechsel keineswegs ein Hinterungsgrund für den Versuch, das Mder
Leistungsfähigkeit von Arbeitern untereinander abzuschätzen. Man muß nur un-
gefähr wissen, wie stark der Sortenwechsel die Leistung drückt und dann beach-
ten, welche Unterschiede in bezug auf den Grad des
15. Resumé. 237
Wechsels zwischen den verglichenen Arbeitern bestehen. Allein auch die Art
der Gewebe, welche herzustellen waren, stellten bei den Arbeitern des hier he-
rangezogenen Betriebes noch, dem Uebergangscharakter entsprechend, eine sol-
che Mannigfaltigkeit der heterogensten Kombinationen dar, daß man zwar wie
einige Beispiele zeigten recht wohl die Gründe der Schwankungen innerhalb
der Leistung jedes Arbeiters von Sorte zu Sorte plausibel machen kann, daß man
aber ernstliche Bedenken tragen wird, die Leistungen der verschiedenen Arbei-
ter untereinander nach einem für jeden einzelnen zu errechnenden Durchschnitt
zu vergleichen und darnach ihre generelle Leistungs f ä h i g k e i t , auf die es
bei dem Vergleich nach Herkunft usw. schlilich ankommt, ziffernmäßig fest-
stellen zu wollen. Dies auch deshalb, weil schon die ganz wenigen Beispiele, die
im Verlauf der Erörterungen herangezogen wurden, zeigen konnten, daß die
Eignung der einzelnen Arbeiter je nach der Sorte, um die es sich handelte, sehr
merklich schwankt und eventuell verschiedene Skalen ergeben würde
1)
.
Nun zeigten die Zahlen der Tabelle I allerdings, daß trotz alledem ziemlich
weitgehende Parallelismen der g e n e r e l l e n Leistungsfähigkeit mit dem
Grade der g e n e r e l l e n Geübtheit sich finden, daß auch die Abweichun-
gen sich rationell erklären lien. Und die Skala der Durchschnitte der Akkord-
verdienste entspricht im ganzen, für hinlänglich große Perioden, recht gut der
Skala der Einschätzung der Arbeiter nach ihren Qualitäten durch die Betriebslei-
tung. Trotz der immer von neuem illustrierten Notwendigkeit der »Einarbei-
tung« in j e d e neue Sorte und Kette und der dadurch bedingten Schwankun-
gen der Akkordverdienstziffer behält es also allem Anschein nach selbst unter so
ungünstigen Bedingungen seinen Sinn, mit den Begriffen einer »generellen«
Geübtheit und Leistungsfähigkeit zu arbeiten. Gleichwohl wird man annehmen
dürfen, daß bei einer weniger vielseitigen und wechselnden Produktion mit ei-
nem ganz anderen Grad von Sicherheit mit diesen Voraussetzungen
1)
Ein Umstand, der allerdings seinerseits, bei hinreichend großem Material und sonst
günstigen Verhältnissen, gerade recht interessante Aufschlüsse über die Art der Inanspruch-
nahme der Arbeiterschaft je nach der Produktionsrichtung geben, und dann, bei Kombination
dieser Ergebnisse mit der sozialen und örtlichen Provenienz der Arbeitskräfte, sich für die uns
interessierenden Fragen sehr fruchtbar erweisen könnte. Aber eben nur da, wo die sonstigen
Bedingungen, insbesondere: i n t e r lokale Rekrutierung, vorlägen.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 238
und also mit Durchschnittszahlen würde gerechnet werden dürfen, als hier, wo
die Zufalls- und Fehlermöglichkeiten sich einer Abschätzung zu sehr entziehen.
An Zweigen der Textilindustrie, welche diesen Bedingungen wesentlich besser
entsprechen, also eine in bezug auf die Unterschiede der Arbeitsbedingungen
wesentlich weniger differenzierte Produktion haben, fehlt es durchaus nicht: fast
die gesamte Spinnerei gehört dahin, und für die Weberei nennt man mir nament-
lich die Nesselweberei (deren Eigenart mir persönlich nicht vertraut ist
1)
).
An dieser Stelle soll lediglich noch die Frage gestellt werden: ob und w e l -
c h e positiven s a c h l i c h e n Ergebnisse denn die vorstehenden, auf so
besonders ungünstigem Terrain und lediglich illustrativ vorgenommenen Unter-
suchungen, sozusagen als Nebenprodukt, überhaupt gezeitigt haben? D diese
Ergebnisse dürftige und dem Eindruck des Lesers nach vielleicht mit der aufge-
wendeten Rechenarbeit nicht im Verhältnis stehende sind, braucht kaum beson-
ders hervorgehoben zu werden: es folgt ja schon daraus, daß sie alle der Nach-
prüfung an weit größerem Material bedürfen und vielleicht alle durch eine sol-
che umgestoßen oder doch wesentlich modifiziert werden. Immerhin sind sie
doch nicht einfach gleich Null. Zunächst zeigten die Untersuchungen bei den
verschiedensten Gelegenheiten und dies ist methodisch nicht gleichgültig daß
die äußerst irrational sich gebärdenden Zahlenreihen, welche wir betrachteten,
1)
Im übrigen ist selbstverständlich dringend zu nschen, daß innerhalb der Textilindu-
strie insbesondere so große Produktionszweige wie die Baumwoll- und Tuchweberei, ferner
speziell etwa die ganz spezifische Bedingungen stellende Plüsch- und auch die Teppichwebe-
rei in möglichst eingehender Weise auf die Provenienz ihrer Arbeitskräfte und deren etwaige
Beziehungen zu den technischen Bedingungen der Arbeit hin untersucht werden, gleichviel
ob nun gerade Rechnungen der vorstehend versuchten Art bei ihnen Ergebnisse zu zeitigen
versprechen, oder ob man mit wesentlich gröberen Methoden das (vorläufig) Wissenswerte
und - m ö g l i c h e feststellen kann. Ganz im Groben wird man in vielen Fällen zunächst
einmal durch detaillierte t e c h n i s c h e Analysen einerseits der jüngsten Entwicklungs-
stadien der maschinellen Ausrüstung (nur von einem M a s c h i n e n techniker unter steter
Kontrolle der Resultate durch P r a k t i k e r des betr. Produktionszweiges zu beschaffen)
mit ihren Konsequenzen für Maß und Art des Arbeitsbedarfes, andererseits der Zusammen-
setzung der korrespondierenden Arbeiterschaft nach Alter und Provenienz (in vielen llen
nur durch die Gewerkschaften am r e l a t i v besten zu beschaffen, deren Material freilich
stets ergänzungsbedürftig bleibt, da sie nie die Gesamtheit, sondern stets nur Schichten von
Arbeitern der mit jenen Maschinen ausgerüsteten Betriebe umfassen), weiterkommen und
wenigstens die erste Grundlage zu solchen Untersuchungen schaffen nnen, wie sie in den
ersten Artikeln als letztes Ziel hingestellt wurden.
15. Resumé. 239
bei Zusammenfassung von hinlänglich lang gewählten Zeiträumen und hinläng-
lich großen Zahlen doch für verschiedene Fragestellungen D u r c h -
s c h n i t t e ergaben, welche weit weniger irrational sind, als die Zahlenreihen
selbst, und zwar um so weniger, je mehr Material zur Bildung des Durchschnit-
tes herangezogen werden konnte. D dem so ist, und daß also durch r i c h -
t i g g e w ä h l t e Durchschnittsrechnungen mit steigendem Material stei-
gende Stetigkeit der Zahlen erwartet werden darf, war a priori bei der Natur des
Materials keineswegs so selbstverständlich, wie es, einmal festgestellt, erscheint.
Und es mauf der andern Seite wiederholt werden, daß wie schon einleitend
(Seite 133) hervorgehoben wurde und wie die gewählten Beispiele bestätigen
die Durchschnittsrechnung erst zulässig und fruchtbar wird, wenn die Art,
w i e die einzelnen zusammenfassenden Zahlen zustandekamen, eingehend ge-
prüft ist. Durchschnittsrechnungen ohne diese Vorprüfung und ohne genaue In-
terpretation, würden vollkommen steril bleiben, wie man sich durch beliebige
Proben schon an den vorgeführten Ausschnitten des Materials leicht überzeugen
kann
1)
. Generelle Regeln für die gegenseitige Kontrolle der Bedeutung der Ein-
zelreihen am Durchschnitt und umgekehrt lassen sich nicht wohl geben, es
mußte hier illustrativ verfahren werden.
Und auch sachlich sind eine wenngleich bescheidene Anzahl von Er-
kenntnissen, oder sagen wir lieber: von Erkenntnis m ö g l i c h k e i t e n , zu
verzeichnen.
Es ist zunächst immerhin nicht nutzlos, zu wissen, daß und in welchem Grade
ein Wechsel der technischen, durch Werkzeugmaschinen, Material und herzu-
stellendes Produkt gegebenen Bedingungen der Arbeit, auch ein Wechsel in
scheinbar ganz untergeordneten Punkten, ja selbst ein solcher Wechsel dieser
1)
Beispielsweise ergaben die Auseinandersetzungen über die Gründe der Schwankungen
der Zahlenreihen in Tabelle I, daß erst eine s e h r starke Vergrößerung des Zahlenmateri-
als es ermöglichen würde, in vertikaler Richtung »Durchschnitte« von irgendwelchem Wert
zu ziehen, während in horizontaler schon die Zusammenfassung von je 4 Kolumnen eine
brauchbare Zahl liefert. Ebenso zeigen die Betrachtungen über die Komposition der, Lei-
stungsschwankungen bei zweistühligen Webern, daß eine relativ hohe »Gleichmäßigkeit« der
G e s a m t leistung eines mehrstühligen Webers hier keineswegs ein eindeutiges Zeichen
von stetigerer Arbeit und höherer Leistungsfähigkeit ist: sie k a n n dies sein, kann aber
auch das gerade Gegenteil besagen. Und die Untersuchung der Tragweite des Arbeitswech-
sels zeigt, daß bei jeder Vergleichung von Durchschnittsleistungen längerer Zeiträume die
Häufigkeit des Kettenwechsels als sehr wichtige Komponente in Rechnung zu stellen ist.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 240
Bedingungen, der seiner Art nach eine E r l e i c h t e r u n g der Arbeit mit
sich bringen soll (und eine solche auf die D a u e r auch tatsächlich in erhöhter
Leistung erkennen läßt), eine neue »Uebungs«-Aufgabe darstellt. Es wurde we-
nigstens wahrscheinlich gemacht, daß tatsächlich bei dem Kollaps im Fall des
Ketten- und Sortenwechsels zu einem gewissen Teil, und bei arbeitserleichtern-
den Aenderungen am Stuhl überwiegend, »Uebungs«einflüsse in dem im ersten
Artikel zugrunde gelegten Sinne im Spiel sind. Das Anschwellen der Leistungen
auch über die durch das Verhalten der neu auf den Stuhl gekommenen Ketten,
beeinflußte Arbeitsperiode hinaus, vollends aber da, wo entweder ein neuer Ar-
beiter an eine schon in vorgeschrittenem Stadium der Verarbeitung befindliche
Kette kam und wo also jener Einfluß der technischen Arbeitsbedingungen am
Kettenanfang gar nicht mitspielen konnte, gehört mit bedeutender Wahrschein-
lichkeit hierher. Daß ferner auch die Schwankungsamplitüde der Unterschiede
zwischen den Tagesleistungen im Verlauf der Bearbeitung einer Kette im
Durchschnitt abnimmt, würde ein weiterer Beweis für das Hineinspielen von
Uebungseinflüssen sein, nur müßte natürlich auch diese Erscheinung, um als
bewiesene Tatsache gelten zu können, mit ungleich mehr Erfahrungen belegt
werden. Vorerst darf sie nur als eine durch die vorgeführten Zahlen in beach-
tenswerter Weise gestützte »Möglichkeit« in Rechnung gestellt werden
1)
. Jeden-
falls aber haben diese Rechnungen es wahrscheinlich gemacht, daß trotz aller
Verdeckung durch die,
1)
Schon wegen des allzu hypothetischen Charakters dieser Zahlen habe ich es auch unter-
lassen, den naheliegenden Versuch zu machen, die Entwicklung der Schwankungsamplitüde
bei den beobachteten Arbeitern im g a n z e n durch die Zeit vorzuführen. Die Rechnung
ist gemacht und zeigte für den Spätherbst 1908 eine merkliche Abnahme des Schwankungs-
durchschnittes gegenüber dem Frühjahr (die Spätherbst- und ersten Wintermonate 1907/08
verhalten sich sehr verschieden und sind wegen der schwankenden Z a h l von Beobach-
tungen nicht in Vergleich zu ziehen); also: Zunahme der Stetigkeit, trotzdem, alles gegenein-
ander aufgerechnet, die an die Arbeiter gestellten A n s p r ü c h e wohl unzweifelhaft
g e s t i e g e n sein dürften. Doch sind die Arbeitsbedingungen der in Betracht zu ziehen-
den Arbeiter zu heterogen, um mit solchen Zahlen arbeiten zu nnen. Und dann wäre es,
auch wenn die Tatsache feststünde, doch noch gewagt, eine etwa sich ergebende Zunahme der
Stetigkeit in diesem Fall als Folge der U e b u n g zu deuten. Denn es erscheint sehr mög-
lich, daß die erregenden Einflüsse des F r ü h l i n g s auf den psychischen und physischen
Habitus der Arbeiter diese größere Schwankungsamplitüde gegenüber dem Spätherbst falls
sie als sicher vorhanden anzusehen sein sollte mindestens mit bedingt hätten. Ob und in
welchem Grade dies der Fall ist, nnten gleichfalls nur weit umfassendere Untersuchungen
für längere Perioden lehren.
15. Resumé. 241
innerhalb des auf die Leistungsschwankungen einwirkenden Ursachenkomple-
xes im Vordergrunde stehenden, jeweiligen rein technischen Bedingungen der
Arbeit, es doch, selbst unter so erschwerenden Umständen, n i c h t einfach
aussichtslos ist, auch zu den aus dem Laboratorium bekannten psychophysi-
schen Bedingungen der Leistung vorzudringen. Freilich: die Kluft zwischen dem
Laboratoriumsversuch und diesen unsicher tastenden und groben Rechnungen
ist vorerst noch unabsehbar gr. Was mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
allenfalls behauptet werden darf, ist vorläufig ja nur: Nebeneinanderstehen
»spezieller« Uebungszunahme (für die konkrete Arbeitsaufgabe) in (s. oben S.
72 f.) anfangs schnellem, dann abnehmendem Tempo und »genereller« Ue-
bungszunahme (für die gesamte Kategorie der Arbeitsaufgaben, oben S. 234),
beides erkennbar in der Steigerung der Leistungs q u a n t i t ä t (und -
qualität); Zunahme der Leistungsstetigkeit mit zunehmender Uebung, sowohl
spezieller (Seite 76) wie genereller; stoßweises Fortschreiten der Leistungshöhe
durch abwechselnde Perioden optimaler Anspannung und Erschlaffung als eine,
nicht immer, aber recht häufig eintretende Erscheinung (oben passim), während
bei absichtlich »gemächlicher« Arbeit die Stetigkeit zunimmt; ziemlich deutlich
wahrnehmbare Beeinflussung der Leistung durch »Stimmungslage(oben S.
236 und S. 153 f.); ferner (halb oder ganz) unbewußte neben offenbar bewußter
Anpassung an die ökonomischen Chancen (Seite 90); Einwirkung der »Tages-
dispositione, speziell an den Montagen und Sonnabenden auf die Wochenkur-
ven, je nach Alkoholgewohnheiten, Alter und Familienstand und sonstigen all-
gemeinen Bedingungen der Lebensführung verschieden (S. 146); der Gang der
Wochenkurve selbst (Optimum am Mittwoch, Rückschlag von Mittwoch zu
Donnerstag) bedarf natürlich noch der Nachprüfung, ebenso wie gewisse pro-
blematische und an diesem Material selbstredend unerweisliche, aber immerhin,
bis zu einem gewissen Grad, plausible und durch Analogie zu stützende Zu-
sammenhänge mit der durch Erziehung gegebenen Art der Lebensführung (oben
S. 160) und »Weltanschauung«
1)
. Es zeigt sich ferner
1)
Ich brauche kaum nochmals zu wiederholen, daß alles, was oben (S. 161) über die
wahrscheinliche Wirkung pietistischer Erziehung auf die Arbeitsleistung gesagt ist, in einer
V e r e i n z e l u n g betrachtet, durchaus hypothetisch bleibt. Aber wie bei anderer Ge-
legenheit auszuführen sein wird die Erscheinung findet auch heute doch noch wesentlich
zahlreichere Parallelen, als
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 242
als
jedenfalls » i m P r i n z i p « möglich, die anscheinend regellosen Unter-
schiede der Leistung von einem Monat zum andern und von einem Tag zum an-
dern, wenigstens in ihren wichtigsten Ursachen: einem Gemisch von teils tech-
nisch: von Maschine und Material aus, teils persönlich: vom Arbeiter aus, und
im letzteren Fall teils rational teils irrational bedingten Komponenten, zu erklä-
ren
1)
. Dagegen alle feineren Ergebnisse der Laboratoriumsforschung (Seite 94):
z. B. das Hineinspielen von »Störung« (im psychophysischen Sinne des Worts)
und »Gehnung« in den Uebungsvorgang und Aehnliches, mußten von An-
fang an jenseits jeder Möglichkeit der Erfassung bleiben, schon deshalb, weil
trotz allen Fortschrittes der technischen Mechanisierung doch die Arbeit des
mechanischen Webens heute d u r c h w e g eine Kombination äußerst hete-
rogener, weder einen stetigen Rhythmus bildender noch auch nur an sich in ste-
tiger Abfolge in der Zeit sich wiederholender Bewegungen mit ebenso verschie-
denen geistigen Leistungen ist. Auch hier würden andere Industrien mit weiter-
gehender Spezialisierung der Arbeit günstigere Arbeitsfelder bieten, als gerade
die hier als Beispiel herangezogene. Unentbehrliche Voraussetzung wirklich
brauchbarer Ergebnisse re auch dann eine lange Zeit hindurch währende Be-
obachtung
ich früher (Arch. f. Sozw. u. Sozpol. Band XX) anzunehmen geneigt war. Dabei ist, wie
schon bei anderer Gelegenheit, in aller Schärfe zu wiederholen, daß für die moderne F a -
b r i k - A r b e i t e r s c h a f t heute vermutlich n i c h t d i e K o n f e s s i o n
als solche, wie dies in den Zeiten des Frühkapitalismus für die Welt des Bürgertums der Fall
gewesen zu sein scheint, Unterschiede konstituiert, sondern die Intensität, mit der sie, heiße
sie nun Katholizismus oder Protestantismus, im Einzelfall die L e b e n s f ü h r u n g
überhaupt beeinflußt. Daß der heutige, in dieser Hinsicht nach Maß und Richtung des Einflus-
ses vom Mittelalter sehr stark verschiedene Katholizismus ein genau ebenso brauchbares
Domestikationsmittel ist wie nur irgendeine »protestantische Askese«, zeigen u. a. gewisse
neuere Erscheinungen in Nordspanien, wo die Jesuitenschulen ganz planmäßig von den Un-
ternehmern als solches benutzt werden. Näheres über diese Frage ein anderes Mal.
1)
Diese Erklärung, welche im einzelnen an den Tabellen I und II vorzunehmen ich mir
um des Raumes willen versagt habe, hätte f a s t alle stark exzentrischen Schwankungen,
auch der Tageskurven, erfassen nnen. (So ist z. B. ein großer Bruchteil der letzteren da-
durch bedingt, daß es sich um Ketten zweistühliger Weber handelte und die Verhältnisse des
a n d e r n Stuhles hineinspielten, insbesondere Einstühligkeit: so für die ganze Serie
exzentrisch hoher Leistungen Tabelle II, e, Januar 21-23, Februar 18-27, m, Januar 7-13,
ebenso für zahlreiche andere exzentrische Einzeltage.) Gleichwohl bleibt natürlich doch für
die exzentrischen Schwankungen ein starker durch Nachforschungen ex post unerklärbarer
Rest, und die normalen Schwankungsamplituden entziehen sich vollends jeder nachträglichen
Erklärung.
15. Resumé. 243
des Arbeiters w ä h r e n d der Arbeit nach vorausgegangener genauer techni-
scher und physiologischer Analyse der Art der Ansprüche, welche die Maschine
stellt. – Erst eine solche Beobachtung zahlreicher Arbeiter bei der Arbeit und die
Kontrolle dieser Beobachtungen an der Hand der Stuhluhren und Lohnbuchun-
gen kann dann den Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Bedeutung der
i n d i v i d u e l l e n Differenzen der Arbeiter, vor allem für die Feststellung,
w e l c h e von diesen für die Leistung relevant sind, bilden.
Wir sind im einzelnen wiederholt auf die Bedeutung der individuellen Eigen-
art gestoßen, ja man kann sagen.: sie drängt sich auf Schritt und Tritt auf. So-
wohl in ihrer Wochenkurve, wie in der Art der Entwicklung ihrer Leistung an je
einer einzelnen Kette, in dem Me und der Art der Bewegung ihrer Schwan-
kungsamplitüde und in anderen charakteristischen Erscheinungen zeigen
k e i n e s w e g s a l l e , aber: sehr viele Arbeiter in auffallendem Maße
»typische«, d. h. bei der Mehrzahl ihrer Arbeitsleistungen sich in ähnlicher Art
wiederholende, Erscheinungen, die hier um deswillen nicht erörtert worden sind,
weil auch die mir einigermaßen plausiblen Ergebnisse außer Verhältnis zu dem
notwendigen Aufwand an Raum für die notwendigen umständlichen Einzelana-
lysen stehen würden und eine k a u s a l e Zurechnung der gefundenen Diffe-
renzen
1)
, da auf die persönliche Befragung der Arbeiter verzichtet worden war,
dennoch nicht gegeben werden nnte, vor allem auch die Z a h l e n zu
k l e i n wären, um irgend etwas auch nur in weitester An-
1)
Es handelt sich dabei im wesentlichen um Beobachtungen, wie z. B. die: daß solche Ar-
beiter, welche beim Uebergang zu neuen und schwierigeren Sorten eine sehr hohe A n -
f a n g s leistung entwickeln (weil sie ihren Schußzahlstandard pro Tag auch bei der neuen
Sorte zu behaupten trachten), auch in der Leistung innerhalb der Woche, speziell der Mon-
tagsleistung, ein ähnliches Verhalten zeigen, so daß sowohl die »Uebungskurve« als die
»Wochenkurve« sich bei ihnen abweichend von dem Durchschnitt gestaltet (für erstere tritt
dies namentlich bei zweistühligen Webern deutlich hervor: vgl. S. 86. Ueber die U n t e r -
s c h i e d e der Einwirkung des S o n n t a g s ist schon S. 148 f. gesprochen; es ließe
sich hier noch einiges, wennschon wesentlich Hypothetisches, hinzusetzen). Sehr hypothe-
tisch müßten auch, bei der Kleinheit der Vergleichszahlen, die Beobachtungen über Unter-
schiede in der Eigenart (Wochenkurve, Uebungskurve, Schwankungsamplitude, Leistungshö-
he) der »städtisch«, d. h. in stadtartigen Orten, und der »ländlich« geborenen, aufgewachse-
nen oder domizilierten Arbeitern bleiben. Die größere »Fixigkeit« der ersteren, schnelleres
Uebungstempo (bei nicht immer höherer Uebungs f ä h i g k e i t ) sind auch nicht aus-
nahmslose Erfahrungen, wie theoretisch anzunehmen wäre, und von »Durchschnitten« kann
bei den kleinen Zahlen nicht die Rede sein. S. auch den Text.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 244
näherung Gesichertes zu sagen. Dabei würde, da es sich um eine nach ihrer Pro-
venienz sehr homogene Arbeiterschaft handelt, das individuelle Lebensschicksal
( d i e s , und nicht der verschwommene Milieubegriff, ist der »Anlage« entge-
genzusetzen!) sich die ganz überwiegende Rolle spielen: die Frage, ob jemand in
der Jugend häufig landwirtschaftlich gearbeitet, oder in welchem M a ß e er
späterhin irgendwelche andere Arbeit von einer Art, welche die Epidermis ver-
dickt, getan hat, steht offenbar stark im Mittelpunkt. Andere Umsnde und vol-
lends die »natürliche Anlage« so entschieden sie gewiß überall als anzusehen
ist würden bei der Art des Materials selten in irgendwie greifbare Nähe treten.
Auch die eingehendste persönliche Beobachtung der Arbeiter würde hier nur in
Verbindung mit Material, welches l ä n g e r e Z e i t r ä u m e umfaßte, si-
cheren Boden bieten können.
Von mehr untergeordneten Einzelheiten, auf welche vielleicht hie und da ein
Streiflicht gefallen sein könnte, mag abgesehen werden.
16.
Was die vorstehenden Auseinandersetzungen nebenher wohl auch ergeben
haben dürften, ist die negative Tatsache: d uns von einer »exakten« Behand-
lung der »letzten« Fragen: inwieweit »ererbte« Dispositionen einerseits, Einflüs-
se des Lebensschicksals andrerseits auf die Eignung zur Industriearbeit von Ein-
fluß sein können, selbst dann noch eine weite Kluft trennen würde, wenn die
klaffenden Lücken, welche in der vorstehenden Skizze zwischen »exakter« psy-
chophysischer Beobachtung und unsern Beobachtungsmitteln sich zeigten, ge-
schlossen wären, wenn wir uns also ein laboratoriumsartiges Mvon Genauig-
keit in der Erfassung dieser Daten erreicht denken. Denn dann benne erst je-
nes Problem für dessen Inangriffnahme wir uns nun nach dem, was uns die ent-
sprechenden Fachdisziplinen an Mitteln zur Verfügung stellen, umsehen ß-
ten. Da würde sich dann zeigen, daß die biologisch orientierte Erörterung der
Vererbungsfragen heute noch in keiner Weise so weit gediehen ist, das für
u n s e r e Zwecke damit etwas Erhebliches an neuen Einsichten zu gewinnen
wäre.
Vor allem ist schon der bei den Soziologen ufige Mißbrauch, alle (hypothe-
tischen) Determinanten der konkreten Qualit eines
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 245
Individuums glatt unter »Anlage« und »Milieu« a u f z u t e i l e n für die För-
derung der Arbeit äußerst wenig vorteilhaft. Nehmen wie zunächst den »Milieu-
Begriff«, so ist er offenbar gänzlich nichtssagend, wenn man ihn nicht be-
schränkt auf ganz bestimmt zu bezeichnende 1. k o n s t a n t e , 2. innerhalb
gegebener geographischer, beruflicher oder sozialer Kreise u n i v e r s e l l
verbreitete, 3. u n d d e s h a l b auf das ihnen zugehörige Individuum ein-
wirkende Zuständlichkeiten, also: auf einen deutlich definierbaren A u s -
s c h n i t t aus der Gesamtheit von Lebensbedingungen und wahrscheinlichen
Lebensschicksalen, in die ein Individuum oder irgendeine Gattung von solchen
eintritt. Wenn dies nicht geschieht, würde man jenen, lediglich den Schein einer
Erklärung erweckenden, Begriff am besten gänzlich m e i d e n . Mit dem
Begriff der »Anlage« steht es anders, aber f ü r u n s r e Zwecke dennoch
ähnlich bedenklich. Jede wie immer geartete Vererbungstheorie arbeitet selbst-
versndlich mit ihm (oder mit gleichwertigen Begriffen). Aber für unsere Be-
dürfnisse würde, längst e h e irgendeine der so lebhaft umstrittenen Fragen
nach dem materialen Umfang der Vererbbarkeit (Frage der Vererbung erworbe-
ner Eigenschaften) und nach der Quelle der zum Gegenstand der »Auslese«
werdenden Variationen »Zufall«, »mnemische« Engramme oder irgendwelche
spezifischen »regulativeQualitäten der belebten Materie) überhaupt nur auf-
tauchen bereits die weit praktischere Frage entstehen: was denn nach den ge-
gebenen Erfahrungen eigentlich das O b j e k t einer Vererbung erweckten
»Anlage« ausmachen nne? Körpermaße und -Maßrelationen, alle möglichen
anderen somatischen Verhältnisse, z. B. auch einschließlich (wie es nach neue-
ren Versuchen scheint) der Lagerung der Hirnwindungen unzweifelhaft, aber
wie steht es mit der Art und dem Grade der erblichen Bestimmtheit von p s y -
c h i s c h e , für die Arbeitseignung relevanten Qualitäten? Und ferner speziell:
auch für den I n h a l t der Willensbestimmtheit des handelnden (arbeitenden)
Individuums? Ein Irgendwie von Einfluß der Vererbung ist ja selbstredend auch
hier ganz außer Frage. Aber uns interessiert hier nicht in erster Linie seine Exi-
stenz und auch nicht sein Grad: letzteres eine Frage, auf welche, wie man sich
vor allen Dingen klarzumachen hat, eine g e n e r e l l e Antwort gar nicht
möglich ist, sondern nur eine solche für Gruppen von »Fällen«. Und auch nicht
die Frage: mit welchen Darstellungs-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 246
mitteln man etwa Vererbungsschemata aufstellen sollte, welche die Wahrschein-
lichkeit des Wiederauftauchens bestimmter intellektueller, dichterischer oder
anderer Begabungskonstellationen innerhalb gegebener »Fortpflanzungsge-
meinschaftetheoretisch veranschaulichen könnten. Sondern uns interessiert
allein: w a s denn eigentlich an den Einzelvorgängen des psychischen Lebens
als erblich determiniert angesehen darf. Ernstlich gestellt hat sich dieses Pro-
blem im wesentlichen nur die Psychiatrie. Obwohl nun bekanntlich die Frage,
inwieweit die »normalen« und die »pathogenen« psychischen Vorgänge metho-
disch in Parallele gestellt werden dürfen, noch immer höchst bestritten ist, kann
doch das hier gemeinte Problem ganz zweckmäßig an pathologischen Fällen
veranschaulicht und vor allem: der Sinn der Fragestellung daran verdeutlicht
werden.
Daß die besondere individuelle Art der Verknüpfung bestimmter Gedanken-
gänge, wie sie etwa den Inhalt der »Weltanschauung« eines Individuums aus-
macht, oder daß wenigstens die in der Denkeigenart etwa eines Schriftstellers
sich aussprechende besondere Weise der Gedankenverknüpfung durch »Verer-
bung« überkommen, also ebenso übertragbar sei, ist von Psychiatern als »kna-
benhafter Denkfehler« bezeichnet worden. Andererseits ist trotz alledem von
psychiatrischer Seite ein Fall, in welchem eine zweifellos »Kranke« konsequent
nach von ihr selbständig und leidlich klar als »Lebensanschauung« formulier-
ten – »Stirnerschen Prinzipien« handelte, zum Anlaß einer historischen Untersu-
chung darüber gemacht worden, ob nicht etwa Stirner selbst, der ganz »normal«
handelte, dem gleichen »Krankheitstypus« (im k l i n i s c h e n Sinne!) zuge-
rechnet werden müsse (Archiv für Psychiatrie 36, 1902). Vererbbar soll (eben-
falls nach Ansicht von Psychiatern) »selbstverständlich« nur die »For der
psychischen Hergänge sein, die »Inhalte« werden »erworben«. Was ist nun aber
in diesem Fall unter »Forund was unter »Inhalt« verstanden, angesichts der
Vieldeutigkeit dieser Worte? Ein Beispiel zur Verdeutlichung: In Berlin wurde
1905 der Fall einer jungen, in glücklichster Ehe lebenden scheinbar vollkommen
»normalen«, weder leidenschaftlichen noch melancholischen, noch in der Stim-
mung labilen Frau vorgestellt, welche, ohne daß der geringste Anlaß zu ermit-
teln re, am hellen Tage mitten aus heiterem Leben sich in die Küche begab
und, rechtzeitig zum klaren Bewußtsein
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 247
kommend, sich selbst bei dem Versuch, sich den Hals abzuschneiden, über-
raschte. Da zwei Aszendenten durch Selbstmord geendet hatten, woran sie je-
doch ihres Wissens in keiner Weise gedacht zu haben erklärte würde der Laie
von einem »ererbten Trieb zum Selbstmord« reden. Die Fachleute
1)
aber lehnen
diese Auffassung durchweg ab und sind der, durch Erfahrungen wohlbegründe-
ten, Ansicht, daß nur von einer Disposition zu einer spezifischen Art von akuter
zeitweiliger Bewußtseinsstörung (»Dämmerzustand«) die Rede sein nne, daß
dagegen über die Frage: was im Verlauf dieser psychopathischen Stimmung et-
wa für Handlungen vorgenommen werden (ob Selbstmord oder ob etwa Gewalt-
taten, sexuelle z. B., oder sonstige, gegen andre gerichtete, Handlungen, ob
überhaupt ein aktiv sich äußerndes Gebaren), durch jene »Disposition« durchaus
n i c h t s entschieden sei: das nge von Umständen ab, die sich im einzelnen
Falle meist, und generell jedenfalls, der Berechnung entziehen. Die Krankheits-
kategorie »Dämmerzustand« stellt hier die »For, die konkrete Eigenart des
Handelns, den »Inhalt« dar. Man wird nun auf den Gedanken kommen, dieser
Scheidung von »For und »Inhalt« gegenüber etwa zu sagen: daß in einem
»Dämmerzustand« doch vielleicht immerhin nicht jedes ganz beliebige Gebaren
gleichmäßig wahrscheinlich sei, daß vielmehr ein bestimmter Ausschnitt aus al-
lem überhaupt möglichen Sichverhalten, insbesondere bestimmte Handlungs-
weisen, darunter: der Selbstmord, dadurch, vielleicht in sehr verschiedenem
Grade, b e g ü n s t i g t werden, dieser pathologischen »Form« also mehr
oder minder als »Inhalt« »adäquat« seien, im Gegensatz zu (nicht etwa: allen,
aber: vielen) anderen »psychopathischen« Zuständen und zum »Normalzu-
stand«. Dann wäre der Gegensatz von (in Gestalt einer »Disposition«) ererbter
»Forund von realisiertem »Inhalt« kein absoluter. Die Chance, daß irgendei-
ne unter die Gattung »Dämmerzustand« fallende Zuständlichkeit eintritt, hätte
ein durch die »ererbte Anlage« gegebenes, im E i n z e l fall selbstredend gänz-
lich ungreifbares, Wahrscheinlichkeitssegment,hrend für den wirklichen Ein-
tritt teils die Mitwirkung a n d r e r ererbter Dispositionen, teils vielleicht
auch, unbekannt: wie und welche, »Lebensschicksale« bestimmend sein nn-
ten. Innerhalb
1)
Z i e h e n , der den Fall in der Charité vorstellte (vgl. Berl. klin. Wochen-Schrift
1905, Nr. 40).
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 248
dieses Wahrscheinlichkeitssegments würde die Chance, daß eine bestimmte Art
von Handlungen ausgeführt wird, je ihr, praktisch natürlich ebenfalls sicher nie
ganz faßbares und seinerseits wiederum teils erblich, teils akzidentiell bestimm-
tes Wahrscheinlichkeitssegment haben. Indessen diese Auffassung wird von den
Psychiatern um deswillen nicht akzeptiert, weil die in einem »Dämmerzustande«
vorkommenden Handlungen tatsächlich, so viel bekannt, von j e d e r denkba-
ren Art seien und alle im Normalzustand vorkommenden mitumfaßten, von de-
nen sie sich nur durch das Abbrechen der im wachen B e w u ß t s e i n ver-
laufenden Motivationsverknüpfung unterscheiden. Das ist eine für uns sehr we-
nig tröstliche Auskunft. Und kaum tröstlicher scheint es für uns überhaupt in der
Psychopathologie auszusehen, wenn wir sie auf die Beziehungen zwischen (kli-
nischer) Krankheits»form« und pathogenem Vorstellungs- und Willens»inhalt«
durchmustern. So ist es, namentlich aus Kraepelins Darstellungen, wohl auch
dem sachlich interessierten Laien bekannt, daß der psychiatrische Kliniker z. B.
den »Inhalt« der Wahnvorstellungen eines endogen Kranken (namentlich, aber
übrigens durchaus nicht n u r eines solchen), als nzlich uncharakteristisch
für den konkreten Typus der Krankheit behandelt, daß ferner überhaupt eine
ganz unübersehbare Fülle von psychischen Symptomen, welche dem Laien als
höchst »wichtig« ins Auge fallen, und nach denen er die Krankheiten klassifizie-
ren würde, vor der Erfahrung des Klinikers jegliche Bedeutung für Diagnose
und Prognose verlieren. Ganz heterogene, d. h. in diesem Falle: durch somati-
sche Gehirnvorgänge von nach Erscheinung und Verlauf gänzlich verschiedener
Art bedingte, Erkrankungen nnen in breitestem Umfang gleiche psychische
Symptome produzieren und die »gleiche« (d. h. somatisch gleichartig bedingte)
Krankheit kann sich in einer sehr bedeutenden Mannigfaltigkeit von anschei-
nend einander direkt widersprechenden psychischen Symptomen äußern. Es er-
folgt aber überdies die Vererbung der Disposition zu »geistigen« Erkrankungen,
soweit darüber bereits feststehende Erfahrungen vorliegen, bekanntlich zum
großen Teile, genauer: zu einem für die verschiedenen Arten von Krankheiten
verschieden großen, im ganzen aber anscheinend überwiegenden Teile »un-
gleichartig«, d. h. es kann in der Mehrheit der Fälle nur eine in bezug auf das
Krankheitsbild, welches schließlich r e a l i s i e r t wird,
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 249
undeutliche und unbestimmte Disposition wirklich als »vererbt« gelten. Auch
der Versuch des Nachweises, das »affektive« und »intellektuelle« Störungen
sich in der Vererbung ausschlössen, scheint gescheitert, ganz abgesehen von der
Prinzipienfrage der Grenzlinien beider Arten. Und in welchem prozentualen
Umfang eine Realisation der ererbten Disposition zur Krankheit ein »Mani-
fest« werden derselben selbst bei einer, nach der Zahl der Erkrankungen ge-
rechnet, sehr starken Belastung der Aszendenz, wirklich stattfindet, darüber
schwanken die Zahlen der Statistik (soweit man von einer solchen schon spre-
chen kann) ebenfalls sehr bedeutend.
Die Fachleute erklären, mit der Feststellung bestimmter Regelmäßigkeiten in
bezug auf Vererbungschancen nach Grad und Richtung vorerst notgedrungen
immer vorsichtiger geworden zu sein. Manche auffallenden Erscheinungen bei
den nordamerikanischen Negern: der Ausbruch gewisser, als »erblic gelten-
der, Geisteskrankheiten bei ihnen auf der einen Seite, ihre, wie es scheint, trotz
aller noch immer bestehenden Differenzen, immerhin stetig zunehmende An-
gleichung an die dort im übrigen herrschenden Zusnde, nach der Emanzipation
andrerseits lassen die Bedeutung rein gesellschaftlicher Bedingungen als unver-
mutet stark erscheinen und drücken dadurch auch den Wert der bisher noch in
den Anfängen stehenden Untersuchungen über die quantitativen und qualitativen
Unterschiede der psychischen Morbidität der »Rasseund Volksstämme
1)
als
geeigneten Materials für die Analyse e r e r b t e r psychischer Differenzen
ebenfalls mit herab. Dies um so mehr, als die wenigen vorliegenden, allerdings
methodisch noch äußerst primitiven, Untersuchungen über die (normale!) Diffe-
renzialpsychologie verschiedener Generationen (der gleichen Kulturschicht) ei-
ner gegebenen Bevölkerung der Gegenwart, soweit sie überhaupt charakteristi-
sche Unterschiede vermuten lassen, ätiologisch in die gleiche Richtung weisen,
wie die in den psychiatrischen Kliniken beobachteten »Stammesdifferenzen«:
auf den Einfluß des allgemeinen Kulturstandes. Da ferner hirnanatomische Bil-
der von wirklich durchweg »normaler« (d. h. in
1)
So die stärkere Neigung der bayerischen Irrenanstaltsinsassen zur Gewaltsamkeit, der
Pfälzer zur Unruhe, der Sachsen zum Selbstmord, während die spezifische Neigung der
Romanen und Slaven zur Hysterie, speziell ihrer schwereren Form, allerdings, nach der Reli-
gionsgeschichte zu schließen, wohl eher als echte ererbte »Stammesqualität« anzusprechen
wäre.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 250
Wahrheit: »idealer«) Reinheit von allen Abweichungen auch bei »Gesunde
gar nicht übermäßig häufig zu sein und jedenfalls sehr beträchtliche Deforma-
tionen mit ganz normalem Funktionieren des Gehirns verträglich scheinen und
da überhaupt k e i n e Zelländerung allein a l s s o l c h e als für eine Psy-
chose »spezifisc gelten soll, hrend andrerseits gerade für manche der am
stärksten und (nach den früheren Annahmen wenigstens) am gleichartigsten ver-
erblichen »geistigen« Erkrankungen keinerlei Deformationen im Gehirn nach-
weisbar sind
1)
, so begreift es sich, wenn von psychiatrischer Seite geradezu ge-
sagt wurde: es grenze beinahe an Hohn, wenn man von Erblichkeitsgesetzen
spreche
2)
, – zumal die »Belastungs«-zahlen der Massenstatistik vor kurzem noch
zwischen 14 % und 90 % schwankten.
Ganz so desparat, wie man bei Lektüre derartiger Aeußerungen glauben könn-
te, stehen die Dinge in Wahrheit nun wohl nicht. Zunehmende Sorgfalt der Auf-
nahme und Untersuchung ergeben überall zunehmende Erblichkeitszahlen
3)
, und
selbstverständlich gibt es auch eine bedeutende Anzahl sehr bestimmter p s y -
c h o l o g i s c h e r Merkmale für die einzelnen Kategorien von Krankheiten,
darunter auch zahlreiche »inhaltlich« bestimmte (schon z. B. ein Merkmal wie:
»Sinnlosigkeit« einer Reaktion, i s t ein »inhaltliches«, mag es noch so »gene-
rell« und negativ sein). Allerdings: bei den eigentlich sog. »organischen« Psy-
chosen, insbesondere den Verblödungspsychosen (Paralyse, dementia praecox)
schließt die spezifisch feste Umrissenheit des Krankheitsbildes und die
Irrationalität a l l e r psychischen Begleiterscheinungen eigentliche
Uebergangsstufen zum »normalen« Zustand (der hier nur als partieller »Defekt«
bei Stillstand oder – bei Paralyse – Aus-
1)
So namentlich bei gewissen, in abgeschwächter Form äußerst verbreiteten »zirkulären«
Störungen.
2)
S t r o h m a y e r , Zeitschr. f. Psych. 61, 1904 und Münch. med. Wochenschrift
1901, Nr. 45 u. 46.
3)
Die Arbeiten von J e n n y K o l l e r (Archiv f. Psychiatrie 28), welche bei Unter-
suchung einer gleichen Zahl Geistesgesunder und Geisteskranker nur ein mäßiges Ueberwie-
gen der Belastung bei den letzteren (76,8 gegen 59 %) zeigten, und die Zahlen von
D i e m , Arch. für Rassen- und Gesellsch.-Biologie 2, 1905 (77,0 gegen 66,5 %) ergeben
das richtigere, der Bedeutung der Vererbung wesentlich günstigere Bild wie Diem nach-
weist erst bei Sonderung nach den Krankheiten und gesonderter Betrachtung der d i -
r e k t Belasteten. Vgl. ferner: Tigges, Allg. Zeitschr. f. Psych. 64 (1907). Die Einflüsse der,
besonders bei Einbringung von Männern, fast immer unvollständigen Angaben der Verwand-
ten täuschen zu niedrige Zahlen in den üblichen Statistiken vor.
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 251
heilung existiert) und damit alle Vergleichbarkeit mit ihm aus. Anders freilich
auf dem großen Gebiet der nicht »organischen«
1)
degenerativen Erkrankungen:
zunächst also der Hysterie und der verwandten Neuropathien.
Ueber das Maß des Hineinspielens von ererbten Dispositionen in diese Er-
scheinungen herrscht aber die größte Unsicherheit. Namentlich war bei dem er-
sten Auftreten der Freudschen Theorien, welche akzidentielle Momente fast zur
alleinigen Krankheitsquelle zu stempeln schienen, der Streit überaus heftig ent-
brannt: er scheint jetzt, mit zunehmendem Verblassen der Thesen Freuds, im
wesentlichen auch hier (in dem uns allein interessierenden Punkt) sich dahin zu
schlichten: daß eine, im Einzelfall niemals näher nach Art und Mgreifbare,
»Disposition« mindestens regelmäßige, aber nach Freud: n i c h t ausnahmslo-
se, »Bedingung«, konkrete Erlebnisse aber »Ursache« der betreffenden Krank-
heitserscheinungen seien, welche Freud nach der A r t der Erlebnisses, durch
die jede einzelne Form verursacht werde, zu klassifizieren gesucht hat. Da nun
feststeht, daß diese Erlebnisse keineswegs i m m e r die Folge der Hysterisie-
rung bzw. neurotischen Erkrankung zeitigen, so bestände generell nur ein »Ad-
äquanz«verhältnis zwischen jenen Lebensschicksalen und dem entstehenden
mehr oder minder deutlich entwickelten Abnormitätstypus. Und es bleibt der
A n t e i l der Vererbung in allen diesen Fällen vorerst ein gänzlich vieldeuti-
ger: dabei aber handelt es sich hier um Abnormitäten von außerordentlicher
Verbreitung und großer auch kulturgeschichtlicher Tragweite. Was möglich
scheint, ist einerseits (wie schon angedeutet, cf. Anm. S. 245) die Feststellung
von e t h i s c h e n Differenzen der Hysterisierbarkeit: dabei würde es sich
wenigstens w a h r s c h e i n l i c h um Vererbungseinflüsse handeln. Auf der
anderen Seite ist ohne daß der Laie irgendwie beurteilen nnte, mit welchem
endgültigen Erfolg in geistreicher Weise der Versuch gemacht worden, g e -
s e l l s c h a f t l i c h e Schichten in dieser Hinsicht zu scheiden, und man
wird: sagen dürfen, daß hier vielleicht ein erheb-
1)
»Organisch« heißen in der Psychiatrie im klinischen, hier gebrauchten Sinne des Wortes
die durch (im Prinzip) schon jetzt s i c h t b a r zu machende Gehirnveränderungen be-
dingten Psychosen. Die am meisten »endogen« vererbbare und verbreitetste r e i n e Psy-
chose: die von Kraepelin sog. »manisch-depressiven« Störungen, wären nach d i e s e m
Sprachgebrauch nicht »organisch«, sondern »funktionell«.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 252
liches Arbeitsfeld für die Gewinnung pathologischer psychischer A l l t a g s -
typen gegeben ist, aber, soweit dies gelingt, ersichtlich auf der ätiologischen
Basis des »Kultur«- (bzw. Unkultur-)Einflusses und n i c h t der »Vererbung«.
Schließlich gibt einige andere charakteristische und in hohem Grade »endo-
gene« (ererbte) degenerative Psychosen, welche diese selbe Eigenschaft: auch in
den allglichen Lebenserscheinungen, in stark abgeblaßter Form, sich sehr oft
zu finden, aufweisen. Es sind namentlich die einfachen und die zirkulären mani-
schen und melancholischen Zusnde, von denen aus der Weg zu zahlreichen in-
nerhalb der (konventionellen) Breite des »Gesunden« liegenden alltags-
pathologischen Unterschieden der persönlichen »Eigentümlichkeiten« völlig of-
fen liegt. Aber auch in diesen Fällen scheint, wie bei der Hysterie und den Neu-
ropathien, G l e i c h a r t i g k e i t der Vererbung nicht streng gewährleistet.
Jene generellen Klassifikationen endlich, welche der Psychopathologie zur
Kennzeichnung von Differenzen der »Persönlichkeit« für ihre Zwecke genügen,
reichen an Differenziertheit entfernt nicht an jene Unterscheidung von »Grund-
qualitäteheran, welche, wie wir sahen, Kraepelin für seine arbeitspsychologi-
schen Untersuchungen gemacht hat. Auf diese aber kommt es für die »Arbeits-
eignung« an, und es fragt sich nur das eine: ob sie bereits so sehr in »letzte«
E i n z e l komponenten zerlegt sind, daß die Frage nach ihrer erblichen oder
akzidentiellen Provenienz, bzw. nach dem G r a d e , in welchem Erblichkeit
und Lebensschicksal auf ihre Entwicklung wirken, bereits gestellt werden darf.
Eine solche »Zerlegung« in »letzte« Einheiten wird dann für uns die Form der
Fragestellung annehmen müssen: inwieweit » A d ä q u a n z « beziehungen
zwischen dem Besitz jener einfachsten und rein f o r m a l e n Eigenschaften
und den stets sehr konkreten Anforderungen der gewerblichen Arbeit bestehen.
Aber es muß vorsichtshalber auch noch vor der Annahme gewarnt werden: daß,
weil allerdings als »vererblic im biologischen Sinne nur »formale« Disposi-
tionen gelten können, deshalb auch umgekehrt a l l e Qualitäten, welche
u n s spezifisch »formaoder »einfacerscheinen, auch spezifisch »vererb-
licseien. Nicht die Richtung, in der wir zerlegen und generalisieren, sondern
nur die Erfahrung kann darüber entscheiden, welche psychophysischen Qualitä-
ten im Sinne der spezifischen V e r e r b barkeit »einfacund »formal« sind.
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 253
Im ganzen ist die unter uns Laien sehr weit verbreitete Ansicht: daß die Psy-
chopathologie die Gelegenheit gewähre, die »charkterologischen« und sonstigen
Unterschiede der »Veranlagung« besonders »rein«, weil in besonders ausge-
prägter Steigerung ihrer Eigenart, zu beobachten und für ihre Erblichkeit von da
aus Licht zu gewinnen, nur in großer Beschränkung richtig. Wenn sie etwas leh-
ren kann, so ist es die Mahnung: nicht allzu voreilig komplizierte und spezifi-
sche Qualitäten als im biologischen Sinne »ererbt« abzustempeln und auch mit
der Annahme der (im biologischen Sinne) »erblicheUebertragung »erworbe-
ner« psychischer oder psychophysischer, die Arbeitseignung bestimmender,
Qualitäten möglichst vorsichtig zu sein
1)
. Die Uebertragung elterlicher Eigenar-
ten auf die Kinder durch »Traditio (im Gegensatz zur biologischen Verer-
bung) erfolgt ja nicht immer durch b e w u ß t e Tradierung, sondern ebenso
durch unbewußte Nachahmung von frühester Jugend an. Und von der Annahme
einer (im biologischen Sinn) »erblicheAnpassung an bestimmte konkrete Ar-
beitsweisen kann, nach dem was heute an Material vorliegt, v o r e r s t keine
Rede sein. Andere Momente spielen so stark a u s l e s e n d und anpassend
hinein, daß jede Aussonderung des »Vererbungs«faktors z. Z. noch absolut pro-
blematisch erscheint. Daß erworbene krankhafte »Nervosität« und überhaupt
Nervenquäliten der Mutter in der Schwangerschaftszeit das Nervensystem des
Kindes tief beeinflussen können, ist an sich sehr plausibel. Wie es aber sonst mit
der Uebertragung erworbener Nervenqualitäten auf die Kinder steht, ist so
gern man annehmen möchte, daß d i e s e erworbenen somatischen Qualitäten
den Keim stärker als alle anderen äußeren Einflüsse beeinflussen nnen vor-
erst unbekannt. Um Nervenqualitäten aber handelt es sich heute, zumal bei der
»gelernteArbeiterschaft, für die Arbeitseignung in hervorragendem Me.
Das eine aber können wir aus dem über die Psychopathologie Gesagten jeden-
falls entnehmen: daß für unsere Bedürfnisse vorerst der Streit der Vererbungs -
t h e o r i e n nzlich außer Sichtweite bleiben muß und auf keine Weise in
die Erörterungen,
1)
Die früher mehrfach auch von Fachleuten geäußerte Annahme: daß psychische Krank-
heiten nach ihrem »Manifest«-Werden leichter vererblich seien, bot hierfür eine verlockende
Analogie. Aber diese Annahme scheint nicht sicher erweislich zu sein.
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 254
um die es sich hier handelt, hineingetragen werden darf. Wenn im Einzelfall die
Tatsache, daß bestimmte, r die Arbeitseignung relevante Qualitäten mit Wahr-
scheinlichkeit als e r e r b t anzusehen sind, einmal wirklich durch Zusam-
menarbeit unserer Erhebungsmittel mit den Ergebnissen der biologischen und
psychologischen Begriffsbildung festgestellt werden nnte, so re dies ein in
j e d e m Fälle wichtiges Ergebnis, aber es ist sehr gleichgültig, ob man es
nach Lamarck, Darwin, Weismann, Semon oder nach wem sonst immer »erklä-
ren« kann: es wird sich wohl m e i s t da es sich stets nur um einige Genera-
tionen handelt bereit zeigen, sich j e d e r dieser Erklärungsformen irgend-
wie zu fügen. Damit ist nicht gesagt, daß es nicht recht nützlich re, die we-
sentlichen Grundzüge dieser Theorien wenigstens überhaupt zu kennen: in ih-
rem Widerstreit miteinander können auch sie eine Warnung darbieten, die »Ver-
erbung« nicht in Bausch und Bogen als etwas Einfaches, Problemloses anzuse-
hen und nicht allzuschnell mit der Verwendung dieses Begriffs bei der Hand zu
sein. Bis lle (im biologischen Sinn) e r b l i c h e r Angepaßtheit einer Be-
völkerung oder eines Arbeiterstammes an s p e z i f i s c h e Arbeitsarten,
wenn solche sich überhaupt nachweisen lassen werden, einmal ziffernmäßig und
zweifelsfrei festgestellt sind, mag man dabei das M a ß der Spezialisierung
noch so bescheiden ansetzen, werden noch Jahrzehnte vergehen. Die heutige
Aufgabe ist die sorgsame Durchforschung eines möglichsten Maximums von
großen, möglichst gleichbleibende und rechnungsmäßig faßbare Arbeit verrich-
tenden, Gruppen von Arbeitern in den verschiedenen Industrien daraufhin: ob
und wie Unterschiede der geographischen, kulturellen, sozialen, beruflichen
Provenienz mit Unterschieden der spezifischen Leistungsfähigkeiten oder mit
quantitativen Unterschieden der gleichen Leistungsfähigkeit parallel gehen
o d e r n i c h t . Ehe hier nicht ein gewisses Minimum wirklich sicherer, kau-
sal deutbarer charakteristischer Zahlen vorliegt und das wird Zeit erfordern
kann weiteres nicht erreicht werden. Nochmals: es wäre ohne alle Frage jeder
Nachweis, daß Lebensschicksale und »Milie(im strengen Wortsinn), insbe-
sondere: Art der Berufsarbeit der Eltern oder Voreltern von Arbeitern, auf deren
Arbeitseignung einen greifbaren Einfluß und welchen? im Sinne wirklicher
»Vererbung« (im biologischen Sinn), d. h. der E r z e u g u n g einer be-
stimmten,
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 255
für die Arbeitseignung relevanten und g l e i c h a r t i g e n Differenzialquali-
tät der folgenden Generation gehabt haben, von der allergrößten, für einzelne
Fragen unserer Disziplin vielleicht grundlegenden, Tragweite. Aber entgegen
der vielfach bei den Soziologen herrschenden Ansicht wäre es von sehr gerin-
gem Belang f ü r u n s e r e Z w e c k e : welche der verschiedenen, sich
zur Verfügung stellenden Vererbungs t h e o r i e n die Tatsachen am adäqua-
testen erklären nnte. Für unsere Zwecke wäre nur ein R e s u l t a t von Er-
heblichkeit wie z. B.: daß, wenn in einer gegebenen Bevölkerungsgruppe eine
Generation eine Berufs ü b u n g bestimmter Art durchgemacht hat, die fol-
gende Generation eine Differenzialqualifikation der Größe x für diese Berufsar-
beit zu besitzen pflegt.
Ich habe an anderer Stelle
1)
versucht, im Sinne dieser Reserve gegenüber Frage-
stellungen, die wir unsererseits nicht beantworten nnen, einige Anstrengungen
für die vom Verein für Sozialpolitik unternommene Enquete über Auslese und
Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie zu geben und
höre mit Vergnügen, daß das Institut Solvay in Brüssel unter der Leitung von
Prof. Waxweiler eine ähnliche Erhebung zu veranstalten beabsichtigt
2)
. Man darf
sich nur keine Illu-
1)
In einer als Manuskript gedruckten Denkschrift r den Verein f. Sozialpolitik, 1908. S.
1-60 dieses Bandes.
2)
Von den bisherigen Arbeiten des Instituts sind ein Teil wesentlich populärer Art: dahin
gehört von den »Actualités sociales«: L. Q u e r t o n , L’augmentation du rendement de la
machine humaine (1905), während die Arbeit von Mlle. J. J o t e y k o , Entrainement et
fatigue au point de vue militaire (1905), namentlich in den Fragestellungen (S. 59 f.) manches
Wertvolle bietet, wennschon von den angeführten Tatsachen der Satz, daß stets nach (relativ)
kurzer Zeit das Optimum des für das betreffende Individuum überhaupt erreichbaren Ue-
bungsstandes erzielt werde, weitere Uebung also zwecklos sei, mit den bisher gemachten Be-
obachtungen in der Industrie n i c h t übereinstimmt. Damit ist nicht gesagt, daß er nicht
für das Schießen vielleicht wirklich gelten könne weil hier Begabungsdifferenzen in der Tat
wohl von großer Bedeutung sind. Mir ist selbst das fraglich. Vor allem aber: die Tendenz
dieser Arbeit macht die Sache etwas verdächtig. Jener Satz soll dem pazifistischen Verlangen
nach Abkürzung der Dienstpflicht dienen. Dazu ist er – man kann das bedauern, aber schwer-
lich ändern nicht geeignet. Wer die deutsche Armee wiederholt, zuerst mit und nachher
ohne die »dreijährigen« Leute gesehen hat, weiß, daß sie sich seit Ausscheidung der letzteren
g e ä n d e r t hat. Ob durchweg zum militärisch Guten, kann der Laie nicht beurteilen
(obwohl ersichtlich manches dagegen spricht), aber es ist das Gegenteil jedenfalls, je nach
den gestellten Ansprüchen, möglich und damit entfällt die Zulässigkeit so genereller Urteile.
Denn das erzielte Schieß-Optimum tut es nicht allein, auch die (vom »menschlichen« Stand-
punkt betrachtet gewiß höchst unerfreuliche) Aenderung der ganzen inneren Attitude des
Mannes, deren Fortschreiten man gerade auch an dem spezifischen Landsknechts-Selbst-
Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. 256
sionen
über zwei Punkte machen: 1. darüber, daß eine wirklich die Sache för-
dernde Arbeit auf diesem Gebiete keine Leistung
gefühl der »Dreijährigen« beobachten konnte, k a n n militärisch-technisch relevant sein.
Und gerade die Zusammendrängung und Intensivierung der »Uebung« durch die K ü r z e
des Dienstes trägt die Gefahr des »hyperentrainement« in sich. Ueberdies ist die Schießlei-
stung auf der F l o t t e ganz fraglos nicht durch Uebung von kurzer Dauer zu erhöhen.
Hier haben an den großen Geschützen mehrere Mann zusammenzuwirken und die Ueberle-
genheit der englischen Flotte (wenigstens in den Rekordleistungen) hängt zweifellos mit dem
automatischen Ineinanderspielen der in j a h r e l a n g e r Gewöhnung gänzlich aufeinan-
der eingestellten Bedienungsmannschaft zusammen. Es ist jedenfalls mit dem bisherigen Ma-
terial ziemlich schwierig, hier sichere Schlußfolgerungen zu gewinnen. Die esoterischen
(auch privatim selten geäußerten) Ansichten auch sehr hervorragender, weltkundiger und zu-
gleich politisch unbefangener Militärs sind heute schon der Massendienstpflicht als a l -
l e i n i g e r Grundlage des Kriegswesens nicht mehr unbedingt günstig. Je mehr der
Kriegsbetrieb maschinell wird, desto mehr drängt auch er zur Verwendung jahrelang geschul-
ter Spezialisten und damit wieder zur Einfügung von einem Stück berufsmäßiger Lohnarbeit
in die zunehmend zum Miliz-Charakter drängende Zwangsarbeit der »allgemeinen Wehr-
pflicht«, welche die Grundlage der Kriegführung weder ewig war in England sind es be-
kanntlich religiös-ethische Momente gewesen, welche das siegreichste Heer seiner Zeit: die
Armee Cromwells, das Prinzip des zwangsweisen Kriegsdienstes grundsätzlich verwerfen lie-
ßen noch, vielleicht, ewig sein wird. Dies alles nur nebenbei: es ist die Schwäche mancher
Arbeiten aus »positivistischen« Kreisen, daß sie überall der gewiß »guten Sache«, die sie ver-
treten, auch auf ihre Argumentationen Einfl gestatten. Ob die Bemerkungen von Mlle. Jo-
teyko über die Beziehungen von Muskel- und Nervenübung und Ermüdung in Kap. VI überall
einwandfrei sind, wage ich nicht zu beurteilen. Unglücklicherweise werden die »energeti-
schen« Begriffe Solvays gelegentlich hineingemengt. (So ist zu S. 75 unten zu bemerken, daß
auch eine »Auslösung« nur durch E n e r g i e verbrauch möglich ist, die »Nervenzentren«
also doch nicht außerhalb der Energie-Oekonomik stehen, und zu S. 83 oben, daß die
» p s y c h i s c h e Widerstandskraft« eines Heeres doch keine Funktion der »Intelli-
genz« ist u. dgl. mehr.) Im übrigen bedaure ich, dmir der sehr instruktive Artikel der Verf.
(»Fatigue«) im Dictionnaire de physiologie s. Z. ganz entgangen ist. Auf diese Arbeit sei hier
nachträglich verwiesen.
Das lesenswerteste Heft der »Actualités« ist zweifellos die Darstellung von L. G. F r o -
m o n t über die Erfahrungen, welche mit dem Uebergang von der Doppelschicht (Zwölf-
stundentag mit 10 Stunden effektiver Arbeit) zur dreifachen Schicht und damit zum Acht-
stundentag (7
1
/
2
Stunden effektive Arbeit) beim Rösten der Zinkblende in der von ihm
geleiteten chemischen Fabrik gemacht wurden. Ein heres Eingehen auf diese mit Recht viel
beachtete Schrift unterlasse ich aber, da die Erörterung der Wirkungen der Arbeitsdauer hier
überhaupt beiseite gelassen wurden. Zur Rechtfertigung dafür kann jetzt außer auf den fher
zitierten Artikel H e r k n e r s auch auf die seitdem (1909) erschienene Schrift von E.
B e r n h a r d (Höhere Arbeitsintensität bei kürzerer Arbeitszeit, ihre personalen und tech-
nisch-sozialen Voraussetzungen, Schmollers Forschungen, Heft 138) verwiesen werden, wel-
che das Thema in kurzer Uebersicht systematisch, natürlich in keinem Sinn erschöpfend, aber
jedenfalls nach Lage des vorerst allein vorhandenen Materials und gemessen an dem, was der
Autor beabsichtigte, im ganzen recht gut behandelt, ohne gerade nzlich Neues gegenüber
Herkner zu bringen. Gut ist die Literatur herangezogen. (Ich weise nur beiläufig darauf hin,
daß die auf S. 23 dieser Schrift wiedergegebenen, mir entgangenen Angaben der 1905 vom
Reichsamt des Innern bearbeiteten Denkschrift über die Arbeitszeit der Fabrikarbeiterinnen
die Beobachtungen über die Wochentagsleistungen in der Weberei, bestätigen, welche ich
oben vorgetragen
16. Weitere Fragen und Arbeitsaufgaben. 257
einiger
Monate ist, 2. daß die ersten wirklichen R e s u l t a t e erst dann zu
erwarten sind, wenn D u t z e n d e solcher Arbeiten vorliegen.
habe: Ansteigen von Montag bis Mittwoch, Kollaps am Donnerstag, leichtes Ansteigen Frei-
tag, dann infolge der um eine Stunde kürzeren Arbeitszeit! Aufsteigen der Stundenlei-
stung am Sonnabend zum Wochenoptimum. Der Verfasser kannte übrigens, wie er sagt, mei-
ne Aufsätze nicht. Einige schiefe Bemerkungen laufen mit unter: so gehört auf S. 1 der ein-
leitende erste Absatz gewiß nicht zur Sache, und die Bemerkung S. 33 Anm. 1 a. E. ist sach-
lich inhaltsleer, da dem Arbeiter seine Qualität, etwas »anderes« als ein »willenloses Ato
zu sein, ja an sich gar nichts nützt. Manche Behauptungen, speziell im Schlußabschnitt, ste-
hen in ihrem Optimismus mit der sonst zu rühmenden Reserve des Verf. nicht gut im Ein-
klang: Herkner z. B. ist bezüglich der Bedeutung der Automatisierung mit Recht reservierter.)
Die anderen schon gedruckt vorliegenden Arbeiten des Institut S o l v a y auf welche
gelegentlich in anderem Zusammenhang zurückzukommen ist kommen für unsere Zwecke
wenig in Betracht. (Ganz wertlos ist die unter anspruchsvollem Titel auftretende Arbeit von
Ch. H e n r y : Mésure des capacités intellectuelle et énergétique vgl. dazu meine Bemer-
kungen anläßlich der Besprechung von Ostwalds »Energetischer Soziologie« in Arch. f.
Sozw. u. Sozpol. Bd. XXIX, Heft 2.) Welchen Nutzen die zu erwartenden Arbeiten des In-
stituts von der Verwendung kinematographischer Aufnahmen der Arbeitsverrichtungen für
die psychophysische Analyse der Arbeit ziehen werden, bleibt abzuwarten. Vorerst liegt darin
nur ein »origineller Einfall«, allein gewiß ist es gar nicht ausgeschlossen, daß bei richtiger
Anstellung der Beobachtungen nachher eine exaktere Messung der Z e i t dauer der einzel-
nen Reaktionen, aus welchen sich die konkrete Hantierung zusammensetzt, ermöglicht wird, –
und das wäre durchaus nichts Unerhebliches.
258
Die Börse (1894).
I.
Zweck und äußere Organisation der Börsen
1)
.
Die nachstehende Skizze, der ein zweites Heft, welches die inneren Verlt-
nisse der Börse und die Börsengeschäfte erörtern wird, folgt, ist a u s -
s c h l i e ß l i c h bestimmt zur ersten Orientierung für solche, die den ge-
schilderten Dingen gänzlich fernstehen, und sucht deshalb möglichst nichts als
bekannt vorauszusetzen. Nur darauf, ob sie diesen Zwecken dient, kommt es an.
Absichtlich enthält sie sich deshalb des Aburteilens. Denn die praktische Wir-
kungslosigkeit der Kritik, welche breite Volksschichten an den bestehenden
Börsenzuständen üben, hat ihren Hauptgrund in einer grenzenlosen Oberfläch-
lichkeit, welche die Fehler da sucht, wo nur der Unverstand oder der Interessen-
gegensatz sie finden kann. Die gleiche Oberflächlichkeit hat aber auch die gera-
dezu gefährliche Vorstellung verschuldet, als ob ein bei jeder nicht streng sozia-
listischen Gesellschaftsorganisation schlechthin unentbehrliches Institut, wie es
die Börse ist, seiner Natur nach eine Art Verschwörerklub zu Lug und Betrug
auf Kosten des redlich arbeitenden Volkes darstellen müsse und deshalb am be-
sten irgendwie vernichtet würde und vor allem auch vernichtet werden n-
ne. Nichts gefährdet aber eine Arbeiterbewegung wie die, an welche sich diese
Zeilen ja nach der Titelaufschrift zunächst wenden, schwerer, als unpraktische,
in Unkenntnis tatsächlicher Verhältnisse gesteckte Ziele.
Die Börse ist eine Einrichtung des m o d e r n e n G r o ß h a n d e l -
v e r k e h r s . Ihre Unentbehrlichkeit für die moderne Wirtschaftsweise beruht
auf dem gleichen Grunde, aus welchem
1)
Zuerst veröffentlicht in der von Fr. Naumann herausgegebenen Göttinger Arbeiter-
Bibliothek 1894.
I. Zweck und äußere Organisation. 259
die moderne Form des Handelsverkehrs überhaupt erwachsen ist. Sie war eben-
sowenig von jeher notwendig oder auch nur möglich, wie es der moderne Groß-
handel war. Warum? Verfolgen wir den Menschen in seiner Arbeit zurück bis
in die ferne Vorzeit, so begegnet uns als frühster und natürlichster Gesichts-
punkt, unter welchem er Güter hervorbrachte, der: den eignen Bedarf zu decken.
Er suchte durch seiner Hände Arbeit der Natur abzugewinnen, was er selbst zu
seiner Ernährung und Kleidung, zum Schutze gegen Frost und Wetter bedurfte.
Aber niemals hat der einzelne vermocht, auf sich selbst gestellt, der Natur zu
trotzen. Für die Erhaltung der nackten Existenz allein schon ist und war er von
jeher auf die Gemeinschaft mit andern angewiesen, wie das Kind auf die Brust
der Mutter. Und die Gemeinschaft, deren er bedurfte, hlte er sich so wenig
selbst aus freiem Entschluß, wie das Kind sich seine Mutter hlt. Sie wurde
ihm mit auf den Lebensweg gegeben, er wurde in diese Gemeinschaft h i n -
e i n g e b o r e n : in den festen, unter der unumschränkten Herrschaft eines
Patriarchen stehenden Verband seiner Familie, die freilich anders aussah, als
unsre heutige. Denn ihr Haushalt umfaßte Brüder, Vettern, Schwägerinnen bis in
entfernte Grade und das unfreie Hausgesinde durch kriegerische Gewalt un-
terworfene, oder solche, welche ihres Besitzes durch Frost und Viehsterben be-
raubt, nach dem urältesten Rechtssatz der Geschichte, wollten sie leben, die
Knechte der Sieger und Besitzenden werden mußten. Diese Familie ist die älte-
ste wirtschaftliche Gemeinschaft. Sie brachte in gemeinsamer Arbeit die Güter
hervor und verzehrte sie gemeinsam. Und zwar verzehrte sie nur, was sie selbst
hervorgebracht hatte weil sie nichts anderes zu verzehren hatte und brachte
nur das hervor, was sie verzehren wollte, weil sie für das Mehr keine Verwen-
dung hatte.
Vergleichen wir damit den Charakter der heutigen Wirtschaftsweise, so tritt
der ungeheure Gegensatz alsbald zutage. Es gilt der umgekehrte Satz: N i c h t
die Güter bringt der einzelne hervor, die e r s e l b s t verbrauchen will, son-
dern solche, welche nach seiner Voraussicht a n d e r e gebrauchen werden,
und jeder einzelne verzehrt nicht die Produkte seiner eigenen, sondern
f r e m d e r Arbeit. Zwar ist selbstverständlich, daß das nicht allgemein gilt: es
gilt nicht für den Urwaldkolonisten und den Landwirt in der Tiefe unkultivierter
Reiche, und es gilt nur beschränkt für unsere Kleinbauern, die in erster Linie
selbst von der
Die Börse. 260
Ernte ihres Landes leben, und nur den Ueberschuß verkaufen. Aber es gilt gera-
de r die Wirtschaftsbetriebe, welche die moderne Zeit im Gegensatz zu jener
ältesten schuf. Nicht ob er selbst die Güter wird brauchen nnen, sondern ob
sie »Abnehmer« finden werden, d. h. ob andere sie wahrscheinlich brauchen, ist
der Gesichtspunkt, unter welchem der moderne Unternehmer produziert und
produzieren muß.
Zwischen diesen schroffen Gegensätzen liegt die geschichtliche Entwicklung
der Jahrtausende, welche die alten Gemeinschaften auflöste. Sie verflocht die
einzelne Wirtschaft in eine A u s t a u s c h g e m e i n s c h a f t mit einem
sich stetig vergrößernden Kreise von andern Wirtschaften, einem Kreise, den die
moderne Zeit auf die Gesamtheit der Kulturvölker zu erweitern strebt. Und sie
vergrößerte andererseits denjenigen Bruchteil von Gütern, welchen die Wirt-
schaft, die sie hervorgebracht hatte, nicht selbst verbrauchte, sondern an andre
abgab. Und hier tritt der H a n d e l in Tätigkeit,
Neben der einfachen rperlichen Hervorbringung von Gütern und der dazu
erforderlichen körperlichen Arbeit benötigt es, damit der Bedarf, dem diese Gü-
ter dienen sollen, befriedigt werde, noch eines andern: sie müssen demjenigen
zugeführt werden, der sie verbrauchen soll und will und zu dem Zeitpunkt, in
welchem dies der Fall ist. Dazu steht der heutigen Gesellschaftsordnung das
Mittel des G ü t e r a u s t a u s c h e s zu Gebote und diejenige Tätigkeit,
welche den Güteraustausch vermittelt, ist der Handel. Die älteste patriarchali-
sche Familiengemeinschaft bedurfte seiner nicht, da sie grundsätzlich nur ver-
zehrte, was sie hervorbrachte und umgekehrt. Erst mit dem Erwachen des Be-
darfes nach Luxusartikeln begann der Tauschverkehr. Metallene Geräte, Bern-
stein, Edelmetalle und Stoffe von hohem Werte sind die ältesten Gegenstände
des Handels. Er lag in den nden des wandernden Kaufmannes. Als Land-
fremder rechtlos und mit abergläubischer Scheu betrachtet, stand der gehaßte
und doch unvermeidliche Mann unter dem Schutze der Götter, ähnlich wie etwa
giftige Schlangen im alten Orient angebetet zu werden pflegten. Mit der Zeit ge-
stalteten sich die Beziehungen regelmäßiger, und es entstanden neben dem wan-
dernden Kaufmann die gren, periodischen Märkte, wie wir sie noch jetzt in
Mittelasien finden. Auch hier sind es einander Stamm f r e m d e , die mitein-
ander handeln. Die »Internationalität« stand an der Wiege
I. Zweck und äußere Organisation. 261
des Handels-Kapitals. I n n e r h a l b der Gemeinschaft von Stammesgenos-
sen und unter diesen selbst kannte man den Handel so wenig, wie das Nehmen
von Zinsen. Unentgeltlich, wie noch heute in altväterischen Dörfern fern von der
Stadt, lieh man Saatgut und Ackergeräte, und »unter Brüdern« gab es keinen
nach Angebot und Nachfrage bestimmten Preis von Gütern. Auch als an die
Stelle der großen Familienwirtschaft der Horden und Sippen mit dem Erstehen
regelmäßigen Ackerbaues die Wirtschaft selbständig in rfern und fen ne-
beneinander existierender Bauern getreten war, blieb dieser Gegensatz bestehen.
Das änderte sich mit der Entstehung der S t ä d t e . Sie bedeutet das Hinein-
tragen eines rein geschäftlichen Verkehrs in die alten Gemeinschaften selbst,
den ersten Schritt zu ihrer Zersetzung. Neben die internationalen rkte, auf
welchen die Luxusartikel des Auslandes gehandelt wurden, traten die regelmä-
ßigen städtischen Märkte, auf welchen sich die ländlichen Produzenten von
Nahrungsmitteln und die städtischen Produzenten von gewerblichen Produkten
begegneten und ihre Waren austauschten. Diese Wirtschaftsweise also kannte
und benötigte des Tauschverkehrs als eines r e g e l m ä ß i g e n Elements.
Aber immer noch war der Bruchteil, den der einzelne von den durch ihn hervor-
gebrachten Gütern zu Markte brachte, ein geringer: Der städtische Gewerbetrei-
bende war neben seinem Handwerk zumeist auch Landwirt (Ackerbürger), der
Bauer verzehrte den größten Teil seiner Produkte selbst, nur der Ueberschuß
kam zu Markt. Aber neben dem Handwerk, welches für die Versorgung der
Stadt und ihres wenige Meilen im Umkreis umfassenden Bezirks arbeitete, er-
schien in den Städten alsbald noch ein anderes Element. Der wandernde und
landfremde Kaufmann wurde ersetzt und verdrängt durch den ansässigen,
e i n h e i m i s c h e n K a u f m a n n s t a n d , der im Wege regelmäßiger
Geschäftsverbindung Waren, welche das einheimische Gewerbe nicht hervor-
brachte, von auswärts bezog. Es entstand der berufsmäßige I m p o r t h a n -
d e l , und andererseits entstanden große Gewerbebetriebe, die den Ueberschuß
der einheimischen Produktion nach auswärts verhandelten als Exporteure. Da-
zu bedurfte es der Kenntnis der fremden Märkte und bedeutender Mittel. Beides
fehlte den Handwerkern. Ein Kapitalist stellte sich ihnen als »Verleger« zur Ver-
fügung, nahm ihnen ihre Produkte ab und verhandelte sie, sie waren auf ihn an-
gewiesen, und
Die Börse. 262
da er auch den Rohstoff im großen billiger zu beschaffen wußte, lieferte er ihnen
auch diesen und bedang sich aus, daß sie fortan allein für ihn arbeiteten; aus
dem Handwerksmeister war ein abhängiger H a u s i n d u s t r i e l l e r ge-
worden: der erste Schritt zur modernen Fabrik. Damit waren alle Keime der mo-
dernen Entwicklung vorhanden. Aber freilich nur als Keime. Denn noch im-
mer war der Handel überwiegend ein Tauschverkehr mit Gegenständen von be-
sonders hohem Werte. Wollten wir uns den Unterschied gegen heute vergegen-
wärtigen, so ßten wir uns vorstellen, daß der heutige Handelsverkehr vor-
nehmlich etwa Champagner, Seidenstoffe und ähnliche Artikel für den Bedarf
der besitzenden Klassen umfaßte. In Wahrheit zeigt ein Blick in die Uebersich-
ten des auswärtigen Handels jedes Großstaates, daß es andere: die » M a s -
s e n artikel« sind, welche die großen Zahlen ausmachen: Getreide England
hätte kein Brot, lieferte ihm das Ausland nicht hrlich für eine Milliarde Korn;
Kohlen und Eisen Italien hätte aus den Mitteln des eigenen Landes keine
Kohle im Ofen und kein eisernes Werkzeug; Baumwolle kein Kleidungs-
stück, wie es der moderne, europäische Arbeiter trägt, kann ohne die Versor-
gung des Marktes mit überseeischem Garne oder Baumwollrohstoff gefertigt
werden. Kein Baumwollfaden aber wird in der Wirtschaft versponnen und
verwebt, in der er geerntet wurde, kein Eisenerz von dem Bergwerksbesitzer ge-
schmiedet, der es der Erde abgewinnen ließ, nur ein winziger Bruchteil Kohlen
wird von der Zeche selbst verbraucht, aber auch von Getreide rechnet man, daß
mehr als die Hälfte der gesamten, gewaltigen Produktion der Welt von andern,
als denen, die das Land bebauen, verzehrt und über ein Fünftel unter den Natio-
nen ausgetauscht wird. Diesem Riesenaustausch solcher Güter dient die B ö r -
s e . Sie ist ein moderner M a r k t , ein Ort, wo, wie auf diesem in regelmäßi-
gen an den großen Börsen glichen Versammlungen K a u f geschäfte ab-
geschlossen werden. Worin unterscheidet sie sich von dem, was man gewöhn-
lich M a r k t nennt? Greifen wir den srksten Gegensatz einen kleinen lo-
kalen Lebensmittelmarkt einer Landstadt heraus. Auf diesem Markte verhan-
delt der Bauer regelmäßig selbst hervorgebrachte und an Ort und Stelle gegen-
wärtige Ware an einen ufer, der sie alsbald bezahlt und selbst verbrauchen
will; an der Börse wird ein Geschäft geschlossen über eine nicht gegenwärtige,
oft noch unterwegs befindliche, oft erst künftig zu produzierende
I. Zweck und äußere Organisation. 263
Ware, zwischen einem ufer, der sie regelmäßig nicht selbst behalten, sondern
(womöglich noch, ehe er sie abnimmt und bezahlt) mit Gewinn weitergeben will
und einem Verkäufer, der sie regelmäßig noch nicht hat, meist nicht selbst her-
vorbringt, sondern mit Gewinn erst beschaffen will. Das Getreide, das an einem
Tage an der Börse gehandelt wird, lagert zum guten Teil noch in den Speichern
Nordamerikas, oder schwimmt auf dem Ozean, und vom Käufer soll es seiner-
zeit weiter an die Mühlen und von diesen an die Bäcker gelangen. Auf dem
kleinen Markte handeln nur oder fast nur Produzenten und Verbraucher mitein-
ander. Auf der Börse handeln nur oder fast nur Kaufleute. Trotz dieser Unter-
schiede sind aber Börse und Markt wesensgleich, schon durch den gleichartigen
Zweck, dem sie dienen. Denn sie sind Orte, wo »Angebot« und »Nachfrage« in
einer Ware sich treffen sollen. Gehen wir wieder von dem kleinen Markte aus:
Auf der einen Seite stehen die Bauern, die Feldfrüchte zu verkaufen haben (An-
gebot) und Artikel der städtischen Handwerker kaufen wollen (Nachfrage) auf
der andern die städtischen Verzehrer, die Nahrungsmittel kaufen (Nachfrage)
und die Handwerker, die ihre Erzeugnisse verkaufen wollen und müssen (Ange-
bot). Diese ausgestreckten Hände müssen sich treffen nnen und dafür ist der
Markt unentbehrlich. Den gleichen Zweck hat die Börse. Nur ist der Umfang ein
unendlich viel gewaltigerer. Sie ist der Markt für die modernen Massenbedarfs-
artikel, in welchen fortgesetzt ein gewaltiges Angebot, und nach welchen eine
ebenso gewaltige Nachfrage stattfindet. Damit hängt auch jener Unterschied in
der Art der Vorgänge auf der Börse vom Markte zusammen. Will ich ein Haus
kaufen, so will ich nicht ein Haus im allgemeinen, sondern ich kaufe ein ganz
bestimmtes, bezeichnetes und will dies, kein anderes, auch wenn es ebenso viel
wert ist, übereignet erhalten; kaufe ich Fische ein, die ich verzehren will, so will
ich wenigstens sie mir vorher ansehen können auf ihre Preiswürdigkeit und dazu
sind sie auf dem Markt zugegen. Will dagegen eine Getreidefirma im Großhan-
del 1000 Ztr. einer bestimmten Getreidesorte kaufen, für die sie Verwendung zu
haben glaubt, so ist etwas ähnliches weder regelmäßig möglich, noch auch nötig.
Es kommt ihr im allgemeinen nur darauf an, das bestimmte Quantum Getreide
von einer bestimmten, vorher vereinbarten Sorte und Güte sei es nach einer
vorgelegten Probe, sei es eine im Handel gangbare und deshalb mit einer
Die Börse. 264
bestimmten Bezeichnung belegte Qualität zu erhalten. Sorte und Qualität also
wird vereinbart, der Verufer bringt nicht e r s t die Ware zur Stelle und ver-
kauft sie d a n n , sondern regelmäßig umgekehrt: e r s t verkauft er in
Blanko«, wie man zu sagen pflegt) und dann sucht er sich innerhalb der ver-
tragsmäßig ausbedungenen Zeit die Ware zu verschaffen, die er zur Erfüllung
des Vertrages braucht; zur festgesetzten Zeit liefert er sie: entspricht sie der ver-
abredeten Qualit, so nimmt sie der Käufer oder der, an den dieser sie weiter
verkauft hat, ab, ist das nicht der Fall, so weist er sie als nicht vertragsmäßig
(»nicht lieferbar«) zurück. So steht es mit all den Artikeln, die auf der Börse ge-
handelt werden. Braucht ein deutsches Handlungshaus einen Betrag russischen
Papiergeldes, um eine Schuld in Rußland zu bezahlen, so kommt es ihm nicht
auf gewisse Stücke an, wie dem, der ein Haus oder ein bestimmtes Reitpferd
kauft, sondern jede Rubelnote, wenn sie echt ist, tut ihm den gleichen Dienst:
es handelt sich bei den Börsengeschäften regelmäßig um wie man sich aus-
drückt »vertretbare« Sachen, d. h. solche, bei denen es nicht auf die Lieferung
bestimmter einzelner Gegenstände, sondern darauf ankommt, daß das vertrags-
mäßige Quantum von der vertragsmäßigen Sorte und Qualität geliefert wird.
Sehen wir uns nun zunächst die W a r e n näher an, welche den Gegenstand
des Verkehrs auf der Börse zu bilden pflegen. Man pflegt sie in zwei Haupt-
gruppen zu scheiden: »Produkte, Waren im engeren Sinne, einerseits und
Geldsorten, sowie Wechsel, »Effekte und »Fonds«, d. h. Wertpapiere ver-
schiedener gleich zu besprechender Art, andererseits, und man scheidet danach
die »Produktenbörse« von der »Effektenbörse«. Die Unterscheidung hat nur die-
selbe Bedeutung, als wenn man etwa Fisch-, Fleisch- und Gemüsemarkt unter-
scheidet. Beide nnen an ein- und demselben Orte stattfinden und gemein-
schaftlich organisiert sein, so z. B. in Berlin und Hamburg. Oder sie nnen an
verschiedenen Orten stattfinden – so in Paris und London. Es können auch beide
Hauptabteilungen wiederum geteilt sein, z. B. die Effektenrse in eine Börse
für Wechsel und eine solche für andre Wertpapiere, so in London, und die Pro-
duktenbörse in besondere rkte für Getreide, Zucker, Eisen, Schmalz usw.
so vielfach in Amerika. Es werden endlich überhaupt nicht an jeder Börse alle
oder viele »börsengängigen« Waren und Papiere gehandelt, sondern naturgemäß
oft nur oder
I. Zweck und äußere Organisation. 265
ganz überwiegend die, welche in der betreffenden Gegend produziert oder durch
den betreffenden Hafenplatz hindurch ein oder ausgeführt werden: wie in den
Seestädten der Fischmarkt; so besteht in Essen, im westdeutschen Kohlenreviere
eine Börse, an welcher nur Kohlen und Anteile an Bergwerken gehandelt wer-
den, in Magdeburg, inmitten der Zuckerrüben bauenden Provinz Sachsen eine
solche für Zucker. Nur an den großen zentralen Börsen konzentriert sich der
Verkehr in a l l e n Haupthandelsartikeln.
An der P r o d u k t e n b ö r s e begegnen wir zunächst dem G e t r e i -
d e und den Feldfrüchten aller Art, nebst den unmittelbar daraus gewonnenen
Produkten, insbesondere Mehl. Der größte Markt dafür ist in Deutschland nächst
der Berliner Börse Mannheim, bis wohin das überseeische Getreide rheinauf-
wärts verschifft wird. Ferner: Z u c k e r die größten Märkte sind mit Berlin,
wie schon erhnt, Magdeburg und Hamburg (Ausfuhrhafen) und S p r i t
Berlin und Hamburg (Ausfuhrhafen) teilen sich in den Markt; P e t r o -
l e u m : Bremen (Einfuhrhafen), teilt sich mit Berlin; B a u m w o l l e :
ebenso; W o l l g a r n e , besonders K a m m g a r n e : Leipzig (Produkti-
onsort) spielt eine erhebliche Rolle; K a f f e e : Für ihn ist Hamburg (Ein-
fuhrhafen) der größte Handelsplatz; – K o h l e und E i s e n : die Märkte der
westlichen Produktionsgegenden sind von entscheidender Bedeutung, und vie-
le andere nicht so wichtige Artikel, deren Aufzählung zu weit führt. Im E f -
f e k t e n h a n d e l drängt sich der Verkehr natürlich an den Orten zusam-
men, welche der Sitz der großen Bankhäuser sind: in Deutschland haben neben
Berlin nur Frankfurt a. M. und Hamburg große Bedeutung.
Wir müssen uns die Gegenstände, die an der Effektenbörse ge- und verkauft
werden, näher ansehn.
Es werden gehandelt: 1. Geldsorten und geldwerte Papiere, welche unsere In-
dustriellen und Kaufleute als Zahlung aus dem Ausland erhalten und zur Lei-
stung von Zahlungen an das Ausland gebrauchen. Dahin gehören natürlich zu-
nächst die Münzen und das Papiergeld fremder Staaten (namentlich das Papier-
geld Rußlands), aber auch eins der ältesten Objekte des Börsenhandels, der
W e c h s e l , gehört dahin. Was ist er?
Man sieht ihm seiner Form nach nicht an, was er rechtlich bedeutet. Die wich-
tigste Form des Wechsels, die sog. »Tratte« oder
Die Börse. 266
der »gezogene« Wechsel, stellt sich dar als die Anweisung z. B. eines Kauf-
manns Schulze in Berlin, gerichtet z. B. an einen Kaufmann Smith in London,
eine bestimmte Summe an einem bestimmten Tage zu zahlen an einen Dritten,
Herrn Müller in Berlin, oder an dessen »Order«, d. h. an denjenigen, welchem
der Wechsel durch Müller gültig übertragen sein werde
1)
. Rechtlich bedeutet er
aber nichts anderes als: Schulze v e r s p r i c h t dem Müller und dessen »Or-
der« dar aufzukommen, daß Smith die bestimmte Summe zur bestimmten Zeit
zahlen werde, und sein weitaus wichtigster praktischer Zweck der, zu dem er
schon vor etwa 700 Jahren gebraucht wurde – ist folgender: Schulze in Berlin ist
Exporteur, er hat deutsche Waren nach London an den englischen Importeur
Smith verkauft und nun den Kaufpreis (sagen wir 100 £) zu fordern. Müller in
Berlin ist Importeur. Er hat englische Waren von einem englischen Exporteur
Jones in London gekauft und eingeführt, schuldet also diesem den Kaufpreis
(nehmen wir der Einfachheit halber an: ebenfalls 100 £). Der gegenseitige Ver-
kehr zwischen Deutschland und England beträgt Hunderte von Millionen Mark
an Wert im Jahr, es gibt Tausende von jeder der vier Personenarten, die wir mit
Schulze, Smith, Müller und Jones bezeichnet haben. Würden die Kaufpreise alle
in bar bezahlt, so müßten unglaubliche Summen Geldes – mehrere Tausend
Zentner in Gold hin- und hergeschickt werden, was unsinnige Kosten machen
und das Geld der Seegefahr aussetzen, auch für die Dauer der Reise dem Ge-
brauch entziehen würde. Deshalb verfährt man wie folgt: Schulze in Berlin, der
von Smith in London Geld zu empfangen hat, »zieht« einen Wechsel über 100 £
»auf« Smith, d. h. er weist ihn an, an Müller oder dessen »Order« zu zahlen.
Diesen Wechsel gibt er an Müller in Berlin, der an Jones in London Geld zu
zahlen hat, und verpflichtet sich dadurch, dem Müller dafür aufzukommen, daß
Smith an ihn oder an den zahlen werde, der seine Order sein werde. Müller zahlt
ihm dafür die 100 £
2)
aus und schickt den Wechsel an seinen Gläubiger Jones in
London, indem er diesen auf dem Wechsel als seine »Order« bezeichnet die-
sen Vermerk auf dem Wechsel nennt man »Giro« oder »Indossament«. Jones in
London zieht
1)
Z. B: »An Herrn Smith in London. Gegen diesen Wechsel zahlen Sie am 1. Juli 1895 an
Herrn Müller in Berlin oder Order die Summe von 100 Pfund Sterling. Berlin, den 1. April
1895. Schulze.«
2)
Auf die Abzüge (»Diskont«), welche gemacht zu werden pflegen, und die Kursschwan-
kungen der Wechsel kommen wir im zweiten Teil.
I. Zweck und äußere Organisation. 267
die Wechselsumme bei Smith in London ein und kommt durch diese Zahlung zu
seinem Gelde – Schulze hat das Seinige als Kaufpreis für die Hingabe des
Wechsels von Müller erhalten: das Geschäft ist »abgewickelt«
1)
. Alle die Schul-
zes (Gläubiger englischer Schuldner, also Verkäufer von Wechseln »auf« Lon-
don) und die Müllers (Schuldner englischer Gläubiger, also Käufer von Wech-
seln »auf« London) unsres Beispiels, treffen sich nun auf dem großen Markt, wo
jederzeit große Beträge »auf London« zu kaufen und zu verkaufen sind – auf der
W e c h s e l b ö r s e . Sie k ö n n e n s i c h n u r d o r t mit Sicherheit
gegenseitig finden. Ebenso vollzieht sich das Geschäft mit den übrigen ndern,
mit denen wir im Güteraustausch stehen. Fortwährend findet der Handel in
Wechseln auf London, auf Paris, auf Petersburg, auf Neuyork usw. in gewalti-
gen Summen statt und dieser Handel ist unentbehrlich. Bei etwa 3 Milliarden
Mk. in gemünztem Geld und Geldscheinen, die in Deutschland im Umlauf sind,
laufen über 13 Milliarden in Wechseln jährlich um.
2. Zweitältester Gegenstand des Handels an der Fondsbörse sind die »Fonds«
im engeren Sinne des Wortes: die Staatspapiere und die ihnen verwandten
Schuldverschreibungen der Gemeinden und andrer öffentlicher Korporationen.
Daß Staat und Gemeinde heutzutage fast ausnahmslos Schulden machen, ist
bekannt: Das Reich und die deutschen Staaten zusammen haben rund 8
1
/
2
Milli-
arden, England, ohne seine Kolonien, 15 Milliarden, Frankreich 20 Milliarden
Mk. Staats-Schulden, und diese Schulden müssen den Gläubigern des Staates
v e r z i n s t werden. Die Verschuldung eines Staates ist heute nicht etwa an
sich ein Unglück, ein Zeichen schlechter Verwaltung oder mangelnden Reich-
tums. Wenn ein Staat eine große Eisenbahn ankauft oder baut für sagen wir
50 Millionen Mark, so wäre es weder gerecht noch versndig, wenn er diesen
Betrag durch eine Steuer, im Durchschnitt z. B. in Deutschland von 1 Mk. pro
Kopf, aufbringen würde. Nicht nur der lebenden Generation dient und nützt die
Bahn, und nicht nur der jetzige Finanzminister
1)
Es sei denn, daß Smith dem Jones aus irgendeinem Grunde den Wechsel nicht zahlt, in
welchem Falle Jones »Regreß« gegen Müller und dieser gegen Schulze nimmt. Schulze wird
dann genötigt, Kostenersatz und Zahlung nebst Zinsen an ller zu leisten und hält sich sei-
nerseits an seinen Schuldner Smith, der ohne Grund nicht gezahlt hat. Dann ist der Versuch,
das Geschäft durch Wechsel abzuwickeln, mißglückt, es ist dies aber selbstverständlich die
seltene Ausnahme.
Die Börse. 268
heimst die Einnahmen daraus ein. Deshalb ist es richtig, daß wir dafür auch die
Nachkommen steuern lassen, das geschieht, indem das Geld geliehen, verzinst
und allmählich in längeren Zeiträumen aus den Steuern zurückbezahlt wird. Die
Steuerlast dafür wird dadurch auf Gegenwart und Zukunft verteilt. Preußen hätte
z. B. die 5 Milliarden, welche es innerhalb von 10 Jahren für den Ankauf von
Bahnen ausgab, sonst etwa durch jährlich 500 Millionen besondere Steuern dek-
ken müssen und das re ein richter und unmöglicher Versuch gewesen. Et-
was anderes und eine schlechte Finanzwirtschaft ist es, wenn ein Staat für Be-
dürfnisse, die ständig wiederkehren, die Bezahlung seiner Beamten und seines
Heeres z. B., fortgesetzt Geld leiht: dann schiebt die lebende Generation auf die
Nachkommen Lasten ab, die sie selbst tragen muß: der Staat wirtschaftet mit ei-
nem Defizit, welches die Nachkommen bezahlen sollen. Das Leihen des Gel-
des r jene Staatsbedürfnisse nun bewirkt der Staat und ähnlich verfahren
Kreise, Gemeinden usw. durch Verkauf von Schuldverschreibungen, in denen
der Staat die Zahlung bestimmter Zinsen 3, 3
1
/
2
, 4 usw. Prozent einer Schuld-
summe an bestimmten Zahlungsterminen (z. B. 1. Januar und 1. Juli) ver-
spricht an jeden, der zu der betreffenden Zeit als Inhaber der Schuldverschrei-
bung sich melden und ausweisen werde
1)
. Wer den Besitz der Schuldverschrei-
bung rechtmäßig durch Kauf usw. erwirbt, wird also Staatsgläubiger. Die
Schuld zurückzuzahlen verspricht der Schuldner (Staat, Gemeinde usw.) entwe-
der nach einem bestimmten Plan, so daß jährlich eine Anzahl Nummern der
Schuldscheine ausgelost und zurückbezahlt (»amortisiert«) werden, oder er be-
hält sich nur das R e c h t vor, sie zu kündigen, übernimmt aber k e i n e
entsprechende Pflicht so ist es bei unsern Reichs- und preischen Anleihen
(sog. »Konsols«). Der Staat (resp. die Gemeinde usw.) kann das, denn den Be-
sitzern der Schuldverschreibungen liegt gar nichts daran, ihr Geld zurückzuer-
halten, sie wollen vielmehr die Z i n s e n beziehen, sie sind Mitglieder der
besitzenden Klassen, welche auf diese Weise »ihr Vermögen anlegen«, das
heißt, sich das Recht auf den Bezug eines T r i b u t e s sichern von den mit
diesen
1)
Meist werden zur Erleichterung sogenannte Kupons d. h. Abschnitte mit ausgegeben,
von welchen man je einen zu den Fälligkeitsterminen abschneidet und dagegen die Zinsen er-
hebt, so daß man nicht die Schuldverschreibung selbst vorzuweisen braucht.
I. Zweck und äußere Organisation. 269
Zinsen Belasteten, also hier den Steuerzahlern des Staates oder der Gemeinde,
welche die Zinsen der Staats- und Gemeindeschuld durch Steuern aufbringen.
Und ebenso ist es mit den »Obligationen«, welche Eisenbahnen oder Fabrikun-
ternehmer ausgeben. Krupp z. B. gab kürzlich 24 Millionen Schuldverschrei-
bungen aus zum Ankauf einer Konkurrenzfabrik, und massenhaft sind die Obli-
gationen von Eisenbahnen und Aktiengesellschaften. Die Zinsen werden hier
aufgebracht von den Benutzern der Bahn: in den Frachten, den Käufern der Wa-
ren: in den Preisen, endlich indem ein Teil dessen, was das Unternehmen ein-
trägt, nicht an die Unternehmer als Gewinn und an die Arbeiter als Lohn, son-
dern eben an die Tributberechtigten abfließt. Jene alle werden »besteuert« zur
Bestreitung des K a p i t a l zinses.
Diese modernen Tributpflichten sind das Produkt einer langen Entwicklung.
Einst war der Zins das Zeichen der Unfreiheit. »Unter Brüderlieh man nicht
gegen Zins. Ihn nahm der fremde Eroberer als Kopfzins von der Person, als Bo-
denzins vom Lande, oder der Herr des Bodens von dem Besitzlosen und deshalb
nicht Vollfreien, dem er Land lieh. Der Bodenbesitz ist die älteste Quelle von
Zinsrechten. Heute ist er es zwar auch noch: zumal die Mietszinsen in den Städ-
ten zeugen davon, allein mächtiger ist jetzt jener andere Tributherr. Seine Ei-
genart ist es, »unpersönlich« zu sein. Der Zinsbauer steuerte seinem Grundherrn,
der ihn persönlich beherrschte und den er kannte, heute kennt der Besitzer zins-
tragender Papiere diejenigen nicht, deren Einkommen für ihn besteuert wird,
und der Gutsbesitzer, der von einer Hypothekenbank Geld gegen Verpfändung
seines Grundstücks dargeliehen erhält, kennt die nicht, welche dieser Bank das
von ihr so verwendete Geld darleihen und dagegen »Pfandbriefe«, d. h. zinstra-
gende Urkunden erhalten, für welche die Gesamtheit der der Bank zinspflichti-
gen und verpfändeten Grundstücke weiter verpfändet ist. Die U n p e r s ö n -
l i c h k e i t der Beziehungen zwischen Zinsherrn und Zinspflichtigen ist das
Charakteristische dieser heutigen Tributpflichten. Deshalb spricht man von der
Herrschaft des »Kapitals« und nicht von derjenigen der Kapitalisten. Wer sind
nun die Inhaber dieser Papiere, an welche das Recht auf den Zinstribut geknüpft
ist? Das kommt auf die soziale Struktur und Vermögensverteilung innerhalb des
einzelnen Volkes an und man muß sich hüten, zu glauben, sie seien m i t
N o t w e n d i g k e i t an eine dünne Schicht »kupon-
Die Börse. 270
schneidender Faulenzer« gebunden. In Frankreich z. B. reicht der Besitz von
Staatsschuldverschreibungen und ähnlichen Papieren bis in Volksschichten,
welche derartige Papiere bei uns nie zu Gesicht bekommen. Das hat seinen
Grund teils in dem Bestehen einer weit breiteren Schicht eines immer noch
wohlhabenden Bauernstandes, als wir sie bei uns finden, unleugbar aber auch in
der bei den Franzosen üblichen Einschränkung der Kinderzahl (»Zwei-Kinder-
System«), welche den Zerfall der Vermögen durch Erbteilung hindert, freilich
zweifellos andererseits die Gefahr schwerer sittlicher Schäden in sich tgt
1)
. In
Deutschland rechnet man, bei ca. 11 Millionen Familien mit 50 Millionen Köp-
fen, daß ca. 10 Millionen Personen Sparkassenbücher besitzen, zwischen 2
1
/
2
-4
Millionen Kapitalzins in irgendeiner Form beziehen und von diesen 1
1
/
2
-2 Mil-
lionen solchen in Form von Wertpapierzinsen oder »Dividenden« einnehmen.
Damit haben wir die zweite Hauptform des Tributes an das »Kapital«, die »Di-
vidende«, schon erwähnt. Wir müssen auch sie etwas her betrachten. Einen
anderen Charakter mlich als jene bisher betrachteten »Obligationen«, welche
G l ä u b i g e r - Rechte darstellen, haben die A k t i e n und die ihnen ähnli-
chen Werte (Bergwerksanteile: sog. »Kuxe«, Schiffsanteile: sog. »Schiffspar-
ten« usw.). Sie bedeuten A n t e i l rechte an einem Unternehmen (Eisenbahn,
Fabrik usw.). Das geschichtlich Ursprüngliche ist, daß z. B. die »Gewerken«,
denen ein Bergwerk gemeinschaftlich gehört, selbst den Abbau der Erze durch
gemeinschaftliche Arbeit besorgen, die Reeder, denen ein Schiff gehört, alle
oder zum Teil die Fahrt persönlich mitmachen. Später, als der Besitz eines gro-
ßen Schiffes oder der planmäßige Betrieb eines Bergwerks die Aufbringung be-
deutender Mittel forderten, schieden sich die Besitzenden allmählich von den
Arbeitenden (jetzt: gedungenen Lohnarbeitern). Die anteilsberechtigten Gewer-
ken allein beschließen heute über die Angelegenheiten des Betriebes; von ihnen
erhält ein jeder auf seinen Kux anteilsweise das, was über den Arbeitslohn und
den sonstigen Bedarf für den Bergwerksbetrieb an Einnahme eingeht, als »Aus-
beute« verteilt, und wenn die Einnahmen die Aus-
1)
Auch in England besitzen Arbeiter nicht selten zinstragende Papiere, dort sind es die
großen Gewerkvereine der Trade Unions in Verbindung mit den günstigen Produktionsbedin-
gungen der englischen Industrie und namentlich der Weltmachtstellung des Staates zur
See, welche einem Teil der Arbeiter Löhne sichern, die unter Umständen eine Vermögensan-
sammlung gestatten.
I. Zweck und äußere Organisation. 271
gaben nicht decken, muß jeder anteilsweise »Zubuße« zahlen oder seinen Anteil
zugunsten der anderen aufgeben
1)
.
Etwas anders steht es mit der A k t i e n gesellschaft, einer Form der Verei-
nigung von Kapitalisten, welche in großem Umfang in Deutschland zuerst für
den Eisenbahnbau und -betrieb benutzt wurde, seither aber für Unternehmungen
aller Art Verwendung findet. Der Gesellschafter, »Aktionär«, leistet für seinen
Anteil nur e i n e n b e s t i m m t e n Beitrag, regelmäßig in bar, er ist also
nicht im Falle des Verlustes zu Nachzahlungen verpflichtet, wie der Gewerke.
Die Summe dieser Beiträge verwendet der (regelmäßig von der »Generalver-
sammlung« der Aktionäre zu wählende) Vorstand der Gesellschaft, um damit z.
B. eine Bahn zu bauen, oder eine Fabrik anzukaufen usw., welche dann vom
Vorstand für Rechnung der Aktionäre betrieben wird oder aber es überträgt ei-
ner der Gesellschafter der neu zu »gründenden« Gesellschaft seine Fabrik, die er
bisher betrieb, nach einem verabredeten Geldanschlag als »Einlage« und erhält
dafür nach Vereinbarung eine bestimmte Anzahl Anteile, Aktien also, hrend
die anderen für ihre Anteile Geld einzahlen. Braucht die Gesellschaft noch mehr
Geld und will sie nicht noch mehr neue Aktionäre zuziehen »junge Aktien«
ausgeben so macht sie Schulden. Sie kann solche namentlich machen, indem
sie verzinsliche »Obligationen« Schuldverschreibungen ausgibt. Unbewan-
derte können nun die Aktien leicht mit diesen verwechseln. Auch die »Aktien«
sehen mlich äußerlich einer Schuldverschreibung ähnlich, denn eine jede lau-
tet über einen Geldbetrag, z. B. über 1000 Mk., das bedeutet aber n i c h t ,
wie bei den Obligationen, daß der Aktionär diese 1000 Mk. von irgend jeman-
dem als Gläubiger zu f o r d e r n hat, sondern vielmehr nur, daß er soviel in
Geld oder in anderen »Einlagefür die Gesellschaft geleistet hat, daß er also
soviel bar Geld eingezahlt hat, oder ihm z. B. die Fabrik, die er einlegte, so hoch
angerechnet worden ist. Zu f o r d e r n hat er, solange die Gesellschaft be-
steht, nur seinen Anteil an ihrem Gewinn, die »Dividende«, und diese natürlich
nur, wenn die Gesellschaft einen Gewinn gemacht, d. h. seit Aufstellung der
letzten Abrechnung
1)
Der Besitz eines Kuxes welcher übertragbar ist –, ist also für den Geldbeutel des In-
habers eine ähnlich riskante Sache wie das Arbeiten unter Tage für das Leben des Arbeiters:
große Ausbeute wechselt mit der Verpflichtung nachzuzahlen.
Die Börse. 272
»Bilanz« ihr Vermögen vermehrt hat. Im übrigen hat er einen verhältnismä-
ßigen Anteil an ihrem Vermögen und erhält also, wenn sich die Gesellschaft
auflöst, »liquidiert« diesen Anteil, der mehr oder weniger betragen kann, als
jene 1000 Mk., oder auch gar nichts, je nachdem die Gesellschaft bis dahin Ge-
winn oder Verlust hatte oder etwa nach Abzahlung der Schulden, die sie ge-
macht hat, nichts oder gar noch weniger als das unbezahlte Schulden
verblieben sind. Denn wie für den einzelnen Geschäftsmann, wenn er sein Ge-
schäft aufgibt, an Vermögen nur etwas übrigbleibt, nachdem er seine Gläubiger
bezahlt hat, so muß auch die Gesellschaft der Aktionäre ihre Gläubiger erst be-
friedigen, ehe sie etwas für sich selbst behält. Man nennt deshalb die Schuldver-
schreibungen der Aktiengesellschaften auch »Prioritäte d. h. vorgehende
Rechte weil die Rechte der Gläubiger (selbstverständlich) zuerst kommen und
dann die der Aktionäre. Damit nun für die Gläubiger etwas da sei, ist den Akti-
engesellschaften gesetzlich verboten, ihr Vermögen durch Verteilung von an-
geblichem Gewinn unter die Aktionäre unter den Betrag des »Grundkapitals«, d.
h. desjenigen Wertbetrages zu vermindern, auf welchen es durch die Einzahlun-
gen und Einlagen der Aktionäre gebracht war. Sind 100 Aktien über je 1000
Mk. ausgegeben, so bedeutet das, daß auf jede Aktie, in Geld oder anderen
»Einlagen« mindestens ein Wert von 1000, zusammen mindestens 100 000 Mk.
zusammengebracht war. Bei der »Bilanz« muß also, wenn man das Eigentum
der Gesellschaft, z. B. das Fabrikgrundstück und die Maschinen usw., die vor-
handenen Waren, Forderungen, Gelder usw. der Gesellschaft, alles in Geld ver-
anschlagt, zusammenrechnet die »Aktiva« – und dann die Schulden die
»Passiva« abzieht, sich ein Mehrbetrag der »Aktiva« über die »Passiva« von
mindestens 100 000 Mk. ergeben, sonst hat die Gesellschaft Verlust erlitten, und
erst wenn mehr als 100 000 Mk. Vermögen da ist, darf dies Mehr als »Dividen-
de« verteilt werden. Leicht kann durch falschen (zu hohen) Wertanschlag der
Vermögensgegensnde in der Bilanz dieser Vorschrift zuwidergehandelt und
fälschlich der Schein der Deckung des »Grundkapitals« erweckt werden, damit
zu Unrecht eine Dividende verteilt werde, obwohl gar kein Gewinn gemacht ist,
und die Aktien als hohen Wertes erscheinen und von Käufern teuer bezahlt wer-
den
1)
). Oefter noch kam es in der »Gründerzei
1)
Es ist deshalb auch ein Irrtum zu glauben, die Aktionäre wenigstens hätten
I. Zweck und äußere Organisation. 273
vor
20 Jahren vor, daß die »Gründer«, d. h. die ersten Aktionäre, wenn dies un-
solide Bankhäuser waren, welche ihre Aktien gern bald an das Publikum mög-
lichst über ihren wahren Wert loszuschlagen wünschten, Fabriken usw., welche
die Aktiengesellschaft übernahm, zu teuer bezahlten, indem sie mit dem bisheri-
gen Besitzer unter einer Decke spielten. Alles dies wird erleichtert durch den
auch hier » u n p e r s ö n l i c h e n « Charakter des Kapitals. Der einzelne Ak-
tionär hat in die Führung der Geschäfte nicht hineinzureden, er hat, wenn ein
Bergwerk oder eine Fabrik auf Aktien betrieben wird, mit den Arbeitern nichts
zu tun, sie kennen ihn sowenig wie er sie, er bekommt die Bücher nicht zu se-
hen, sondern erhält nur in der Generalversammlung Berichte vom Vorstand vor-
getragen; meist beruhigt sich die Mehrzahl der Aktionäre und erscheint auch
dort nicht einmal. Die Anteile sind (regelmäßig) durch einfache Uebertragung
des Papiers der Aktie) übertragbar und gehen von Hand zu Hand: Die Aktionäre
kennen auch einander gegenseitig nicht. Und doch sind sie Mitinhaber desselben
Unternehmens und für die wechselnden Aktionäre arbeiten unter Umständen
Tausende von Arbeitern, denen sie niemals im Leben begegnen und auf deren
Lage sie, die eigentlichen Unternehmer, deren Vertreter nur der leitende »Direk-
tor« ist, so gut wie keinen Einfluß haben, für die sie sich jedenfalls, auch ohne
irgend besonders gewissenlose Menschen zu sein, regelmäßig schwerlich ver-
antwortlich fühlen werden. Noch immer ist diese Form der Unternehmung in
starker Zunahme begriffen und für g r o ß e Betriebe, die gewaltiger Mittel
bedürfen, regelmäßig h e u t e völlig unentbehrlich, denn Ansammlungen von
Vermögen in einer Hand, wie bei Krupp und Stumm sind seltene Ausnahmen.
Für Betriebe solchen Umfangs m ü s s e n die Mittel vielmehr regelmäßig
durch Einlagen einer sehr großen Zahl von Leuten aufgebracht werden, welche
gar nicht in der Lage sind, ihre persönliche Mitarbeit dem Betrieb zu widmen,
auch gar nichts davon verstehen würden, sondern nur das Interesse haben, Tribut
in Gestalt von Dividende zu beziehen. Und auch hier wieder mman sich hü-
ten zu glauben, daß die
regelmäßig ein bedeutendes Interesse an der richtigen Bilanzaufstellung. Das hat nur ein Teil:
derjenige, welcher die Aktien d a u e r n d als »Kapitalanlage« behalten will. Dem andern
bringt eine fälschlich zu hohe Dividende doppelten Vorteil: einmal bekommt er mehr Ge-
winnanteil, als ihm zukäme, und dann findet er auch noch Käufer, die infolge der hohen Divi-
dende die Aktien ihm teurer abnehmen, als sie sonst tun würden.
Die Börse. 274
Besitzer von Aktien etwa n o t w e n d i g hauptsächlich in den Kreisen der
»Großkapitaliste zu suchen ren. In England besitzen auch Arbeiter Aktien,
bei uns und unsern weit kärglicheren Reichtumsverhältnissen besteht gerade die
Gefahr, daß zuviel Aktien in die Hände von Leuten gespielt werden, die nicht
viel zu verlieren haben, aber durch gelegentliche hohe Dividenden, von denen
sie lesen oder hören, oder sonstige Reklamen angezogen werden und meinen,
weil auf der Aktie z. B. »1000 Mk.« steht, komme ihnen doch wohl irgendwer
dafür auf, daß sie diese 1000 Mark irgendwann von irgendwoher erstattet erhal-
ten.
Das sind die Hauptformen der eigentümlichen Ware, welche den Gegenstand
des Marktverkehrs an den »Effektenbörsen« bilden. Man sieht, es sind verbriefte
T r i b u t b e r e c h t i g u n g e n , und die moderne Organisation der Wirt-
schaft führt dazu, daß eine immer steigende Zahl von solchen entsteht und »in
Umlauf gesetzt« wird. Der Ingenieur eines Elektrizitätswerkes hilft z. B. durch
seine Arbeit den Dividendentribut aufbringen, an welchem etwa der Prokurist
einer Papiermühle als Aktionär Anteil hat und besitzt vielleicht selbst Aktien
dieser Papiermühle, so daß ihm umgekehrt auch die Arbeit dieses abgabepflich-
tig ist, und beide besitzen vielleicht Staatspapiere und besteuern so die Gesamt-
heit der Steuerzahler einschließlich derer, die ihrerseits solche Tribute nicht in
Händen haben, der »Besitzlosen«. Unter der heutigen Wirtschaftsordnung würde
eine solche gegenseitige Tributpflichtigkeit auch stattfinden, wenn wir einmal
uns vorstellten, daß a l l e Vermögen in gleicher oder annähernd gleicher Hö-
he besäßen: dann steuerten alle an alle, jetzt alle an einen Teil, an die Besitzen-
den. Die gegenseitige Tributpflichtigkeit a n s i c h ist kein notwendiges
Zeichen dafür, daß wenige Tributherren und viele Tributpflichtige einander ge-
genüberstehen. Das Bestehen des Zinses und der Dividende a n s i c h ist
vielmehr nur ein weiterer Ausfluß der modernen »Verkehrswirtschaft«, welche
auf der Eigentümlichkeit aufgebaut ist, daß jeder fortgesetzt von dem Ertrage
der Arbeit anderer existiert und selbst für den Bedarf anderer arbeitet. Der große
Gutsherr der Karolingerzeit, welcher ausnahmslos alles, was er bedurfte: Ge-
spinste, Gewebe, Eisengeräte usw. auf seinem Gut mit seinen hörigen Handwer-
kern anfertigen ließ er und diese seine Untertanen waren noch berechtigt zu
sagen »Wir, die Gutsinsassen, leben von dem Ertrage u n s r e r Arbeit
I. Zweck und äußere Organisation. 275
aus unserm Boden und nur von diesem und kein anderer lebt mit davon.« Der
moderne Rittergutsbesitzer mit seinen Arbeitern auch der größte kann das
Gleiche nicht mehr behaupten: Ställe und Wohnungen bauten Fremde aus frem-
dem Material, das Ackergerät ist gekauft, ja selbst der Boden ist nicht mehr die
naturgewachsene Erde, sondern mit hereingeführtem, künstlichem Dünger, Kali,
Phosphaten usw., Produkten fremder Arbeit, bereichert. Diese fremde Arbeit
muß entgolten werden und wird entgolten und zwar unter unsrer heutigen Orga-
nisation in Gestalt einer »Kapitalrente«, des Zinses, den der Hypothekengläubi-
ger, von dem das Geld entliehen war, bezieht. Das ist z. B. oft die Sparkasse,
welche die Gelder der kleinen Leute, die sie ihnen verwaltet und für die sie Zins
zahlt, gegen Grundstückpfand darleiht, und es zinst also der Grundherr dem Pro-
letarier. Meist freilich zinst er städtischen Bürgern. Er erntet mehr Getreide
aus dem Gut, aber er sitzt nicht mehr auf freier Scholle, er ist angebunden und
verflochten in die Wirtschaftsgemeinschaft der Welt draußen. Und noch weit
mehr ist es der Fabrikant, der die Rohstoffe, welche Fremde erarbeiteten, zu de-
ren Ankauf er oft wenigstens zum Teil fremdes Geld entleiht, durch »seine« Ar-
beiter verarbeiten läßt und dann davon abhängt, daß andre sie brauchen können
und ihm hoch genug bezahlen wollen. Es ist menschlich, daß er meint, das Pro-
dukt sei s e i n Produkt, der Gewinn s e i n Gewinn, die Fabrik s e i n e
Fabrik und da er ein freier Mann sei, habe ihm eigentlich niemand, auch nicht
der Staat, hineinzureden: in Wahrheit ist es die G e m e i n s c h a f t , deren
Arbeit er braucht, nur ein winziger Bruchteil des von ihm »geschaffenen« Wer-
tes enthält »sein« Produkt und wiederum ist es die Gemeinschaft, deren Bedarf
nach Waren der von ihm zu Markte gebrachten Art das Gebot ist, welches ihm
die Arbeitsstellung zuweist, welche er einnimmt, und dem er gehorchen muß,
will er etwas »verdienen«.
Eine sozialistische Organisation würde alle einzelnen je an einen Faden bin-
den und diese Fäden in der Hand einer Zentralleitung zusammenlaufen lassen,
welche nun jeden einzelnen dahin dirigieren würde, wo sie ihn nach dem M
ihrer Kenntnis am zweckmäßigsten verwenden zu nnen glaubt. Die heutige
Organisation bindet jeden mit zahllosen Fäden an zahllose andere. Jeder zerrt an
dem Fadennetz, um an die Stelle zu gelangen, wohin er möchte und wo er an
seinem Platz zu sein glaubt, aber
Die Börse. 276
selbst, wenn er ein Riese ist, und viele der Fäden in seiner Hand zusammenfaßt,
wird er vielmehr von den andern dorthin gezerrt, wo gerade ein Platz für ihn of-
fen ist.
Doch zurück zu unserm Thema.
Fortgesetzt entstehen neue Bedürfnisse von Staaten, Gemeinden, Grundbesit-
zern, Fabrik- und Eisenbahngesellschaften, Geld gegen Verkauf von zins- oder
dividendetragenden Papieren »aufnehmen« zu nnen. Fortwährend sind ande-
rerseits zahlreiche Personen in der Lage, ihr Geld in solchen »anlegezu kön-
nen. Ein immer steigender Teil des Volksvermögens wird in solchen Tributrech-
ten zum Ausdruck gebracht und in Umlauf gesetzt. Man rechnet das deutsche
Volksvermögen, d. h. die Summe der einen Ertrag irgendwelchen Art gewäh-
renden Güter in Deutschland, in Geld veranschlagt, zu etwa 180 Milliarden
Mark und die bisher vorliegenden Berechnungen machen wahrscheinlich, daß
3
/
7
davon in zins- oder dividendetragenden Rechten, Hypotheken, Aktien, Obliga-
tionen aller Art bestehen. Jährlich wird etwa 1 Milliarde (1000 Millionen) Mark
neu erspart und zur »Anlage« verfügbar. Für mehr als die lfte dieser riesen-
haften Beträge alle die, welche die Form der oben beschriebenen Wertpapiere
angenommen haben bildet die Effektenbörse den Markt, wo sie angeboten und
gekauft werden, wie die Lebensmittel auf den Lebensmittelmärkten. Man sieht
zugleich die Unentbehrlichkeit und die Riesenhaftigkeit dieses Marktes. –
Wie ist nun dieser Markt, die Produkten-, Wechsel-, Effektenbörse, zu-
nächst äußerlich organisiert? Die ältesten rsen, in den Niederlanden im 15.
Jahrhundert, waren einfach internationale Versammlungen von Kaufleuten, wel-
che dorthin reisten und ihre Waren veräußerten. Allmählich aber kam das Reisen
der Händler als Zeitverschwendung ab, man sandte seine Kauf- und Ver-
kaufsaufträge durch Korrespondenz an den Börsenplatz hin, wie noch heute, und
es bildete sich eine Klasse von Kaufleuten, welche aus der Besorgung dieser
Aufträge einen Beruf machten und daneben selbst für ihre eigene Rechnung an
der Börse handelten ein Stand b e r u f s m ä ß i g e r B ö r s e n h ä n d -
l e r . Diese vereinigen tatsächlich in ihrer Hand den Geschäftsbetrieb an der
Börse. Dies einfach deshalb, weil sie allein den »Mark k e n n e n , glich
jahraus jahrein damit zu tun haben und wissen, oder doch vermuten können,
welche Waren und Papiere voraussichtlich besonders begehrt oder billig
I. Zweck und äußere Organisation. 277
zu haben sein werden. Nicht weil das Gesetz sie privilegierte, sondern d e s -
h a l b haben sie eine monopolartige Stellung, weil jeder andere, auch wenn er
sich auf die Börse begibt und man ihn am Verkehr teilnehmen läßt (z. B. in Paris
und Hamburg ist die Börse jedem ausnahmslos zugänglich), schwerlich durch
Beteiligung am Geschäft Vorteil zu ziehen oder auch nur rein äußerlich sich
über die Art des Geschäftsschlusses zu informieren wissen, sondern vielmehr
sich ziemlich »von Gott verlassen« vorkommen wird. Denn dieser Riesenmarkt
ist selbstverständlich auch ebensoviel komplizierter als ein gewöhnlicher Wo-
chenmarkt, als er größer ist. Im allgemeinen ist vielmehr derjenige, welcher
nicht b e r u f s m ä ß i g Börsenhändler ist, wenn er an der Börse kaufen oder
verkaufen will, darauf angewiesen, sich an einen Börsenhändler zu wenden, da-
mit dieser als » K o m m i s s i o n ä r « für seine Rechnung das Geschäft ab-
schließt; dafür macht sich der Börsenhändler in der einen oder anderen Form be-
zahlt – wie, werden wir in einem späteren Heft erörtern.
Die ältesten Börsen waren Versammlungen auf einem offenen, zuweilen ein-
gehegten Platz. Später meist und jetzt wohl immer finden diese Versammlungen
in geschlossenen großen Sälen statt. Von jeher bedurfte es naturgemäß eines Or-
gans, welches die Marktpolizei handhabte. Das ist ebenso jetzt, es sind überall
Kommissare bestellt, welche die Ordnung aufrechterhalten. Daneben aber kann-
te die ältere Markt- und Börsenorganisation noch ein Glied, und der überwie-
gende Teil der Börsen, darunter die deutschen, kennt es noch jetzt – welches den
speziellen Zweck hat, die möglichste Beschleunigung des Abschlusses der Ge-
schäfte herbeizuführen: die » M a k l e r « . Der Gegensatz gegen die Kommis-
sionäre bestand wir werden später erörtern (im nächsten Heft), wie sich das
geändert hat darin: der Kommissionär schließt das Geschäft als Beauftragter
selbst ab und verrechnet sich mit seinem Auftraggeber, dem er die gekauften
Waren dann gegen Erstattung der Auslagen und der »Provision«- z. B. 1,
1
/
2
,
1
/
8
von je hundert des Betrages – überweist, er ist es, durch dessen Vermittelung die
a u ß e r h a l b der Börse befindlichen an dem Handel, der sich darin abspielt,
teilnehmen. Der Makler dagegen ist nur Vermittler, und zwar (normalerweise)
nur z w i s c h e n d e n B ö r s e n b e s u c h e r n auf der rse selbst. Er
erhält von dem Börsenhändler sei es, daß dieser für sich, sei es, daß er als
Kommissionär für jemand draußen
Die Börse. 278
ein Geschäft machen will, den Auftrag, ihm z. B. jemand nachzuweisen, der
100 Aktien einer bestimmten Gesellschaft oder 100 Zentner Weizen abnehmen
und dafür mindestens x Mark zahlen wolle. Seine Sache ist es, einen solchen zu
finden, hat er ihn gefunden, so überbringt er ihm das Angebot (die »Offerte«)
und nimmt die Erklärung, daß dasselbe angenommen sei, entgegen. Ueber das
so zustande gekommene Geschäft, welches er sich zunächst in einem Notizbuch
notiert, stellt er jeder der Parteien eine gleichlautende Bescheinigung, die sog.
»Schlußnote«, zu
1)
und erhält dann von jeder Partei normalerweise zur Hälfte
– die übliche »Courtage«: z. B. 1,
1
/
2
usw. vom Tausend des Betrages als Entgelt
für seine Mühewaltung. Er ist also nach dem Gedanken, der seiner Stellung
zugrunde liegt, das Werkzeug, welches die ausgestreckten nde von Angebot
und Nachfrage zusammenführt, so daß sie sich fassen können. Seine Unentbehr-
lichkeit beruht darauf, daß sonst bei der großen Zahl der Börsenbesucher an
den größten Börsen verkehren mehrere Tausend die Wahrscheinlichkeit, sich
zu treffen, für die Kaufs- und Verkaufslustigen gering, jedenfalls unerhört zeit-
raubend re. Der Geldwert der Z e i t aber ist seit Jahrhunderten im Handel
enorm gestiegen. Der einzelne Makler vermittelt meist wir werden das im
einzelnen noch sehen Geschäfte in einem oder mehreren bestimmten Gegen-
ständen (z. B. in Aktien der Berliner Diskonto-Gesellschaft), man kennt diejeni-
gen Makler, an welche man sich zu wenden hat, wenn man in diesem Gegen-
stand Geschäfte machen will und in ihrer Hand uft daher alles zusammen, was
an Angebot und Nachfrage »zu Markte« kommt.
Auf diese Art sorgt die Börse wie der Markt dafür, daß Käufer und Verkäufer
sich zu finden vermögen. Allein das ist nicht der einzige Grund ihrer Bedeutung.
Auch der Bauer fährt mit seinen Produkten, welche er in die kleine Landstadt
bringt, zum M a r k t , und n i c h t etwa vor die Türen der einzelnen Häuser
1)
Es ist beiläufig angesichts mancher Dinge, die der rsenspekulation, und zum Teil
mit Recht, vorgeworfen werden, immerhin bemerkenswert, daß alle die zahllosen Vereinba-
rungen über Geschäfte sich durchweg mündlich und keineswegs so, daß etwa regelmäßig
Zeugen zu haben wären, vollziehen, und es doch so gut wie n i e m a l s vorkommt, daß
jemand, auch ein sonst wenig bedenklicher Spekulant, das Zustandekommen einer Vereinba-
rung bestreitet, auch wenn ihm das Geschäft gewaltigen Verlust bringt. Der Betreffende wäre
fortan völlig unmöglich auf der Börse, denn die absolute Zuverlässigkeit des Wortes ist
Grundlage ihres Bestehens.
I. Zweck und äußere Organisation. 279
von Städtern, die sie vielleicht brauchen könnten, nicht nur deshalb, weil dies
eine unerhörte Zeitvergeudung bedeuten würde. Sondern vor allem deshalb
bringt er sie zu M a r k t , weil er dort den höchst-möglichen Preis zu erzielen
hofft. Hier trifft der Käufer mit allen oder den meisten Verkäufern, der Verkäu-
fer ebenso mit den ufern zusammen und beide können gegenseitig übersehen,
ob ihnen ein andrer der Anwesenden günstigere Bedingungen bietet, als der, mit
welchem sie eben verhandeln. Im allgemeinen werden infolge der so entstehen-
den »Konkurrenz« der Reflektanten untereinander Waren gleicher Art und Güte
auf dem Markt unter geringen Abweichungen zu etwa dem nämlichen Preise ge-
und verkauft werden. Dieselbe Rolle spielt die Börse, nur daß der dort für einen
Gegenstand bestimmter Art und Güte, in einem bestimmten Moment sich erge-
bende Preis der »Börsenkurs« des Tages bzw. der Stunde eine Bedeutung von
ungleich gewaltigerer Tragweite hat. In die Spalten der Zeitungen, welche g-
lich die an der Berliner Produktenbörse für Getreide, Sprit usw. gezahlten Preise
veröffentlichen, blickt der Getreide-, Sprit- usw. ndler und der Landwirt in
ganz Ostdeutschland. Der Getreidehändler berechnet sich: der Preis für die Ton-
ne (1000 Kilogr.) Getreide ist X Mark, ungefähr dafür also werde ich Getreide
verkaufen nnen. Y Mark kostet die Eisenbahnfracht nach Berlin; wenn ich Z
Mark an der Tonne verdienen will, kann ich mithin höchstens X weniger Y we-
niger Z Mk. an meine Kunden bezahlen. Er sagt also dem Landwirt, der ihm
sein Getreide bietet: ich bin bereit zu zahlen »so und so viel (mlich wenig-
stens Y + Z) Mk. unter der heutigen Berliner Kursnotiz für Getreide«. In dieser
Art wird der größte Teil der ostdeutschen Getreideernte verkauft, ebenso fast der
mtliche dort gebrannte Sprit den Produzenten abgekauft, für sie ist dieser Bör-
senkurs und seine he eine L e b e n s f r a g e . Bestände die Börse nicht, so
hätten sie gar keine glichkeit, ungefähr zu kontrollieren, wieviel Profit der
Getreidendler an dem Getreide macht, das er ihnen abnimmt, und wären sei-
nem Belieben ausgeliefert. In die Spalten der Zeitungen, welche die Kurse von
Staatspapieren, Aktien usw. enthalten, sieht andererseits der Besitzer von sol-
chen Papieren, um sich zu vergewissern, wie hoch an der Börse der Wert dessen,
was er daran besitzt, veranschlagt wird. Er kauft mit Vorliebe »börsengängige«
Papiere und leiht sein Geld meist nicht direkt irgendeinem soliden
Die Börse. 280
Geschäftsmanne oder Landwirt, der e s brauchen kann, und ihm verzinst.
Einmal weil es reiner Zufall ist, ob er gerade einen solchen findet. Vor allem
aber auch deshalb, weil er es von ihm nicht jeden Augenblick wieder haben
kann, sondern warten muß, bis die Schuld fällig ist: er nnte ja die Forderung
einem andern, der sie ihm abnehmen und ihm dafür Geld geben will »zedieren«
(d. h. übertragen), aber ob er einen solchen findet, und was dieser ihm zu zahlen
bereit ist, fragt sich sehr. Bei einem Papier dagegen, welches an der Börse re-
gelmäßig gehandelt wird, ist er jeden Augenblick, wenn er sein Geld braucht, si-
cher, einen Käufer an der Börse zu finden, zu ungehr dem Preise, den er aus
der Zeitung ersehen kann. Die Ziffern des Kurszettels sind für ihn ein Thermo-
meter, aus dem er glich sieht, wie hoch er das Vermögen, welches er besitzt,
veranschlagen darf.
Auf diesen Umsnden vornehmlich beruht die ungeheure Bedeutung, welche
die Börsen für die Volkswirtschaft gewonnen haben, deren Regulatoren und Or-
ganisatoren sie heute zu werden begonnen haben, immer mehr werden, und so-
lange die heutige Gesellschaftsordnung auch nur in irgend annähernd ähnlicher
Art bestehen wird, auch werden m ü s s e n . Zugleich zeigt sich aber auch,
von welch ungeheurer Wichtigkeit es ist, daß die Bildung und Feststellung des
Preises (»Kurses«) auf der Börse sich in solider und richtiger Weise vollzieht.
Für die Ermittelung der Preise, welche in den an der Börse gehandelten Waren
und Papieren an den einzelnen Tagen gezahlt worden sind, haben alle Börsen
Einrichtungen getroffen. Fast alle, speziell die größte deutsche Börse: die Berli-
ner, geben ein amtliches »Kursblatt« heraus, durchweg unter Mitwirkung der
Makler, welche die Geschäftsabschlüsse vermittelt haben, dessen Inhalt dann die
Zeitungen abdrucken. Wie diese »Kurse« zustandekommen und in welcher Art
und zwischen welchen Personen sich der Geschäftsverkehr, dessen Resultat sie
sind, an der rse abspielt, werden wir uns noch im einzelnen in einem weiteren
Heft ansehen.
Die langen Zifferreihen am Schluß der Zeitungen, welche der Leser, welcher
weder Kapitalist noch Geschäftsmann ist, überschlägt, sind nicht nur für die Ka-
pitalisten und Geschäftsleute von Bedeutung, sondern die Art, wie sich im Laufe
der Jahre die trocknen Zahlen darin ändern, bedeuten Aufblühen und Nieder-
gang ganzer Produktionszweige, an deren Bestand heute Glück und Elend von
Tausenden hängt.
I. Zweck und äußere Organisation. 281
Wir sehen: die wesentliche Grundlage und die Einrichtungen der Börsen s-
sen in der Hauptsache gleichartige sein, weil die Bestimmung der Börse überall
dieselbe ist.
Trotz dieser grundsätzlichen Gleichartigkeit der wesentlichen Zwecke zeigt
aber die Organisation der rse in den einzelnen Ländern höchst auffällige Ver-
schiedenheiten, deren Hauptformen wir kurz an Beispielen betrachten wollen.
Die größten e n g l i s c h e n und a m e r i k a n i s c h e n Börsen haben
nicht alle, aber gerade die bedeutendsten den Charakter geschlossener Klubs
der berufsmäßigen Börsenhändler. Regelmäßig voneinander getrennt sind
Fonds- und Produktenbörsen und oft diese noch in weitere Spezialbörsen. Jede
bildet einen sich selbst verwaltenden Verein, der regelmäßig als Korporation
s e l b s t b e s c h l i e ß t , wen er in seine Mitte aufnehmen will. Die einzel-
nen Plätze an der Börse sind, wie früher allgemein und zum Teil noch die Kir-
chensitze bei uns, erblich und verkäuflich und kosten ganz bedeutende Summen,
und nur wer einen Platz erworben hat und in den Verband aufgenommen wird,
kann am Börsenhandel direkt teilnehmen, alle anderen müssen sich eines der
Zugelassenen als Kommissionär broker bedienen, wenn sie Geschäfte ma-
chen wollen
1)
.
Um in einen solchen Börsenhändlerverband eintreten zu können, maber
nicht nur der Platz erworben werden, sondern regelmäßig fordert der Verband
noch eine bedeutende Kaution, damit, wer mit dem Eintretenden Geschäfte
macht, auch sicher sei, daß er imstande sein wird, seinen Verpflichtungen nach-
zukommen
2)
. Hier ist also die Börse offen als Monopol der Reichen organisiert,
die berufsmäßigen ndler haben sich nach Art einer Zunft des Handels allein
bemächtigt, sie allein setzen die Usancen fest, d. h. die Bedingungen, unter wel-
chen ein für
1)
So kann in Neuyork zwar jeder in die rsenhalle hinein, aber innerhalb derselben be-
findet sich eine von Schranken umgebene amphitheaterartige Estrade, innerhalb der nur die
zugelassenen rsenhändler sich aufhalten und Geschäfte schließen: man kann herantreten
und, wenn man den Kredit eines der Händler genießt, ihm den Auftrag zu einem Geschäfte
geben. Zum Raum der Londoner Fondsbörse hat niemand Zutritt als die zugelassenen brokers,
Kommissionäre, und dealers, Händler.
2)
Entweder müssen sich wohlhabende Personen für ihn verbürgen so in London 2 Per-
sonen in he von je 500 Pfund Sterling (10 000 Mark) oder er muß einen Betrag in Geld
oder Wertpapieren deponieren. Wer jemals seine Zahlungsverpflichtungen nicht hat erfüllen
können, bleibt meist dauernd ausgeschlossen, und ziemlich streng ist auch die Disziplin gegen
solche, welche sich unlautere Praktiken zuschulden kommen lassen.
Die Börse. 282
allemal die Gescfte an der Börse als geschlossen gelten, der Staat weder, noch
sonst jemand hat ihnen hineinzureden. Sie bilden eine Art »Geld-Aristokratie«
des Börsenhandels.
Scheinbar den größten Gegensatz dazu stellt die größte französische, die
P a r i s e r Fondsbörse dar. Hier existiert kein geschlossener Verband von
Börsenhändlern, es hat jedermann wie zu einem offenen Markt unmittelbar Zu-
tritt und kann w e n n ihm jemand Kredit gibt! am Handel teilnehmen.
Man sieht zuweilen Arbeiter in blauer Bluse ihre Anweisungen auf Staats-
schuldscheine, die sie erworben haben, an die Börse weiter verkaufen. Der Bör-
senhandel ist äußerlich demokratisch eingerichtet wie der Staat. Aber das hat
seine Grenze. Gerade die französische Fondsbörse war von jeher eine p o l i -
t i s c h e Einrichtung, die der S t a a t für politische Zwecke dienstbar
machte und in deren Organisation er dementsprechend nach Belieben eingriff.
So finden wir an den 7 größten französischen Fondsrsen, besonders der Pari-
ser, das Institut des parquet d. h. eines privilegierten Verbandes vom Ministeri-
um zugelassener Makler »Agents de change«. Diese Makler haben nach dem
Gesetz allein das Recht, Geschäfte an der Börse gegen das übliche Entgelt (die
Courtage) zu vermitteln, jeder, der einen Makler braucht, soll sich an einen von
ihnen wenden und, wie schon eben gesagt, in 9 von 10 llen muß jemand, der
ein Geschäft machen und schnell jemand finden will, mit dem er es macht, sich
eines Maklers bedienen. Sie haben also das Monopol der Gescftsvermittelung
und damit sind ihnen Einkünfte von gewaltigem Umfang gesichert. Für den gan-
zen ungeheuren Verkehr der Pariser Börse gibt es solcher konzessionierter Mak-
ler nur sechzig. Und da jeder derartige Makler das Recht hat, wenn er sich zur
Ruhe setzt, seinen Nachfolger selbst vorzuschlagen, also seine Konzession (ähn-
lich wie etwa die Apotheker bei uns) zu übertragen, so sind die Stellen tatsäch-
lich verkäuflich und man zahlt jetzt etwa 2 Millionen Franken für eine solche.
Jeder Makler muß außerdem eine Kaution von 250 000 Franken hinterlegen.
Diese Monopolmakler sind also Millionäre
1)
. Durch ihre Hände läuft also ein
1)
Obwohl der Verkehr z. B. in Paris ein so gewaltiger ist, daß die 60 konzessionierten
Makler ihn gar nicht allein bewältigen nnen, sondern wohl oder übel das Vorhandensein
anderer, nicht konzessionierter der sogenannten Coulisse, dulden müssen, so haben sie es
doch in der Hand, da das Gesetz die Coulisse nicht zuläßt, jeden nicht konzessionierten Mak-
ler zur Bestrafung anzuzeigen und »zum Tempel hinauszujagen«. Sie können also jedenfalls
dafür
I. Zweck und äußere Organisation. 283
gewaltiger
Bruchteil – etwa die Hälfte aller Geschäfte der Fondsbörse. Sie ha-
ben ihren Platz innerhalb eines mit Schranken umgebenen Raumes, und der Un-
terschied gegen die großen englisch-amerikanischen Börsen ist also nur der, daß
hier nicht der ganze Börsenverkehr, sondern nur gewissermaßen dessen innerster
Kern, das letzte Bindeglied zwischen Käufer und Verkäufer, das Monopol einer
privilegierten Personengruppe bildet.
Die deutschen Börsen sehen sich untereinander verschieden an. Greifen wir
die größten: also die Berliner, Hamburger, Frankfurter heraus, so finden wir zu-
nächst, daß die Börsen für alle Arten Geschäfte in Effekten und Produkten
an demselben Ort zusammengelegt, konzentriert sind, was in Frankreich und
England regelmäßig nicht der Fall ist. Innerhalb des Börsengebäudes scheiden
sich natürlich die einzelnen »Märkte«. So finden die Produktengeschäfte in Ber-
lin im hintersten der drei großen ume des Börsensaales statt, und innerhalb
der Fondsbörse haben wieder die einzelnen großen Papiere: Russische Bankno-
ten, Diskonto-Kommandit-Aktien usw. ihre Stelle, wo gewohnheitsmäßig sich
in ihnen der Handel vollzieht. her zugesehen, sieht ferner die H a m -
b u r g e r Börse anders aus als die preußischen. Die Hamburger Börse ist ein
überdeckter Markt. »Das gesamte männliche anständige Publikum« kann sie be-
suchen; wem sie gerade auf dem Wege liegt, der benutzt sie als Durchgang.
Schiffer und fremde durchreisende Kaufleute besuchen sie und schließen dort
Fracht- und andere Geschäfte ab. An ständigen Besuchern finden wir neben den
berufsmäßigen Börsenhändlern, die entweder r sich oder als Kommissionäre
für andere Geschäfte machen, die M a k l e r . Es existieren aber keinerlei nach
Art der Pariser Agenten bevorrechtigte Vermittler, es steht jedem frei, das Mak-
lergewerbe auszben, er hat sich nur den allgemeinen Pflichten jedes Maklers –
Führung bestimmter Bücher, in denen er die vermittelten Geschäfte notiert, Aus-
stellung der Schlußnoten (s. o.) usw. zu unterziehen. Hier ist also das Prinzip
des »freien Marktes« konsequent durchgeführt. Nur die äußere Leitung hat die
Handelskammer, eine staatlich eingerichtete Vertretung der Kaufmannschaft.
Ein eigentümliches Mittelding zwischen den streng geschlossenen Börsenkorpo-
rationen
sorgen, daß ihnen, den konzessionierten, von den »Coulissiers« ein so großer und gewinn-
bringender Teil der Geschäfte ungestört überlassen bleibt, wie sie irgend zu erledigen imstan-
de sind.
Die Börse. 284
Englands und Amerikas und dem Zustand in Hamburg stellen nun die preußi-
schen, so namentlich die Berliner Börse dar. Die preischen Börsen sind staat-
lich konzessioniert und stehen unter der Leitung der Handelskammern, d. h. der
gewählten Vertretungsorgane des größeren Handelsstandes, in Berlin der ähn-
lich gearteten »Aeltesten der Kaufmannschaft«. Diese entscheiden in letzter In-
stanz über die für die Geschäfte mgebenden Usancen und bestellen (in der
Hauptsache) die Organe Börsenkommissare und Deputierte –, welche die äu-
ßere Ordnung auf der Börse aufrechtzuerhalten haben, daneben Schiedsgerichte
zur Entscheidung solcher Streitigkeiten, welche freiwillig vor sie gebracht wer-
den, – in einzelnen, hier nicht weiter interessierenden Streitfragen, sind nach den
Geschäftsbedingungen die Parteien verpflichtet, der Entscheidung derartiger
Schiedsgerichte sich zu unterwerfen. Ein geschlossener Verein ist die Börse
nicht, andererseits hat auch nicht jeder Zutritt, sondern dazu bedarf es des Besit-
zes einer Einlkarte. Diese aber wird gegen eine nicht erhebliche Gebühr jedem
Einheimischen erteilt, der glaubhaft dartut, daß er zum Zweck des Handels die
Börse besuchen will und von Mitgliedern der Börse zur Aufnahme empfohlen
wird eine Empfehlung, die den, der sie gibt, zu nichts verpflichtet und deshalb
von jedem ohne Ausnahme erlangt werden kann. Zeitweise ausgeschlossen wer-
den Leute, welche die Ordnung stören, Börsenmitglieder beleidigen, falsche Ge-
rüchte verbreiten und Zahlungsunfähige eine Disziplin aber von der Strenge
der englischen existiert auf unserer Börse nicht. Auch frühere Bankerotteure er-
halten regelmäßig nach einiger Zeit wieder Zutritt. Die Machtmittel der Börsen-
vorstände sind gering. Andere Strafen als die zeitweise Ausschließung gibt es
gegen Händler nicht
1)
.
Neben den berufsmäßigen Händlern, Vertretern der Bankhäuser und Kom-
missionären finden wir auch an den preußischen Börsen die M a k l e r . Auch
bezüglich ihrer nimmt unsere Börse eine Mittelstellung ein, hier zwischen den
konzessionierten Agenten in Paris und der gänzlichen Freigabe des Maklerge-
werbes in Hamburg. Es kann jeder das Maklergewerbe betreiben und es
1)
Auf Grund einer rein privaten Abmachung z. B. mit einer größeren Anzahl Firmen ha-
ben die Aeltesten in letzter Zeit begonnen, auf ein besonderes ehrenrühriges Verfahren: den
Abschluß von Geschäften mit Kommis usw. ohne Wissen des Prinzipals wodurch erstere
zur Untreue geradezu verleitet werden – eine »Rüge« zu setzen. Wenn aber ein so »Gerügter«
sich die Rüge einfach verbittet, wäre damit die Sache erledigt, denn ein Recht dazu existiert
nicht.
I. Zweck und äußere Organisation. 285
existieren zahlreiche »freie« Makler, deren Geschäftsbetrieb ebensowenig wie
der der Hamburger Makler einer Kontrolle unterliegt. Eine Sonderstellung neh-
men aber die von den Regierungen auf Vorschlag der rseninstanzen bestätig-
ten » v e r e i d i g t e n « Makler ein. Sie haben als Vermittler keinerlei Vor-
rechte und sind namentlich nicht, wie die Pariser Agenten, allein zur Vermitt-
lung berechtigt, man kann sich nach Belieben an einen vereideten oder unver-
eideten Makler wenden. Eine bevorrechtete Stellung besteht von unbedeuten-
den Vorrechten bei Zwangsverkäufen usw. abgesehen nur an der Effektenr-
se und nur insofern sie allein bei der Feststellung der Tages k u r s e für die
einzelnen Papiere gefragt werden. Grundsätzlich nicht durchweg tatsächlich
werden nur die durch sie vermittelten Geschäftsabschlüsse bei der Ermittlung
und Notierung der angebotenen, verlangten und gezahlten Preise berücksich-
tigt
1)
. Nun werden wir aber noch sehen, daß in vielen Fällen der ein Geschäft
Schließende ein Interesse daran hat, daß dasselbe bei Feststellung des Börsen-
preises berücksichtigt wird. Das ist z. B. namentlich bei den Kommissionären
der Fall, deren Kunden draußen durch die Zeitung den Kommissionär kontrollie-
ren, ob er ihnen auch den richtigen d. h. den an der Börse ermittelten und no-
tierten Preisbetrag verrechnet. Solche Reflektanten sind also der Regel nach
nicht bei allen Arten von Geschäften, wie wir später sehen werden – auf die ver-
eidigten Makler mehr oder weniger angewiesen. Im übrigen haben diese letzte-
ren nur Pflichten vor den übrigen Maklern voraus: sie sollen vor allen Dingen
keine eigenen Geschäfte machen, sich auch nicht dafür verbürgen
2)
. Bei uns
gehört also zur Ausübung des Maklergewerbes nicht ein derartiges Vermögen,
wie es der Pariser Agent besitzen muß. Es ist im Gegenteil nichts Seltenes, daß
zahlungsunfähig gewordene Kaufleute zu Maklern bestellt werden, um sich in
dieser Stellung wieder »emporzuarbeiten«. Ebenso muß man sich hüten zu glau-
ben, der Stand der berufsmäßigen Börsen h ä n d l e r sei bei uns im allgemei-
nen ein Stand reicher Leute. Man kann im Gegenteil sagen, daß die Vermögens-
unterschiede gerade der Börsenhändler mit die schroffsten sind, die es in einem
Stande geben kann. Es ist in diesem Punkt eine äußerst »ge-
1)
Ueber die Art der Kursermittelung s. den zweiten Teil.
2)
Daß und warum diese Vorschrift trotz des Maklereides täglich umgangen wird, werden
wir gleichfalls später sehen.
Die Börse. 286
mischte« Gesellschaft von den Vertretern der größten Banken, die Kapitalien
von 50 und mehr Millionen Mark hinter sich haben, bis zu dem kglichsten ar-
men Schächer, der an den kleinen Preisschwankungen, auf die er spekuliert, sich
von Tag zu Tag sein Dasein fristet. Große Vermögen werden zuweilen an der
Börse »verdient«, meist freilich so, daß an sich schon große Vermögen unge-
messen anschwellen, unter einem Aufwand von Nervenanspannung, der die Exi-
stenz eines Spekulanten durchaus nicht so beneidenswert gestaltet, wie mancher
sie träumt. Aber man darf nicht glauben, daß der Börsenhändler durchweg den
Marschallstab des Reichtums im Tornister trage. Der Stand der Börsenhändler
bildet bei uns infolge dieser riesigen Unterschiede in keiner Weise eine so (ver-
hältnismäßig) einheitliche Klasse wie die Mitglieder der großen englischen Bör-
senkorporationen. Das ist in mehr als einer Hinsicht ein schwerer Schaden.
Wer außerhalb der rse steht, ist leicht geneigt, das Hauptgewicht bei ihrer
Beurteilung darauf zu legen, daß hier nicht selten lotterieartige Gewinnste erzielt
werden, deren Erwerb verhältnismäßig »mühelos« erfolgt und daß andererseits
die Ersparnisse langjährigen Fleißes im Börsenspiel verloren werden, zu wel-
chem Agenten und Annoncen übel berufener Kommissionshäuser Leute, wel-
chen nicht der geringste Beruf zur Teilnahme am Börsenhandel zukommt, ver-
leiten. Die Vorschläge, welche die in den letzten 2 Jahren zur Untersuchung der
Börsenverhältnisse versammelt gewesene Kommission (Börsen-Enquete-
Kommission) gemacht hat, wollen mit Recht die V e r l e i t u n g zu unwirt-
schaftlichem und gefährdendem Börsenspiel nach Art des Wuchers unter Strafe
stellen und die Geschäfte für rechtlich nichtig erklären. Soweit durch sonstige
Maßregeln einige der in Frage stehenden besprechen wir im folgenden Heft
die Ausbeutung des Privatpublikums verhindert und überhaupt der Teilnahme
Unberufener, welche dem berufsmäßigen Börsenhandel fernstehen, am Börsen-
geschäft wirksam vorgebeugt werden kann, ssen diese ergriffen werden. Man
muß sich freilich hüten, immer die stärksten Schreier auch für die bewährtesten
Kritiker zu halten: zumal gewisse politische Kreise, welche jeden Feldzug gegen
die Börse an der Spitze mitmachen, wissen ihrerseits nur zu gut darin Bescheid
und verschmähen dort gemachte Gewinnste nicht, während sie Verluste ungern
bezahlen. Und man darf leider auch die Aussichten, das Publikum von der Be-
teiligung
I. Zweck und äußere Organisation. 287
an Spekulationen fernzuhalten, nicht allzu optimistisch ansehen.
Allein es muß vor allem daran erinnert werden, daß der w e s e n t l i c h -
s t e Gesichtspunkt, unter dem man politisch und sozialpolitisch die Börse und
ihre Schäden betrachtet, unmöglich der sein kann: Denjenigen, welche »nicht al-
le werde, und ihr Vermögen auf der Börse riskieren wollen, dessen Besitz un-
ter allen Umständen zu garantieren. Sondern angesichts der llig unentbehrli-
chen Funktion, welche die Börse im Wirtschaftsleben zu versehen hat, ist un-
gleich wichtiger die Frage: 1. Erfüllt die Börse heute im allgemeinen trotz jener
Exzesse die ihr zufallenden volkswirtschaftlichen Funktionen – dieser Frage
werden wir erst im II. Teil her treten nnen; schon hier dagegen nnen wir
einer entscheidenden Vorfrage her treten, mlich 2. der Frage, ob die Perso-
nengruppen, in deren Hand diese Funktionen bei unserer heutigen Börsenorgani-
sation gelegt sind, nach ihrer Eigenart die erforderliche Garantie bieten nnen.
Diese Frage ist wichtiger als Lamentationen über einzelne schwindelhafte Prak-
tiken. Wir werden (im II. Teil) noch sehen, daß es keine Geschäftsformen und
Manipulationen an der Börse gibt, welche, um ihrer Form willen, a n s i c h
»reell« oder »unreell« ren, sondern nur reelle oder unreelle
G e s c h ä f t s l e u t e , welche sich dieser Formen bedienen. Auf die
P e r s o n e n kommt es an. Deshalb gibt es an sich gegen Mißbräuche keine
einschneidendere Maßregel, als die Einführung eines aus Standesgenossen
zusammengesetzten E h r e n g e r i c h t e s , wie es die Börsen-Enquete-
Kommission vorschlägt, welches die geschäftliche Praxis der
Standesgenossen, wenn Beschwerden erhoben werden, einer Prüfung unterzieht
und gegebenenfalls Ehrenstrafen, eventuell die Ausschließung von der rse,
verfügt. Aber: ein wirksames »Ehrengericht« setzt voraus, daß ein
gemeinschaftlicher und gleichartiger Ehrbegriff innerhalb des Standes
v o r h a n d e n sei. Das ist bei uns unzweifelhaft nicht der Fall und kann es
nicht sein bei der Einrichtung unserer Börse, welche jedem unterschiedslos ihre
Tore öffnet. Vor allem besteht keine auch nur annähernde persönliche
Gleichstellung zwischen den in ihrer Vermögenslage und ihren Anschauungen
grundverschiedenen Besuchern der Börse. Die Londoner Fondsbörse ist
»plutokratischer« organisiert, da sie, wie wir sahen, immerhin bedeutende
Vermögenseinlagen und Bürgschaften als Vorbedin-
Die Börse. 288
gung des Zutritts zum rsenhandel fordert. Man darf aber deshalb, weil unsre
Börse auch den annähernd Mittellosen Zutritt gewährt, nicht etwa glauben, daß
bei uns die Vorherrschaft der großen Kapitalien auf der Börse abgemindert sei.
Davon ist auch nicht im Entferntesten die Rede, i m G e g e n t e i l : sie
vollzieht sich bei uns nur in verhüllterer Form und deshalb unter einem weit ge-
ringeren Druck des Verantwortlichkeitsgefühls: der Großkapitalist verweist, zur
Rede gestellt, auf die zahlreichen, »unlautere Elemente«, welche am Börsenhan-
del beteiligt seien. Diese Elemente finden sich nun gewiß keineswegs nur in den
minder bemittelten Schichten der rsenhändler, denn Ehrenhaftigkeit der Ge-
sinnung geht mit nichts weniger Hand in Hand als mit der Größe des Geldbeu-
tels. Allein eins ist sicher: heute k ö n n e n nur »starre Hände«, d. h. große
Kapitalien die Funktionen wahrnehmen, welchen der Börsenhandel dient. Die
vielbeklagte Konzentration großer Kapitalien in den Händen der Banken ist in-
nerhalb gewisser Schranken schlechterdings unentbehrlich für unsere heutige
volkswirtschaftliche Organisation. Der kleine Spekulant, welcher in kleinen
Preisdifferenzen zu verdienen sucht und die Börse zu einem Ort macht, auf wel-
chem er ein Vermögen, welches er nicht besitzt, erst erjagen möchte, erfüllt gar
keinen volkswirtschaftlichen Zweck; das was für ihn an Verdienst abfällt, zahlt
die Volkswirtschaft ganz unnötigerweise an einen überflüssigen Schmarotzer.
Welche gewaltigen Gefahren die großen Kapitalisten auf der Börse zu Zeiten
über Volksvermögen bringen nnen, das werden wir noch weiter sehen, und
auch, ob und was etwa zur Einschränkung dieser Gefahren sich tun läßt. Aber
während ihre Mitwirkung andererseits ganz u n e n t b e h r l i c h ist und eine
nationale Wirtschaft, welche keine konzentrierten Kapitalmächte besäße, damit
nur in die Abhängigkeit von a u s l ä n d i s c h e n Kapitalisten geriete, ist
der kleine Börsenspekulant ein Mann, welcher seine Arbeit nützlicher irgendei-
ner andern Tätigkeit zuwenden würde. Er vor allem aber hindert das Entstehen
einer in ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Vorbildung, Erziehung und Stel-
lung g l e i c h a r t i g e r e n Klasse von Börsenhändlern, welche in der Lage
wäre, aus ihrer Mitte »Ehrengerichte« zu bilden, welche die Energie haben
könnten, erzieherisch zu wirken und deren Urteile respektiert würden. Niemals
wird es durchzusetzen sein, daß Sprüche eines Ehrenhofes, der aus der Wahl ei-
nes solchen Misch-
I. Zweck und äußere Organisation. 289
maschs, wie ihn jetzt unser Börsenpublikum darstellt, hervorginge, Beachtung
finden, schon die Voraussetzung: ein einheitlicher »Ehrbegriff«, fehlt. Meine
persönliche Auffassung
1)
, die ich unter allem Vorbehalt hier äußere, weil ich
glaube, man könnte mich mit Recht darnach fragen, geht deshalb dahin: E h r -
l i c h k e i t ist die Stärke jeder gesellschaftlichen Organisation; auf unsrer
und auf jeder Börse herrscht t a t s ä c h l i c h der größere Geldbeutel, und es
kann auch nicht anders sein. Deshalb möge man ihm auch f o r m e l l das
Feld lassen und durch Erfordern starker pekuniärer Garantien den Zutritt zur
Börse e r s c h w e r e n , man stärkt die Stellung der großen Kapitalien da-
durch nicht, sondern macht eine Kontrolle und die Entstehung einheitlicher An-
schauungen über das, was auf der Börse geschäftlich ehrbar ist oder nicht, erst
möglich. Dazu wird derjenige ungläubig den Kopf sctteln, welcher die Bör-
senhändler als solche für einen Klub von Verschwörern gegen die Früchte frem-
der Arbeit lt. Ihm muß gesagt werden: er kennt sie nicht. Es kommt darauf an,
den Elementen von unbezweifelbarer Ehrenhaftigkeit, welche dieser Stand,
ebenso wie jeder andere in sich enthält, die glichkeit, seine Anschauungen
mehr als bisher zur Geltung zu bringen, zu verschaffen; und gefragt werden
kann nur, ob eine Organisation der rse mehr nach englischer Art ein geeigne-
tes Mittel bildet. Ich bin zur Zeit geneigt, diese Frage zu bejahen. Die rse
i s t Monopol der Reichen, nichts ist törichter als diese Tatsache durch die Zu-
lassung unbemittelter und deshalb machtloser Spekulanten verhallen zu lassen
und damit dem Großkapital die Möglichkeit der Abwälzung der Verantwortung
auf jene zu geben
2)
.
Man nnte hoffen, durch eine energische S t a a t s a u f s i c h t ähnliche
Zwecke zu erreichen. Die Möglichkeit eines ziemlich unbeschränkten Eingrei-
fens des Handelsministers besteht nun in Preußen zu Recht. Es kommt also dar-
auf an, w i e die Aufsicht auszuüben wäre. In Oesterreich hat man einen
Staatskommissar, der bisher so gut wie nichts hat ausrichten
1)
Dieselbe stimmt mit derjenigen der bedeutendsten Fachspezialisten überein.
2)
Entgegengesetzten Falls wäre kein Grund, überhaupt Schranken um die Börse zu ziehen
und sie nicht nach Hamburger Art zu einem offnen Markt für alle zu machen. Der Charakter
der Hamburger Kaufmannschaft, die eine jahrhundertealte gute Tradition besitzt, hat es mit
sich gebracht, daß die dortige, ganz freie Börse nicht etwa zu den unsolidesten, sondern zu
den verhältnismäßig besten ihrer Art gehört.
Die Börse. 290
können. W e n n ein Börsen-Ehrengericht eingerichtet wird, so wird es er-
wünscht sein, einen staatlichen Kommissar als Ankläger nach der Art des
Staatsanwalts zu haben; die Gerichtsbarkeit selbst in andere als die nde der
Standesgenossen zu legen, wäre dagegen wahrscheinlich ein Fehler. Kann man
auf das Durchdringen der möglichst höchsten Auffassung von geschäftlicher
Ehrbarkeit innerhalb des Standes selbst n i c h t rechnen, so ist die ganze Insti-
tution eine Komödie und unterbleibt besser. Vorgeschlagen wurde ferner, den
leitenden rsenorganen »Aeltesten«, »Börsenkommissariateusw. staatli-
che Kommissare r ihre Verhandlungen beizugeben. Es handelt sich hier weni-
ger um Kontrolle, als darum, staatlicherseits darin Anträge stellen und mit den
Vertretern der Kaufmannschaft darüber verhandeln zu nnen. Ausgeschlossen
ist ein solches Verfahren schon jetzt bei uns nicht. Sicherlich ist mit dem allen
etwas E n t s c h e i d e n d e s nicht geschaffen; am wenigsten eine Kontrolle
des V e r k e h r s . Diese denkt man sich weit leichter als sie ist. Man kann auf
den Lebensmittelmarkt einige Schutzleute stellen, welche Nahrungsmittelverfäl-
schung, falsches Gewicht usw. kontrollieren. Was man etwa Gleichartiges durch
Entsendung noch so vieler, noch so intelligenter staatlicher Kommissare auf die
Börse zu den Verkehrsstunden, um dort auf Unrat zu passen, erzielen wollte, ist
schwer zu sagen. Eine allgemeine Börsenbeaufsichtigung ist ein leeres Wort,
darüber muß man sich klar sein; es kommt darauf an, welche bestimmten Vor-
gänge man kontrollieren oder durch gesetzgeberischen Eingriff regeln, welche
Geschäfte z. B. und zwischen welchen Personen man verhindern kann und
will
1)
.
1)
Daß es d a r a u f , also auf ein Eindringen in d a s I n n e r e des Verkehrs, an-
kommt, darzulegen, war der Zweck der vorstehenden Ausführungen. Wir werden uns im 2.
Teil mit der Art der Abwicklung des rsenverkehrs und seinen Formen und mit der Art der
Kursfeststellung und Preisbildung und der Funktionen der großen Banken im Börsenverkehr
beschäftigen, um eine ungefähre Vorstellung davon zu gewinnen, was hier erreicht werden
kann und welche Ziele der Reform auf dem Gebiete des Börsenwesens gesteckt werden n-
nen und sollen.
Der Börsenverkehr. 291
II.
Der Börsenverkehr
1)
.
Die rse ist ein M a r k t , auf welchem Kaufgescfte über Waren des
Großhandels und über Geldsorten, Wechsel und Wertpapiere zwischen Berufs-
kaufleuten abgeschlossen werden. Diejenigen, welche »börsengängige« Waren
oder Papiere kaufen oder verkaufen wollen, also z. B. Landwirte, die Getreide
verkaufen, gre Müller, die es kaufen, Kapitalisten, die Wertpapiere zur Anla-
ge ihres Geldes erwerben, und andere, die, weil sie Bargeld brauchen, solche
verkaufen wollen, sind auf diesem ungeheuren Markte am sichersten, Verkäufer
und Käufer zu dem zur Zeit für sie günstigst möglichen Preise zu finden. Sie ge-
ben deshalb ihre Aufträge an einen an der Börse vertretenen K o m m i s -
s i o n ä r . Die Auftraggeber bezeichnen dabei entweder den Preis, zu welchem
sie äußerstenfalls zu kaufen oder zu verkaufen bereit sind, sie »limitiere ihn
(z. B.: zu kaufen 10 000 Rubel Russische Noten zum Preise von nicht über
aber natürlich womöglich unter 210 Mark für je: 100 Rubel) oder sie geben
wenn sie in j e d e m Falle zu kaufen oder zu verkaufen wünschen den Auf-
trag »unlimitiert« (z. B. zu kaufen 10 000 Rubel »bestens«, d. h. zu dem billigst-
möglichen Preise, zu dem sie der Kommissionär auf dem Markt erlangen kann).
Wieviel Waren oder Papiere einer bestimmten Art jeweilig von derartigen Auf-
traggebern angeboten oder gesucht und welche Preise dafür verlangt oder gebo-
ten werden, hängt natürlich von der ganzen unabsehbaren Vielzahl von Ursa-
chen ab, welche für die Verkaufs- oder Kaufsneigung der Beteiligten in Betracht
kommen und die wir hier unmöglich im einzelnen aufzuführen auch nur versu-
chen können. Mit ihren Aufträgen in der Tasche begeben sich die Kommissio-
näre an die Börse und suchen dort entweder selbst einen Partner aufzufinden,
mit dem sie ein Geschäft, wie es der Auftraggeber verlangt, so günstig wie mög-
lich für ihn und jedenfalls innerhalb des Preis-»Limits«, welches er angegeben
1)
Das in der Anmerkung S. 288 gegebene Versprechen ist nicht ganz eingelöst. Wesent-
lich nur die Verkehrsformen sind erörtert. Die Funktionen der großen Finanzmächte bleiben
besser einer gesonderten Erörterung vorbehalten. Ich überzeugte mich, daß ein gewisses M
von Breite für gänzlich Fernstehende zum Verständnis unumgänglich ist. Jede eingehende
Erörterung der Reformvorschläge oder des Börsengesetzes verbot der Raum.
Die Börse. 292
hat, abschließen zu nnen, oder sie wenden sich an einen der M a k l e r ,
welche die Vermittlung von Geschäften in dem betreffenden Gegenstand (Ge-
treidesorte, Aktien der betreffenden Gesellschaft) zu ihrem speziellen Geschäft
gemacht haben. An diese Makler gelangt also der größte Teil der Verlaufs- und
Kaufs-Offerten, die an einem Börsentage in dem betreffenden Artikel vorliegen,
»Angebot und Nachfrage« konzentrieren sich bei ihnen und sie suchen nun
aus diesen Kaufs- und Verkaufsaufträgen unter Berücksichtigung der angegebe-
nen Preis-»Limits« möglichst viele Geschäfte zustande zu bringen, um mög-
lichst viel »Courtage« zu verdienen.
Je nach dem Maße nun, in welchem Aufträge zum Verkauf oder zum Kauf
bestimmter Warensorten oder Wertpapiere an den Markt gelangen je nach der
jeweiligen »Marktlage« müssen die zu einem bestimmten Preise keinen Ver-
käufer mehr findenden Kaufreflektanten mit ihren Preisangeboten in die Höhe
gehen und so zu dem teureren Preise weitere Warenbesitzer zum Verkaufe zu
bewegen suchen, oder umgekehrt die Verkaufsreflektanten mit ihren Preisforde-
rungen herabgehen, um so durch die billigeren Preise einen Anreiz zum Kauf zu
schaffen. Der ganze Verkehr trägt demgemäß den Charakter eines unablässigen
gegenseitigen Ansteigerns an sich: die Kommissionäre und Makler mit Kaufauf-
trägen in der Tasche gehen mit ihren Preisangeboten herauf, diejenigen mit Ver-
kaufsaufträgen mit den Preisforderungen herunter, so hern sich die Gebote
einander, bis ein Geschäftsabschluß zwischen zwei Beteiligten zustande kommt.
In der Vergangenheit und auch heute noch vielfach in England und Amerika
trägt der Verkehr auch geradezu die F o r m der öffentlichen Versteigerung an
sich: ein Börsenbeamter ruft von erhöhter Stelle aus die einzelnen Waren und
Papiere auf; im weiten Kreise um ihn stehen die Reflektanten und rufen ihm ihre
Gebote zu, die er mit lauter Stimme wiederholt, bis die Annahme eines Gebotes
durch einen Anwesenden erfolgt, worauf die Gebote von neuem beginnen. Meist
vollzieht sich der Verkehr ohne einen solchen amtlichen Ausrufer, aber dem
Wesen nach in ähnlicher Weise. Die ndler in einem Papier oder in einer Wa-
rensorte mit besonders lebhaftem Verkehr haben meist einen bestimmten allge-
mein bekannten Standort auf der Börse, dorthin begibt sich, wer davon kaufen
oder verkaufen will, und es bildet sich ein Knäuel von Menschen, welche sich
ihre Kaufs- und Verkaufs-
II. Der Börsenverkehr. 293
offerten zurufen, oft geradezu zubrüllen, indem sie sich dabei bestimmter kurzer
Ausdrücke bedienen, die an der Börse üblich sind. Zum Beispiel: Ein Rubel-
makler Meier hat einen Auftrag zum Kauf von 30 000 Rubel russischer Noten,
nicht über 211 Mk. pro 100 Rubel, erhalten. Er begibt sich an den Ru-
bel»markt«, d. h. zu demjenigen Knäuel, in welchem Rubelnoten gehandelt
werden, und ruft: »210 Geld!« das heißt im Börsendialekt: Ich biete 210 Mark
für je 100 Rubel. Ein anderer ruft darauf: »211 Brief!« das heißt: Ich bin be-
reit, zu 211 für 100 Rubel Rubelnoten zu verkaufen. Darauf ruft z. B. Meier:
»210 Geld!« d. h. ich will nur 210 geben. Darauf ein Dritter: »210
3
/
4
Brief
d. h. ich gebe Rubelnoten schon zu 210
3
/
4
für 100 Rubel her. Nun geht Meier,
einsehend, daß er zu 210 Mk. keine R. erhält, mit seinem Gebot in die he und
ruft z. B. zunächst: »210
1
/
4
Geld«, d. h. ich bin bereit 210
1
/
4
für 100 R. zu zah-
len, worauf z. B. ein Dritter ruft: »210
5
/
8
Brief!« Und Meier, nochmals höher
bietend: »210
1
/
2
GeldAuf dies Gebot hin ruft ihm ein Vierter zu: »Wieviel-
mal?« nämlich: wievielmal die sogenannte »Schlußeinheit«, d. h. das der
Einfachheit der Verständigung halber, wie wir noch sehen werden, von den Bör-
senusancen ein für allemal als gemeint festgesetzte Quantum, z. B. in Berlin bei
Rubeln 10 000 Rubel wollen Sie zu diesem Preise kaufen? worauf Meier
antwortet: »3 mal!« (d. h. 3 X 10 000 = 30 000 Rubel will ich kaufen) und der
Gegner, wenn ihm 30 000 Rubel zum Preise von 210
1
/
2
Mark für je 100 Rubel
feil sind, antwortet: »an Sie!« (nämlich: an Sie verkaufe ich die betreffende
Quantit zu dem gebotenen Preise, der entsprechende Ausdruck des ufers
würde lauten: »von Ihnen!«) worauf beide sich den Kurs und die Quantität
schleunigst in ihren Notizbüchern vermerken, um alsbald sich der Erledigung
weiterer Aufträge zuzuwenden. Oft müssen Gestikulationen alle Worte ersetzen.
Denn die ungeheure Zahl der fortwährend hin- und herschwirrenden Gebote
verursacht einen geradezu betäubenden donnerartigen Lärm und ist, verbunden
mit dem Anblick zahlreicher Knäuel sich drängender, brüllender und gestikulie-
renden Menschen wohl geeignet, demjenigen, der zum erstenmal die Galerien
eines Börsenraums betritt, Befremden und Widerwillen einzuflößen.
Die einzelnen Geschäftsabschlüsse an der Börse kommen natürlich zu ver-
schiedenen Preisen zustande. Es differieren oft alle einzelnen Abschlüsse von-
einander. Immerhin liegt es, wie
Die Börse. 294
früher (S. 276 f.) erörtert wurde, im Wesen jedes M a r k t e s , daß die ver-
schiedenen Preise, da ja Verkäufer und Käufer an Ort und Stelle sind, da die
Gebote und Abschlüsse sich öffentlich für jeden hörbar vollziehen und die Re-
flektanten miteinander konkurrieren, in jedem gegebenen M o m e n t nicht
nennenswert voneinander abweichen werden. Darauf beruht die Möglichkeit der
K u r s n o t i z e n , deren außerordentliche Bedeutung gleichfalls schon früher
(S. 277) besprochen ist. Für welche Gegenstände Kurse notiert werden, ergibt
sich bei P r o d u k t e n , die sich ja ihrer Art nach nicht ändern und neu ent-
stehen, aus dem tatsächlichen Vorhandensein oder Fehlen eines börsenmäßigen
Handels von selbst. Hingegen werden fortwährend neue W e r t p a p i e r e
durch Entstehung von Aktiengesellschaften, Schuldaufnahmen usw. g e -
s c h a f f e n , und da diese doch unter Umständen recht zweifelhafte Existen-
zen sind, so haben alle größeren Börsen die Bestimmung, daß im a m t l i -
c h e n Kursblatte eine Notiz erst nach besonderer Z u l a s s u n g des Pa-
piers dazu stattfinden darf. Regelmäßig dürfen da, wo noch vereidigte Makler
oder ähnliche amtliche Vermittler bestehen, diese vorher kein Geschäft darin
vermitteln. Der Antrag auf Zulassung eines Papiers zur Notiz wird regelmäßig
von dem- oder denjenigen Bankhäusern ausgehen, welche dasselbe »emittie-
ren«, d. h. dem Ausgeber des Papiers (z. B. dem Staat, welcher die Anleihe
»aufnehmen«, d. h. die Schuldscheine verkaufen möchte, dem Verband von Per-
sonen, welche eine Aktiengesellschaft »gründen« möchten und dazu noch weite-
re Teilnehmer brauchen) abnehmen, um es beim Anlage suchenden Publikum
durch öffentliche Aufforderung zur »Subskriptio unterzubringen. Zwar
kommt es in großem Umfang vor, daß ein Wertpapier ohne formelle öffentliche
»Emissiound die sich daran anschliende Einführung an der Börse beim Pu-
blikum eingebürgert wird, durch Privatempfehlung von Bankiers an ihre Kunden
in Verbindung mit Zeitungsreklame. So zur Zeit die mehrfach recht elenden
überseeischen Goldminenaktien, welche unter Umgehung der deutschen rsen
»eingeschmuggelt« werden. Aber solide Kapitalisten werden regelmäßig nur
solche Papiere zu kaufen geneigt sein, welche sie gegebenenfalls jederzeit an ei-
ner d e u t s c h e n Börse zu verkaufen in der Lage sind, zu einem Preise, den
ihnen ein deutsches Kursblatt zeigt. Die Zulassung zur Börse ist deshalb von
gewaltiger Bedeutung für die Frage, in welchen Papieren die Nation im allge-
meinen ihre Er-
II. Der Börsenverkehr. 295
sparnisse anlegt. Mit Recht wird deshalb verlangt, daß die Behörden regelmä-
ßig gewählte Börsenausschüsse welche darüber entscheiden, mehr als bisher,
wo meist nur die äußere Ordnungsmäßigkeit des Papiers geprüft wurde, auch die
»Güte«, d. h. die voraussichtliche Zahlungsfähigkeit des Ausgebers prüfen. All-
zuviel darf man freilich nicht erwarten, auch nicht von einer noch so umfassen-
den Staatsaufsicht darüber. An den argentinischen Anleihen hat Deutschland
mehrere hundert Millionen verloren, und als schlilich die Banken, bemerkend,
daß das Land über seine Verhältnisse lieh, den weiteren Kredit verweigerten,
suchte das Auswärtige Amt sie aus politischen Gründen umzustimmen. Gerade
bei solchen Objekten würde eben oft nur langjähriges Studium ein wirkliches
Urteil ergeben.
Die A r t d e r F e s t s t e l l u n g der Kurse in den gehandelten und zu-
gelassenen Objekten ist verschieden. Teilweise so in Amerika notiert man
den Kaufpreis jedes Geschäfts, welches die Parteien zu diesem Zweck anzeigen.
An diesen Anzeigen haben insbesondere die Kommissionäre ein Interesse, da
sie, wie wir sehen werden, auf Grund der notierten Preise mit ihren Kunden ab-
rechnen. Meist aber werden aus den M a k l e r n Auskunftspersonen ausge-
wählt, welche über die Kurse, zu denen gehandelt ist, einem Börsenbeamten
Angaben machen. Dabei kann dann z. B. – wie es oft geschieht – der am Anfang
und der am Schluß der Börsenzeit vorhanden gewesene Preisstand und außer-
dem noch der niedrigste und höchste hrend derselben in einem Abschluß er-
reichte Preis notiert werden. Oder man sucht etwa festzustellen, zu welchem
Preise man mit einiger Sicherheit nach den bekannt gewordenen Verkaufsange-
boten noch Quantitäten des betreffenden Objektes hätte kaufen nnen und zu
welchem man andererseits nach den bekannt gewordenen Kaufsangeboten hätte
verkaufen nnen und notiert je nach den Ergebnissen des Verkehrs den ersten
als Angebots-(»Brief-«) oder den letzten als Nachfrage-(»Geld-«)Preis, oder
beide zusammen, oder einen von ihnen neben einem Preis, der ergibt, zu wel-
chen Kursen Geschäfte zustande gekommen sind
1)
. –
Nicht nur die einzelnen Abschlüsse an der Börse unterscheiden sich in der
Höhe des vereinbarten Preises, sondern es unterschei-
1)
Z. B.: »249
1
/
2
B. 248
3
/
4
G.« – »249 bz.« heißt, daß zu diesem Preis Abschlüsse gemacht
worden sind, »249 bz. B.«, daß zu diesem Preis Geschäfte zustande kamen, aber noch ein
weiteres Angebot da war. Hier kann ich auf Einzelheiten und Besonderheiten (z. B. der Berli-
ner Notiz) nicht eingehen.
Die Börse. 296
det sich aus den verschiedensten Gründen oft die gesamte P r e i s l a g e der-
selben Ware an einem Börsenplatz sehr erheblich von derjenigen an einem an-
dern. Wenn z. B. einmal Frankreich verhältnismäßig mehr russische Waren im-
portiert und zu bezahlen hat als Deutschland, und deshalb an die Pariser Börse
ein verhältnismäßig stärkerer Kaufbedarf der importierenden Kaufleute nach
Wechseln »auf« Rußland oder russischen Noten gelangt, als an die Berliner, so
werden für russische Noten nicht nur in einzelnen Fällen höhere Preise in Paris
gezahlt werden, als in Berlin, sondern auch der Durchschnitt aller gezahlten
Preise wird in fühlbarer Weise abweichen und die allgemeinen Chancen (Aus-
sichten) für einen möglichst teueren Verkauf der russischen Noten in Paris gün-
stiger sein als in Berlin: es entwickeln sich ö r t l i c h e Preisunterschiede.
Ebenso wirken zahlreiche allgemeine Ursachen auf die Herbeiführung z e i t -
l i c h e r Unterschiede in der allgemeinen Preislage, auch an demselben Bör-
senplatz. Es ist z. B. leicht verständlich, d unmittelbar nach der Ernte, wenn
von allen Seiten Getreidevorräte an die großen Handelsplätze strömen, die
Chancen, hohe Preise für das Getreide zu erzielen, an sich ganz allgemein un-
günstigere sein müssen als später, wenn die Vorräte teilweise aufgezehrt sind,
und daß ebenso zu denjenigen Zeitpunkten, wo z. B. üblicherweise die Bezah-
lung russischer Waren zu erfolgen pflegt, der Preis der Noten durch verstärkte
Nachfrage in die Höhe getrieben wird. Diese stets wieder auftretenden örtlichen
und zeitlichen Unterschiede in der allgemeinen Preislage einer Ware zur Erzie-
lung von Gewinn auszunutzen, ist das Bestreben derjenigen Handelstätigkeit,
welche zwar sehr mit Unrecht hie und da als dem Börsenhandel allein eigentüm-
lich angesehen wird, die aber allerdings im Börsenverkehr den höchsten Grad
ihrer Entfaltung erreicht und für die besondere Art der Preisbildung ebenso wie
für die Geschäftsformen der Börse entscheidend ist: d e r S p e k u l a t i -
o n . Man kann die börsenmäßige Spekulation im weiteren Sinn, als die auf
Gewinn am Unterschied zwischen Kauf- und Verkaufspreis einer rsengängi-
gen Ware abzielende Handelstätigkeit weiter einteilen in A r b i t r a g e
Ausnutzung ö r t l i c h e r und Spekulation i. e. S. Ausnutzung z e i t -
l i c h e r Preisunterschiede. Der »Arbitrageur« sucht seinen Gewinn, indem er
g l e i c h z e i t i g eine Ware an dem Platz, wo sie zur Zeit teuer abzusetzen
ist, verkauft, und an demjenigen, wo sie billig zu
II. Der Börsenverkehr. 297
erwerben ist, einkauft. Sein Gescft ist also ein reines Rechenexempel. Er steht
am Telephon oder läßt sich telegraphisch Mitteilungen und Angebote von aus-
wärtigen Plätzen machen, und sobald er die Möglichkeit z. B. durch Einkauf von
Wechseln auf Rland oder russischen Noten in London und Verkauf derselben
in Paris einen Gewinn zu machen bemerkt, gibt er per Telephon und Telegraph
seine Aufträge. Die Gewinnchance beruht dabei wesentlich auf der G e -
s c h w i n d i g k e i t der Ausnutzung einer sich zeigenden örtlichen Preisdif-
ferenz, und da der Arbitrageur dabei nicht nur die an den auswärtigen Plätzen
geltenden hrungen ineinander umrechnen, sondern auch die Verschiedenheit
der für die Erfüllungszeit, für die nebenher zu zahlenden Zinsen, Provisionen
und Courtagen geltenden Gebräuche im Kopf haben und bei der mit Blitzes-
schnelle erfolgenden Berechnung berücksichtigen muß, so muß er im Kopfrech-
nen oft geradezu Erstaunliches leisten und gehört sein Geschäft zu den nerven-
zerrüttendsten, die es gibt. Dafür bietet es, wenn nur richtig gerechnet ist, kei-
nerlei sonstige Gefahr, deshalb aber auch, wenigstens wenn man die Höhe der
Umsätze mit dem erzielten Gewinne vergleicht, nur verhältnismäßig niedrige
Gewinnchancen. Bei der S p e k u l a t i o n i. e. S. fallen der billigere Ein-
kauf und der teurere Verkauf nicht ö r t l i c h , sondern z e i t l i c h ausein-
ander. Der Spekulant schließt den einen, weil er in Z u k u n f t zufolge einer
Aenderung der allgemeinen Kaufs- und Verkaufschancen, deren Eintreten er
erwartet, den andern machen zu können hofft. Schon daraus ergibt sich, daß sein
Geschäft k e i n reines Rechenexempel ist, denn sein Erfolg hängt von dem
Eintreten der erwarteten A e n d e r u n g der allgemeinen Preislage der be-
treffenden Ware ab, und der Spekulant muß die Gesamtheit der hierfür mögli-
cherweise mitwirkenden Umsnde in Betracht ziehen. Günstige Witterung im
Sommer wird ihn auf gute Ernte und Sinken der Getreidepreise im Herbst, Ge-
rüchte von diplomatischen Verwicklungen auf abnehmende Neigung, Papiergeld
und Schuldverschreibungen von großen Militärstaaten zu besitzen, also auf Sin-
ken der Preise derselben rechnen lassen, aus einer guten Ernte Rußlands schließt
er auf große Getreideausfuhr, also großen Bedarf nach russischem Geld zum
Bezahlen derselben und steigende Notenpreise usw. Ein erheblicher Teil aller
der zahllosen, schließlich auf das Maß der zukünftigen Kauf- oder Verkaufsnei-
gung in einer bestimmten
Die Börse. 298
Ware oder einem Papier einwirkenden Umstände wird ihm freilich auch bei um-
fassendster Kenntnis der gegenwärtigen Sachlage stets verborgen bleiben müs-
sen, und es steckt insofern stets ein gewisses hazardartiges Moment (ein Stück
Glücksspiel) in dem Versuch, an Zukunftschancen zu profitieren, allein dies
teilt die börsenmäßige Spekulation mit jeder Art des Handels überhaupt.
Wir ssen nun den G e s c h ä f t s f o r m e n , deren die Spekulation sich
bedient, unsere Aufmerksamkeit zuwenden.
Die einfachste Grundform der Geschäfte an der Börse, beim Effektenhandel
»Kassa«geschäft, bei Produkten »Loko«geschäft genannt, ist ein alsbald durch
bare Zahlung gegen Uebergabe der Ware zu erfüllendes Kaufgeschäft. Erfüllt
eine Partei trotz Mahnung nicht rechtzeitig, gerät sie »in Verzug«, so hat regel-
mäßig der Gegenpart das Recht der »Zwangsregulierung«, d. h. der nichtsäumi-
ge Käufer darf die betreffenden Waren anderweit von einem Dritten kaufen, der
nichtsäumige Verkäufer sie an einen andern verkaufen wobei sie, je nach Ge-
setz und Gebrauch, gewisse Formen innezuhalten haben und sie nnen dann
die Erstattung des Unterschieds im Preise verlangen, der sich dabei etwa zu ih-
ren Ungunsten gegenüber dem Kontraktspreis ergeben hat: der Käufer also,
wenn er teurer einkaufen mußte, als der Preis war, zu dem ihm der umige zu
liefern zugesagt hatte, die Differenz der beiden Kaufpreise, und entsprechend
der nichtsäumige Verkäufer. Dieser einfachen Geschäftsform bedienen sich na-
turgemäß alle diejenigen, welche Waren und Wertpapiere kaufen wollen, um sie
zu b e h a l t e n oder zu v e r b r a u c h e n , also: Kapitalisten resp. die
Kommissionäre von Kapitalisten, welche die gekauften Papiere als Kapitalanla-
ge behalten wollen, Müller, die das Getreide vermahlen, Zuckerraffineure und
Kammgarnspinner, die den Rohzucker und Kammzug weiterverarbeiten wollen.
Hingegen ist sie nicht die geeignetste Geschäftsform für die S p e k u l a t i -
o n .
Zwar kann man gewisse einfachste Spekulationen auch in Form dieses einfa-
chen Bargeschäfts machen. Wenn jemand nach der Ernte Getreide einkauft, bar
bezahlt und in Erwartung eines künftigen steigenden Begehrs auf Lager legt, um
es im Frühjahr gegen bar mit Gewinn zu verkaufen, oder ein anderer es mit rus-
sischen Noten oder sonstigen Wertpapieren, für die er aus irgendeinem Grunde
eine verstärkte Nachfrage erwartet,
II. Der Börsenverkehr. 299
ebenso macht, so ist dies die einfachste Form spekulativen Handels. Sie ist stets
vorgekommen. Alle Gesetzgebungen der Vergangenheit und auch die Literatur
einschließlich der Schriften der Kanonisten und z. B. Luthers sind voll von zor-
nigen Ausfällen gegen die »Aufkäufer«, die »Monopolia« und wie sonst ähnli-
che spekulative Gescfte genannt wurden. Aber offenbar kleben jener Form der
Spekulation vom Standpunkt des spekulierenden Händlers aus gesehen – meh-
rere Unvollkommenheiten an. Man kann in dieser einfachen Weise des Barein-
kaufs von Ware, die man künftig verkaufen will, nur auf ein Steigen des Getrei-
des, der Noten usw. im Preise spekulieren (»à la hausse«, wie der übliche bör-
senmäßige Ausdruck heißt), nicht aber auf ihr S i n k e n »à la baisse«). Fer-
ner: man kann bei diesen einfachen Bargeschäften nur Ware zum Spekulieren
verwenden, die am Markt schon vorhanden ist – gegenwärtige Ware – nicht aber
Zukunftsware d. h. solche, deren Eintreffen für die Zukunft erwartet wird, die
zur Zeit noch auf dem Meere schwimmt oder gar noch auf dem Halm chst.
Man braucht eben zu jedem Spekulationsgeschäft schon beim A b s c h l u ß
ein Quantum wirklich vorhandener Ware, und dadurch ist die Zahl der mögli-
chen Spekulationsgeschäfte begrenzt. Endlich: der Spekulant, welcher Getreide-
vorräte usw. aufkauft, um sie künftig bei gestiegenen Preisen auf den Markt zu
bringen, muß ein sehr bedeutendes Kapital in diesen Vorräten »festlegen«, über
welches er nun, bis er dieselben wieder verkauft hat, nicht verfügen kann. Er
muß deshalb überhaupt ein sehr kapitalkräftiger Mann sein und dadurch ist der
Kreis der Personen, die an der Spekulation teilnehmen nnen, eng begrenzt.
Schon deshalb ist auch die Gefahr, das » R i s i k o « , dieses Spekulanten sehr
bedeutend, da bei dem beschränkten Vorrat an Ware und dem begrenzten Kreis
der am spekulativen Handel teilnehmenden Personen es sehr zufällig ist, ob und
wann man mit einiger Sicherheit darauf zählen kann, einen Abnehmer für be-
stimmte Quantitäten der aufgespeicherten Ware zu finden, und weil ferner die
Preisschwankungen, wenn bei beschränkten Vorräten gre Aufkäufe und mas-
senhafte Veräußerungen miteinander abwechseln, naturgemäß sehr heftige sein
ssen. Dem allen kann nur abgeholfen werden, wenn einmal 1. möglich ge-
macht wird, ohne bedeutendes eigenes Kapital zu spekulieren, wenn ferner 2. es
ermöglicht wird, daß ein und dasselbe Quantum Ware oder Wertpapiere nicht
nur zu einer,
Die Börse. 300
sondern zu mehreren spekulativen Geschäftsabschlüssen benutzt wird, und zwar
3. so, daß man nicht nur in Erwartung steigender Preise auf Spekulation kaufen
kann, um später teurer zu verkaufen, sondern auch in Erwartung s i n k e n -
d e r Preise auf Spekulation v e r kaufen kann, um später billiger e i n zukau-
fen. Dies alles leistet in technisch vollkommenster Weise diejenige Geschäfts-
form, welche an den entwickeltsten Börsen der Welt heute als Form des Speku-
lationshandels vorherrschend geworden ist: das T e r m i n g e s c h ä f t .
Das Wesen des Termingeschäfts besteht in folgendem:
Statt daß der Spekulant mit der Bedingung s o f o r t i g e r Abnahme und
Lieferung der Ware gegen bare Bezahlung kauft und verkauft, wird die beider-
seitige Erfüllung auf einen bestimmten z u k ü n f t i g e n Termin, z. B. einen
bestimmten Kalendertag hinausgeschoben. Bis dieser Zeitpunkt heranrückt, ha-
ben beide, der Käufer sowohl als der Verkäufer, Muße, eine ihnen gewinnbrin-
gende »Realisation« des Engagements« zu versuchen. Das heißt: der Spekulant
(»Haussier«), welcher zu einem bestimmten Preise auf Termin in Erwartung
s t e i g e n d e n Kaufbegehrs gekauft hat, hofft und wünscht, bis der Termin,
an dem er a b n e h m e n und b e z a h l e n muß, heranrückt, jemanden zu
finden, dem er die Ware zu einem h ö h e r e n Preise auf denselben Termin
v e r k a u f e n kann, der Spekulant (»Baissier«) umgekehrt, welcher in Er-
wartung relativ s i n k e n d e r Nachfrage zu jenem Preise auf Termin
v e r k a u f t hat, hofft, bevor der Termin heranrückt, an dem er die Ware ge-
gen Barzahlung zu liefern hat, sie sich von einem Dritten zu einem b i l l i -
g e r e n Preise verschaffen zu nnen. Den Unterschied zwischen Einkaufs-
und Verkaufspreis wollen beide gewinnen, der eine, der Terminkäufer, die Dif-
ferenz zwischen seinem heute abgeschlossenen Einkauf und seinem künftig ab-
zuschließenden Verkauf, der Termin v e r käufer diejenige zwischen seinem
heute abgeschlossenen Verkauf und dem künftig abzuschließenden Einkauf. Of-
fenbar ist also durch die Verwendung dieser Geschäftsform zunächst erreicht,
daß man nicht nur auf Spekulation k a u f e n , sondern auch auf Spekulation
v e r k a u f e n kann, also sowohl auf künftige Preis s t e i g e r u n g , als auf
künftige Preis s e n k u n g spekulieren kann. Es ist nunmehr nicht nur mög-
lich, daß nach der Ernte jemand, der für den Sommer bei abnehmenden Vorräten
steigende Preise
II. Der Börsenverkehr. 301
voraussieht, einen Kauf abschließt, der im Sommer erfüllt werden soll, und den
er bis dahin durch einen teureren Verkauf auf denselben Termin vorteilhaft
»einzudeckehoffen kann, sondern es ist ebenso möglich, daß jemand, der im
Sommer eine gute Ernte und also für den Herbst sinkende Preise erwartet, einen
Verkauf abschließt, der im Herbst erfüllt werden soll, und den er bis dahin durch
einen billigeren Einkauf zu »realisieren« beabsichtigt. Des weiteren ist beim
Termingeschäft das für den Spekulanten erforderliche Kapital ein weit geringe-
res. Wer in Getreide »à la hausse« spekuliert, braucht nicht mehr einen gewalti-
gen Geldbetrag heute zum Bareinkauf von Getreide zu verauslagen, den er
wenn die Spekulation glückt erst nach Monaten beim Verkauf zurückerhält; er
l e i s t e t im Moment des Gescftsabschlusses noch gar nichts, sondern
v e r s p r i c h t seinem Gegenpart nur in einem z u k ü n f t i g e n Moment
die Ware abzunehmen und zu bezahlen. Glückt seine Spekulation, so hat er bis
dahin mit Gewinn »realisiert«, d. h. die Ware auf denselben Termin einem an-
dern teurer verkauft, er nimmt sie seinem ursprünglichen Gegenpart ab und lie-
fert sie weiter an den, welchem er sie weiter verkauft hatte; dieser letztere zahlt
ihm den Preis, zu dem er sie ihm v e r kauft hat, und er zahlt dann an seinen ur-
sprünglichen Gegenpart den Preis, zu dem er sie seinerzeit g e kauft hatte; die
Differenz beider behält er als Gewinn. M i ß glückt die Spekulation des Ter-
minkäufers, sinken also die Preise und gelingt es ihm nicht, vor dem Erfüllungs-
termin einen Abnehmer zu einem h ö h e r e n Preise zu finden, als der ist,
den er seinem Gegenpart zu zahlen versprochen hat, so wird er eben mit V e r -
l u s t realisieren müssen, d. h. schließlich zu einem niedrigeren Preise weiter-
verkaufen, und er wird dann bei Abnahme der Ware, statt von dem Preise, der
ihm gezahlt wird, etwas als Gewinn einbehalten zu nnen, noch etwas draufle-
gen müssen, um seinem Gegenpart den vereinbarten Preis zu leisten. Und ent-
sprechend liegt es für den verkaufenden Baissespekulanten. Mithin bedarf der
Spekulant eignes Kapital nur in verhältnismäßig bescheidenem Umfang, denn es
kommt beim Terminhandel nur darauf an, daß die beiden miteinander abschlie-
ßenden Spekulanten sich einander gegenseitig zutrauen nnen, der andere wer-
de imstande sein, bei einer ihm ungünstigen Preisentwicklung den ihm erwach-
senden in der D i f f e r e n z der Preise bestehenden Verlust zu erschwingen,
weil jeder annimmt, daß er
Die Börse. 302
selbst und sein Gegenpart in jedem Augenblick sein Engagement auf dem Mark-
te werde r e a l i s i e r e n , d. h. mit einem dritten ein Gegengeschäft über
denselben Gegenstand auf demselben Termin abschließen und sich so der Not-
wendigkeit entziehen nnen, die zu liefernde Ware s e l b s t vor dem Ter-
min vorrätig zu halten oder das Geld für die v o l l e Zahlung des Kaufpreises
zu beschaffen. Damit aber wirklich Gewähr für die glichkeit besteht, j e -
d e r z e i t auf dem Markte Händler zu finden, welche dem Haussespekulanten
die von diesem gekaufte Ware zum bestimmten Termin als ufer abzunehmen
und solche, welche die vom Baissespekulanten als Verkäufer zu liefernde Ware
an dem betreffenden Termin als Verufer zu liefern bereit sind, ist eins Vor-
aussetzung: es kann sich weder um ganz beliebige Arten von Ware oder Papie-
ren, noch um völlig beliebige Beträge derselben oder um ganz individuelle Lie-
ferungstermine handeln. Wollte ein Spekulant von einem andern z. B. für 1223
Mark 76 Pf. verschiedene vereinbarte Qualitäten Baumwollstoffe, lieferbar und
zahlbar an einem bestimmten beliebig festgesetzten Kalendertage kaufen, so wä-
re es ziemlich sicher, daß es weder dem ufer gelingen würde, jemanden an
der Börse zu finden, der gerade dasselbe Quantum derselben Qualitäten an ge-
nau demselben Tage ihm abzunehmen bereit sein würde, noch dem Verkäufer,
jemand zu finden, der gerade diese Waren an diesem Tage liefern will. Damit
beide Teile sich darauf verlassen nnen, muß das Termingeschäft vielmehr
über Waren geschlossen werden, die fortwährend massenhaft, gerade i n
d e n Quantitäten und bei Produkten d e n Qualitäten, über die dasselbe
lautet, gehandelt werden, und muß auch der Erfüllungstermin gerade ein solcher
sein, auf welchen stets massenhafte Käufe und Verufe an der Börse abge-
schlossen werden. Dafür nun, daß dem so sei, sorgen die Börsengebräuche
(»Usancen«), auf Grund deren allein an der Börse Termingeschäfte abgeschlos-
sen werden. In ihnen ist ein für allemal die Q u a l i t ä t , welche bei Termin-
geschäften (in Produkten) zu liefern ist, festgesetzt
1)
, ferner ist festgestellt, über
welche Q u a n t i t ä t e n oder deren Vielfaches allein ein Termingeschäft (in
Effekten oder Produkten) geschlossen werden soll, die sogenannte Schlußein-
heit
2)
, von der schon einmal die
1)
Z. B. im Hamburger Kaffeeterminhandel »good average Santo-Kaffee, eine bestimm-
te brasilianische Kaffeequalität.
2)
Z. B. nur über 500 Sack Kaffee der bestimmten Qualität oder ein Viel-
II. Der Börsenverkehr. 303
Rede
war, und endlich sind auch die E r f ü l l u n g s z e i t p u n k t e
(»Termine«) auf welche allein die Termingeschäfte lauten sollen
1)
und alle ein-
zelnen Bedingungen und Vorschriften über die Art der Erfüllung ein für allemal
geregelt, so daß sämtliche jeweilig an einer Börse abgeschlossenen Terminge-
schäfte mit Ausnahme 1. der Person des ufers und Verkäufers, 2. der Preis-
vereinbarung, 3. des aus der Zahl der zulässigen Termine von den Parteien aus-
gewählten Erfüllungszeitpunktes, 4. der Anzahl von Malen, welche die Schluß-
einheit in dem ausbedungenen Quantum enthalten ist, einander gleichen wie ein
Ei dem andern. Es liegt auf der Hand, wie ungeheuer dadurch, daß fortwährend
tagaus tagein an der Börse massenhaft Kaufgeschäfte solcher absolut gleichmä-
ßigen Art abgeschlossen werden, die Wahrscheinlichkeit r den Spekulanten
steigt, jederzeit sein Engagement »realisieren«, d. h. wenn er z. B. ein Quantum
Ware bestimmter Art auf einen bestimmten Termin gekauft hat, dasselbe auf
denselben Termin wieder verkaufen zu nnen. Damit hängt dann die letzte, für
den Außenstehenden zuerst in die Augen fallende Eigenart des Terminhandels
zusammen: die weitgehende Loslösung des Umfangs der Umsätze von den am
Markt »effektiv« vorhandenen Vorräten. Um sie zu verstehen, ssen wir zuerst
auf die Form und die Art der Erfüllung (»Abwicklung«) der Termingeschäfte
noch etwas näher eingehen. Dabei ist zwischen den Termingeschäften in Pro-
dukten und in Effekten zu unterscheiden.
Beim Termingeschäft in P r o d u k t e n wird das ist der Grundgedanke,
auf dem seine Gestaltung beruht Ware verkauft, deren Eintreffen am Markt
zukünftig innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erwartet wird. Die üblichen
Erfüllungstermine sind demgemäß bei der tatsächlich vorherrschenden Form des
Termingeschäftes in Produkten F r i s t e n , z. B. von der Länge von 1-2 Mo-
naten, i n n e r h a l b deren der Verkäufer die Ware liefern und zu diesem
Zweck nach ihrem Eintreffen dem ufer zur Abnahme » a n k ü n d i g e n «
muß. Nimmt alsdann der Käufer nicht gegen Barzahlung ab, so ist er im »Ver-
zuge«, und der Verkäufer verkauft die Ware gegen bar anderweit und läßt sich,
wenn er dabei einen niedrigeren Preis erzielt, vom säumigen Käufer die Diffe-
renz erstatten; kündigt der Verkäufer
faches (1 000, 1 500 Sack) davon, oder nur über 10 000 Rubel Noten oder ein Vielfaches da-
von.
1)
Z. B. nur auf Ultimo (den letzten Tag des Monats). S. weiter unten im Text.
Die Börse. 304
bis zum Schluß der Frist nicht an, so ist er säumig und der Käufer verfährt ent-
sprechend. Nun ist es aber natürlich die Regel, daß der Käufer die Ware, die er
abnehmen soll, auf denselben Termin einem andern w e i t e r verkauft hat, und
in diesem Fall kündigt er sie weiter s e i n e m Käufer an, und dieser wieder
eventuell dem seinigen und so fort, so daß eine Reihe von Leuten vorhanden ist,
deren jeder die Ware vom Vormann gekauft und sie einem Nachmann weiter
verkauft hat, und durch deren Hände nun die Kündigung hindurchläuft. Es seien
z. B. im Juli verkauft von A an B 1000 Tonnen Weizen »per Oktober« zu 150
Mark pro Tonne. Der Verkäufer A ist nehmen wir an ein Weizenimporteur,
welcher im Juli in Argentinien zu einem bestimmten niedrigeren Preise ein
Quantum Weizen von ungefähr dieser Größe gekauft hat, dessen Eintreffen im
Herbst erwartet wird, und welches mit Berücksichtigung verschiedener Fracht-
und anderer Kosten, die dem Importeur entstehen, nach seiner Berechnung bei
einem Verkauf zu 150 Mark noch Gewinn abwirft. Statt zu riskieren, daß im
Oktober bei Ankunft des Weizens, falls z. B. die Ernte reichlicher als erwartet
ausfallen sollte, sich Käufer nicht mehr zu 150, sondern vielleicht nur noch zu
140 Mark finden, ihm also ein Verlust entsteht, verkauft A lieber s o f o r t zu
150 Mk., die ihm B, ein Spekulant, der aus irgendwelchen Gründen ein Steigen
der Weizenpreise im Herbst erwartet, jetzt bietet. Der Spekulant B seinerseits
verkauft nun im August, als sich ein ufer C findet, welcher per Oktober 151
pro Tonne zu zahlen bereit ist, den Weizen an diesen, da es ihm zweifelhaft ge-
worden ist, ob er ihn später noch teurer wird losschlagen nnen. C seinerseits
ist nun vielleicht ein Spekulant, der schon lange vorher z. B. im Mai – in Wei-
zen à la baisse spekuliert hatte und an D 1000 Tonnen Weizen per Oktober zu
149 Mark pro Tonne verkauft hatte, in der Erwartung, bis zum Herbst, wenn die
Ernteaussichten sich wie er erwartete besserten, und große Getreidezufuhr
aus Argentinien in Aussicht stehe, von einem Importeur ihn zu einem billigeren
Preise als 149 Mark per Oktober kaufen und so daran gewinnen zu nnen. Ihn
ergreift aber nun, da die Preise im Juli auf ungefähr 150, im August auf ungefähr
151 Mark gestiegen sind, die Besorgnis, der Preis möchte bis zum Oktober an-
haltend weiter steigen und er schließlich den Weizen, den er im Oktober an D zu
liefern hat, nur zu einem außerordentlich viel teureren Preise erhalten nnen,
also
II. Der Börsenverkehr. 305
schwere Verluste erleiden. Deshalb zieht er vor, lieber jetzt mit dem geringeren
Verlust zu »realisieren«. D endlich, der im Mai von C zu 149 pro Tonne per Ok-
tober gekauft hatte, kann z. B. der Kommissionär eines großen Müllers E sein,
der, als im Frühjahr Weizen zu diesem ihm sehr billig scheinenden Preise für
den Herbst zu kaufen war, sich den Weizen, den er im Winter vermahlen will,
durch Abschluß des Termingeschäfts per Oktober gesichert hat. Er entgeht da-
durch der Gefahr im Fall wie er befürchtet der Preis des Weizens später
steigt, ihn teurer bezahlen zu müssen und nachher beim Verkauf des Mehls ei-
nen geringeren Profit zu machen.
So entwickelt sich unter dem Einfluß der verschiedensten Interessen und Er-
wartungen der Beteiligten (A, B, C, D, E) eine Serie von Verkäufen und Käufen,
von denen einer immer an den andern sich anschließt. Nun wird es Oktober und
eines Tages trifft das von A gekaufte Quantum Weizen ein. A »kündigt« darauf
dasselbe zur Abnahme dem B mittels Zustellung einer kurzen, auf einem allge-
mein festgesetzten Formular, dem »Kündigungsschein« erfolgenden Benach-
richtigung an. B kündigt durch Weitergabe des Scheins, den er unterschreibt, an
C, C an D weiter und dieser benachrichtigt seinen Auftraggeber E, daß das
Quantum an ihn, den Kommissionär, gekündigt sei und zur Ablieferung gelan-
gen werde. Unter den vier an der Börse anwesenden Interessenten A, B, C, D
es können unter Umständen 20 und mehr Personen sein, durch deren Hände der
Kündigungsschein läuft pflegt man nun aber die Abwickelung dieser Engage-
mentsreihe dahin zu vereinfachen, daß man 1. an Stelle der in unserm Beispiel
d r e i maligen Uebergabe effektiver Ware von A an B, dann an C, dann an D,
die Lieferung von A, dem »letzten Verkäufer« d i r e k t an D, den »letzten
Käufer« setzt, A also an denjenigen liefert, welcher den Kündigungsschein
schließlich, da er die Ware nicht weiter verkaufte, behalten hat, und daß man 2.
ebenso die in unserm Beispiel dreimalige Zahlung: 150 000 Mark von B an
A, 151 000 Mk. von C an B, 149 000 Mk. von D an C, möglichst zu ersparen
sucht. Zu diesem letzteren Zweck pflegt man an den rsen für die einzelnen
auf Termin gehandelten Produktensorten täglich einen sogenannten »Abrech-
nungskurs« oder »Kündigungspreis« festzustellen, ungefähr in der Höhe der
durchschnittlich an dem betreffenden Tage für das Produkt gezahlten Preise.
D i e s e r wird von dem »letzten
Die Börse. 306
Käufer« (D) an den »letzten Verkäufer« (A) bei Abnahme der Ware bezahlt, und
die sämtlichen an der betreffenden Kündigungsreihe Beteiligten gleichen dann
untereinander die Unterschiede zwischen dem Preis, zu dem sie ge- resp. ver-
kauft haben und dem Abrechnungskurs aus. Nehmen wir z. B. an, in unserm Fall
erfolgte die Abwicklung am 11. Oktober und an diesem Tage habe der damit be-
auftragte Börsenbeamte als Kündigungspreis auf Grund der Beobachtung der an
diesem Tage geschlossenen Lokogeschäfte über Weizen der betreffenden Quali-
tät 152 Mark pro Tonne festgestellt, so geschieht die Abwicklung folgenderma-
ßen: A liefert die 1000 Tonnen statt an B an D und erhält von diesem 152 000
Mark bezahlt. Er hat damit 2000 Mark, die Differenz zwischen 152 000 und 150
000 Mark mehr erhalten als B ihm versprochen hatte, und hat daher diesen Be-
trag an B herauszuzahlen. D seinerseits hat 3000 Mark, die Differenz zwischen
152 000 und 149 000 Mark, mehr an A gezahlt, als er dem C zu zahlen schuldig
ist. Er erhält diese 3000 Mark von C erstattet. Damit sind A und D zu dem ihri-
gen gelangt. B hatte an C zu 151 per Tonne verkauft, der Abrechnungskurs be-
trägt 152, also zahlt er an C pro Tonne 1 Mark, zusammen also 1000 Mark her-
aus. Damit hat B, der für 150 000 Mark gekauft, für 151 000 Mark verkauft, also
1000 Mark gewonnen hatte, 2000 von A an ihn gezahlte Mark abzüglich 1000
von ihm an C weitergezahlte Mark, also, wie ihm zukam, 1000 Mark als Ergeb-
nis erhalten; C, der für 151 000 Mark getauft und für 149 000 Mark verkauft, al-
so 2000 Mark verloren hatte, hat 3000 Mark an D gezahlt, 1000 von B erhalten,
also verbleiben für ihn, seinem Anspruch gemäß, 2000 Mark Verlust. Der
Kommissionär D seinerseits erhält von seinem Auftraggeber, dem Müller E, die
149 000 Mark gegen Lieferung der Ware erstattet und dazu die ihm versproche-
ne Provision für seine Bemühung. Wie man sieht, dient in unserm Beispiel das
e i n e Quantum der 1000 Tonnen zur Abwicklung von drei Terminengage-
ments über je 1000 Tonnen, und werden durch die eine Zahlung des Kündi-
gungspreisbetrages von 152 000 und die drei Differenzzahlungen von 2000,
3000 und 1000 Mark, Kaufschulden von 150 000, 151 000, 149 000 Mark ge-
tilgt. Da nun derselbe Kündigungsschein häufig durch sehr viel mehr Hände
geht, als in unserm Beispiel, und da die Geldschulden in einer sehr großen Zahl
von Fällen nicht durch Hingabe von Geldmünzen, sondern durch Umschreibung
in den Büchern großer Banken,
II. Der Börsenverkehr. 307
bei denen die betreffenden Händler ein Guthaben (Konto) besitzen, von einem
Konto auf das andre erfolgen, so ist die Ersparnis von »effektiver« Ware und ba-
rem Geld eine sehr bedeutende.
Dem Wesen nach gleichartig verläuft die Abwicklung der E f f e k t e n -
Termingeschäfte. In Effekten ist die bei uns üblichste Form der Termingeschäfte
der Kauf »per ultimo fix«, d. h. ein Kauf, welcher am letzten Tage des laufenden
Monats durch Lieferung und Zahlung erfüllt werden soll. In jedem einzelnen
Papier sind nun an jedem Monatsultimo eine sehr große Zahl von Lieferungs-
Verbindlichkeiten zwischen einer großen Zahl von Personen zu erfüllen, und
sehr viele Spekulanten haben in den Papieren, in welchen sie spekuliert haben,
jeder eine Mehrzahl von teils Lieferungs-, teils Abnahme-Verpflichtungen ge-
genüber einer Mehrzahl von Personen: sie haben je nach Gelegenheit von einem
einen Posten per Ultimo gekauft, bei gestiegenem Preise an einen andern per Ul-
timo einen Posten verkauft usw. Zur Abwicklung dieses Rattenkönigs von Kauf-
und Verkaufsverbindlichkeiten können sie sich dann am Ultimo entweder eines
ähnlichen Verfahrens bedienen, wie es beim Produktenhandel Anwendung fin-
det, d. h. ein Besitzer von Papieren, der solche per Ultimo verkauft hat, stellt
seinem Käufer einen Lieferungszettel zu, den dieser als Verkäufer weitergibt
und so fort, bis er in die Hände eines »letzten Mannes« gelangt, der die Papiere
behalten will und sie dann zu einem am Ultimo festgestellten Abrechnungskurs
abnimmt, worauf die Differenzen zwischen den Parteien gezahlt werden. So war
es bisher in London. Oder aber und dies ist an den Börsen des Kontinents
meist der Fall es wird in Gestalt des sogenannten »Kollektivkontors« oder
»Liquidationsbureadie Gesamtheit aller Verbindlichkeiten aller Spekulanten
in folgender einfacher Weise abgewickelt (»liquidiert«): Das an der Börse dazu
eingesetzte Bureau läßt sich von jedem am Terminhandel Beteiligten eine Auf-
stellung seiner Käufe und Verkäufe in jedem Papier einreichen, stellt für jedes
fest, wieviel jeder mehr g e kauft hat als v e r kauft oder umgekehrt, und weist
jeden, der einen bestimmten Betrag eines Papiers mehr g e kauft hat als v e r -
kauft, also diesen Betrag zu behalten hat, auf einen oder mehrere andre an, der
oder die zusammen ebensoviel in diesen Papier mehr v e r kauft als g e kauft,
also diesen Mehrbetrag zu liefern haben. Die so als »letzte Männer« aufeinander
Die Börse. 308
Angewiesenen liefern und beziehen die betreffenden Papiere gegen Zahlung des
zur Abrechnung an jedem Ultimo an den Effektenbörsen festgestellten soge-
nannten »Liquidationskurseund die Unterschiede dieses nur dem Zwecke der
Abrechnung dienenden Kurses gegeber den Preisen, zu welchen die Speku-
lanten miteinander ihre Termingeschäfte geschlossen hatten, gleichen diese in
der oben geschilderten Weise untereinander aus.
Bisher haben wir angenommen, daß die Terminkäufer und -Verkäufer, soweit
sie nicht die Ware als Käufer behalten wollen resp. als Verkäufer aus eignen
Vorräten liefern oder aus erster Hand an die Börse bringen, mit dem Heran-
kommen des Termins r e a l i s i e r e n ein Gegengeschäft schließen –, es
sei nun mit Gewinn oder Verlust, und dadurch die betreffende Spekulation zu
Ende führen. Dem ist aber nicht immer so. Es kann sein, daß der spekulierende
Käufer (Haussier), wenn der Termin der Erfüllung heranrückt, sich zur Beendi-
gung der Spekulation noch nicht entschließen will, weil die Preise jetzt gesun-
ken, oder nicht so erheblich, wie er annahm, gestiegen sind und ihm also Verlust
resp. kein ihm genügender Gewinn erwachsen würde, hrend er aus irgendei-
nem Grunde annimmt, daß der Kaufbegehr in Zukunft, z. B. im folgenden Mo-
nat, sich steigern, und er also Gelegenheit finden werde, die gekauften Waren
oder Papiere dann zu günstigerem Gewinn resp. höheren Gewinn bringenden
Preisen zu verkaufen. Das Entsprechende kann bei einem spekulierenden Ver-
käufer (Baissier) eintreten, der für die Zukunft Gelegenheit zu billigem resp.
noch billigerem Einkauf erwartet, als sie ihm bis zum Termin zu finden gelun-
gen war. In diesem Fall schreiten die betreffenden Spekulanten n i c h t zur
endgültigen Realisation des Engagements durch Abschluß eines Verkaufes bzw.
Kaufes auf den betreffenden Termin, sondern sie greifen zu demjenigen Mittel,
welches man in der Börsensprache » P r o l o n g a t i o n « nennt. Sie finden
nämlich Kapitalisten, welche über große Vorräte an Waren und Papieren verfü-
gen und bereit sind, dem Käufer (Haussier) das zur Abnahme und Bezahlung der
gekauften Papiere oder Waren erforderliche Geld zu l e i h e n gegen Hergabe
der von ihm gekauften Papiere und ihnen die gleiche Anzahl Papiere resp. Wa-
ren am n ä c h s t e n Termin gegen Rückzahlung des Geldes zurückzugeben,
und ebenso dem Verkäufer (Baissier) die Papiere oder Waren, die er verkauft
und zu liefern hat, zu leihen gegen Geld mit dem Versprechen, am nächsten
Termin
II. Der Börsenverkehr. 309
gegen Rückgabe der gleichen Anzahl Papiere oder Waren ihm das Geld wieder
herauszugeben. Der Haussier läßt also die Waren oder Papiere an den Kapitali-
sten liefern und bezahlt sie mit dessen Geld, der Baissier bezahlt aus dem Preis
dem Kapitalisten das Geld und liefert die von diesem dargeliehenen Papiere
oder Waren. Sie gewinnen damit eine Frist bis zum nächsten Termin z. B. bei
Effekten bis zum nächsten Ultimo um zu versuchen, nunmehr: der Käufer ei-
nen Abnehmer zu günstigerem Preise zu finden, der Verkäufer die Papiere oder
Waren billiger einzukaufen. Gckt dies, so läßt sich nun am nächsten Termin
der Haussier die Waren oder Papiere, der Baissier das Geld von den Kapitalisten
zurückgeben, erfüllen damit ihrerseits das Realisationsgeschäft, und es leistet
der Haussier aus dem Preise, den er erhält, dem Kapitalisten das dargeliehene
Geld, der Baissier durch Hingabe der eingekauften Waren oder Papiere das ihm
in solchen gewährte Darlehen zurück. Spekulanten, die als unsicher gelten, müs-
sen eventuell noch besondere Sicherheit durch Pfand dafür geben, daß sie zur
Rückerstattung des geliehenen Geldes oder der Waren und Papiere gegen Her-
ausgabe dessen, was sie dafür gegeben haben, imstande sein werden. Die Ka-
pitalisten ihrerseits, die so für den Zeitraum zwischen zwei Terminen Geld ge-
gen Hergabe von Papieren oder Waren, und umgekehrt Waren oder Papiere ge-
gen Hergabe von Geld darleihen, benutzen dies sogenannte » R e p o r t g e -
s c h ä f t « als sehr bequeme und gefahrlose Form der Anlage ihres Kapitals,
denn selbstverständlich haben die Spekulanten den ihnen gewährten Kredit
durch Erstattung von Zinsen sogenannte »Prolongationszinsezu vergüten.
Man nennt denjenigen, der Geld auf Termin hergibt, und Waren oder Papiere
dafür erhält, »Hereinnehmer«, denjenigen, der auf Termin Waren oder Papiere
gegen Geld hergibt »Hereingeber«. Den besonderen Entgelt, den der erstere er-
hält, nennt man »Report«, denjenigen, den der letztere erhält, »Deport«
1)
. Der
»Prolongationszinsfuß« ist oft recht hoch. Dies besonders dann, wenn eine ein-
seitige Richtung der Preisentwicklung eingetreten ist, z. B. zufolge massenhafter
spekulativer Käufe zu hohen Preisen, und nun eine sehr große Anzahl von Spe-
kulanten ihre Engagements, da ihnen die Realisation auf dieser
1)
Die komplizierteren Grundlagen der Einzelberechnung je nach den Usancen über die
Erstattung der sogenannten »Stückzinsen« n e b e n dem Vertragspreise müssen hier über-
gangen werden, ebenso alle andren Einzelheiten.
Die Börse. 310
Preisgrundlage nicht gelingt, oder sie die weitere Entwicklung abwarten wollen,
gern prolongieren möchten. In diesen Fällen schröpft das Kapital die Spekulan-
ten oft in ganz ungeheuerlichem Maße.
Ueberblickt man diesen ganzen Mechanismus, so springt zunächst eins in die
Augen: die Unrichtigkeit der Meinung, als könne man aus der F o r m des
Termingeschäfts als solchen auf die Unreellität und den »Spielcharakter« des-
selben schließen. Es wird nicht zu leugnen sein, daß in unserm früheren Bei-
spiel der Getreideimporteur A sowohl als der Müller E, für welchen sein
Kommissionär D das Geschäft abschl, durchaus reelle Zwecke: Sicherung ei-
nes bestimmten Preises für die Zukunft, damit verfolgten. Es wäre sogar, wenn
es sich nicht um Geschäftshäuser mit ganz gewaltigen Kapitalien handelt, unter
Umständen eine direkte Unsolidität, wenn sie ihren Betrieb den Einflüssen un-
berechenbarer Preisschwankungen aussetzten und damit jede Grundlage für eine
solide Gewinnberechnung (»Kalkül«) zugunsten hazardartiger Chancen beseitig-
ten. Das Beispiel stellt aber keineswegs einen Einzelfall dar. Wer z. B. in der
Zeit stark schwankender Preise des russischen Papiergelds Waren aus Rland
bestellte und also künftig dorthin in Rubeln zu bezahlen hatte oder wer Bestel-
lungen auf Waren aus Rußland erhielt, also in Rubeln künftige Zahlungen ver-
sprochen erhielt, hätte oft ein ganz unberechenbares Risiko auf sich genommen,
wenn er nun hätte abwarten wollen, zu welchem Preise, in Mark berechnet, er
seinerzeit diese Rubelnoten würde kaufen oder verkaufen nnen. Jedes solide
Geschäft hätte dabei aufgehört. Er konnte dieses Element der absoluten Unsi-
cherheit aus seinen Berechnungen nur beseitigen, wenn er schon im Moment des
Abschlusses des Vertrages mit seinen russischen Kunden sich den j e t z i -
g e n Preis der Rubel für den Zeitpunkt der Erfüllung seines Geschäftes sicher-
te, indem er ein entsprechendes Quantum Rubel, je nachdem er in Zukunft in
Rubel zu zahlen oder Zahlung zu empfangen hatte, auf den geeigneten zukünfti-
gen Termin kaufte oder verkaufte. Nun könnte man etwa meinen, mindestens
dann, wenn jemand, wie oben B und C, auf d e n s e l b e n Termin ge- und
verkauft habe, handle es sich jedenfalls um ein reines Spekulieren auf steigende
oder sinkende Preise ohne Zusammenhang mit irgendeinem a n d e r e n reel-
len Geschäftszweck. Allein auch das trifft nicht zu. Ein Müller z. B., welcher
große
II. Der Börsenverkehr. 311
Mengen Getreide »loko« gegen bar zum Vermählen gekauft hat, unterliegt der
Gefahr, daß während des Vermahlens die Getreidepreise sinken, was selbstver-
ständlich auf die Mehlpreise ziemlich schnell zurückwirkt, sehr oft so schnell,
daß, wenn das aus den Vorräten hergestellte Mehl zum Verkauf kommt, der
Müller Verlust erleiden Würde. Hiergegen sichert er sich, indem er zur Zeit des
Getreideeinkaufs gleichzeitig auf den Zeitpunkt, zu welchem er das Mehl auf
den Markt zu bringen hofft, Getreide auf Termin verkauft. S i n k e n nun die
Getreidepreise, so verkauft er zwar sein Mehl mit Verlust, aber er gewinnt das
Entsprechende wieder, indem er das auf Termin verkaufte Getreide entspre-
chend billiger einkauft, steigen sie, so bringt das Termingeschäft, welches er
durch teureren Einkauf eindecken muß, Verlust, aber dafür gewinnt er an den
gestiegenen Mehlpreisen. Obwohl also hier von Anfang an die bestimmte Ab-
sicht vorliegt, j e d e n f a l l s nur durch ein Gegengeschäft, n i c h t durch
Lieferung aus eigenen Vorräten, zu erfüllen, obwohl also auf die D i f f e -
r e n z spekuliert wird, ist der geschäftliche Zweck: Versicherung gegen die
Gefahr der Preisschwankungen, sicherlich ein höchst reeller und solider, und das
Unterlassen dieser in Form des Termingeschäftes erfolgenden Versicherung -
re ebensowenig solid wie etwa das Unterlassen der Versicherung gegen Feuers-
gefahr. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Es zeigt sich, daß nicht die
äußere Form des Geschäftsabschlusses (auf Termin) oder der Geschäftserfüllung
(durch Gegengeschäft und Differenzzahlung) es ist, was über den Charakter des
Geschäfts entscheidet, sondern der innere ökonomische Zweck, welchen man
dem einzelnen Geschäft nicht ansehen kann. Der Uebergang zum »reinen«, auf
den nackten Differenzgewinn abzielenden »Jobber«geschäft ist ein allmählicher
und unmerklicher.
Dies um so mehr, als auch der reine gewerbsmäßige Terminkauf und –verkauf
n u r um des Differenzgewinnes halber anknüpft an eine Funktion, die dem
Börsenhandel seit alter Zeit unentbehrlich gewesen ist: die M a k e l e i . Von
der Stellung des Maklers haben wir früher gesprochen. Sie ist im Wesen diesel-
be geblieben, aber die Art ihrer Ausübung hat sich tiefgreifend geändert. Der
Makler der Vergangenheit war ein Mann, der nach erhaltenem Auftrag einen
Partner suchte, der auf die Bedingungen des Auftraggebers einzugehen bereit
war, dann die Parteien zusammenbrachte und nach geschlossenem Vertrag die
»Schluß-
Die Börse. 312
note darüber ausstellte und gegen deren Aushändigung die »Courtage« emp-
fing. Einen solchen Makler kann der heutige spekulative Verkehr nicht mehr
brauchen. Der Preis, zu dem auf dem Markte die Ware, um die es sich handelt,
zu kaufen oder zu verkaufen ist, ändert sich oft in wenigen Minuten. Die Zeit ist
kostbarer geworden im Verkehr, und der Auftraggeber, der um 12 Uhr 15 Minu-
ten den Makler um Besorgung des Verkaufes von 100 000 Rubeln per ultimo
zum Kurse von 211 Mark pro 100 Rubel ersucht, kann sich nicht darauf einlas-
sen, daß der Makler ihm verspricht, etwa in zwei Stunden Nachricht zu geben,
ob er zu diesem Preise einen Abnehmer gefunden habe, denn in diesen Stunden
kann sich alles geändert haben. Er verlangt vielmehr von dem Makler, der ja den
Markt kennen muß, daß dieser ihm sofort sagt, ob er die Rubel zu diesem Preis
unterbringen werde oder nicht. Will der Makler den Verdienst nicht verlieren, so
muß er sich alsbald erklären: er übernimmt also, wenn er meint, daß der verlang-
te Preis zu erzielen ist, den Posten fest zu dem betreffenden Preise unter »Vor-
behalt der Aufgabe« und sucht nun einen Partner dazu, den er alsdann seinem
Auftraggeber anzeigt (»aufgibt«). Findet er einmal keinen zu dem betreffenden
Preise, sondern nur zu einem niedrigeren, so muß er wohl oder übel den Fehlbe-
trag selbst zuschießen. Er sieht deshalb nicht ein, warum er nicht, wenn es ihm
umgekehrt gelingt, einen Partner zu einem dem Auftraggeber günstigeren (in
unserem Falle heren) Preis zu finden, als sein Auftrag lautete, den Unter-
schied für sich behalten soll, und so entwickelt sich aus diesen eben geschilder-
ten »Aufgabemaklern« ganz natürlich der Stand der »Propermakler« heraus,
Makler, welche überhaupt nicht mehr zwischen zwei Parteien einen Vertragsab-
schluß v e r m i t t e l n , sondern s e l b s t von der einen Seite kaufen und
nach der andern Seite verkaufen, und in der Differenz der beiden Preise statt wie
einst in der »Courtage« ihren Verdienst suchen. In London sagt ein solcher Pro-
permakler jedem, der ihn darnach fragt, zu welchem Preise er in dem betreffen-
den Moment kauft und zu welchem er verkauft. Seine Kunst ist, die beiden Prei-
se auf Grund genauer Kenntnis der Marktlage möglichst so zu stellen, daß er
das, was er von der einen Seite zu dem einen kauft, schleunigst nach der andern
zu dem andern wieder los wird und umgekehrt, was natürlich nicht immer ge-
lingt. Nur weil die Eigenart des Geschäfts dieser sogenannten Propermakler dar-
in besteht, daß sie möglichst
II. Der Börsenverkehr. 313
nur Engagements übernehmen, die sie nach der andern Seite alsbald weiter ge-
ben können, daß sie also, ö k o n o m i s c h berechnet, eben nur zwischen
dem g e g e n w ä r t i g e n Angebot und der gegenwärtigen Nachfrage
» v e r m i t t e l n « , nicht auf Kursgewinn durch k ü n f t i g e Veränderung
des Angebotes und der Nachfrage » s p e k u l i e r e n « , pflegt man sie noch
»Makler« zu nennen und unterscheidet sie von den »Spekulanteim eigentli-
chen Sinne des Wortes. Natürlich aber geht beides ineinander über, niemand
kann den »Propermakler« hindern, eben doch zu »spekuliere, und er tut es je
nach Gelegenheit. Wo die auch für den heutigen Verkehr meist unentbehrliche
Maklertätigkeit aufhört und die einfache Differenzspekulation anfängt, kann
niemand sagen. Und noch weniger kann man es natürlich dem einzelnen Ter-
mingeschäft ansehen, ob es das eine oder das andere ist
1)
. –
Man sieht aus allem Gesagten des weiteren: Die Vorstellung, daß die spekula-
tiven Börsengeschäfte eine Art Wette auf das Steigen oder Fallen der Kurse über
oder unter eine bestimmte Höhe seien, in der Form, daß von zwei Spekulanten
auf einen bestimmten Tag ein Scheinkaufgeschäft zu dem betreffenden Kurse
abgeschlossen wird, und je nachdem die Kurse über diese Höhe steigen oder
darunter fallen, der eine oder der andere die Differenz zahlt, um die er sich ver-
wettet hat, ist irrig. Auch solche Geschäfte kommen vor, aber n i c h t an der
B ö r s e , sondern z. B. in amerikanischen Kneipen, wo von der Börse aus
elektrisch regulierte Zeiger auf Kursuhren den Stand der Kurse anzeigen und
nun mit Einsätzen gewettet wird, wohin der Zeiger sich bewegen werde. Es
zeigte sich uns ferner, daß man überhaupt an der Börse es dem einzelnen Ge-
schäft nicht ansehen kann, ob es schließlich durch Gegengeschäft und alsdann
durch Differenzzahlung, oder durch Abnahme der Ware selbst und Vollzahlung
erledigt wird, und daß endlich, auch wo die Absicht, nur durch Gegengeschäft
und nicht durch »effektive« Abnahme zu realisieren, zweifellos feststeht wie
bei jenem Müller unsres Beispiels –, damit a l l e i n dem betreffenden Ge-
schäfte absolut kein Makel aufgedrückt ist.
1)
Ich kann aus Raummangel auf die mancherlei Nebenformen der spekulativen Geschäfte
die »Prämiengeschäft»Stellage-« und »Nochgeschäfte« nicht eingehen. Sie alle knüpfen
an ganz bestimmte, an sich reelle Geschäftszwecke an, wennschon sie unleugbar in besonders
hohem Maße zu wildem Spiel mißbraucht werden.
Die Börse. 314
Man sieht ferner wohl auch, in welchem Sinne es richtig ist, wenn man be-
hauptet, an der Börse fänden forthrend Umtze in Waren statt, welche »gar
nicht existieren«, und dies daraus schließt, daß, wenn man die auf einem Termin
gekauften Quanta zusammenrechnet, sie mehr ausmachen, als am Markt von der
Ware vorhanden ist, ja zuweilen mehr, als überhaupt davon z. B. von einem Pa-
pier existiert. Natürlich: wenn wir annehmen, daß die obigen 1000 Tonnen
Weizen durch 20 nde gehen, so sind, wenn man die Quanten der 20 Käufe
zusammenzählt, 20 000 Tonnen verkauft und nur 1000 liegen diesem Geschäfte
über jene 20 000 zugrunde. Allein das ist natürlich nicht nur im Börsenhandel
der Fall. Jede Kiste importierter Zigarren hat, bis sie in die Hand des Rauchers
gelangt, eine Mehrzahl von Händen durchlaufen und ist mehrere Male bezahlt
worden, und das hat seinen guten Grund in der Notwendigkeit der Arbeitsteilung
zwischen denen, welche den überseeischen Markt, wo die Ware hergestellt wird,
und denen, welche den deutschen Markt, der sie verbraucht, kennen, ferner zwi-
schen den mit der Technik der gren überseeischen Handelsbeziehungen be-
kannten Großhändlern und den Detaillisten, welche mit ihrem örtlichen Abneh-
merkreis vertraut sind. Addiert man alle jene sich aneinander schlienden Um-
sätze zusammen, so zeigt sich auch hier, daß mehr Zigarren verkauft sind, als
existieren. Wahr ist nur, daß das Termingeschäft die Zahl der Umsätze dessel-
ben Quantums ganz außerordentlich zu v e r m e h r e n gestattet und tatsäch-
lich vermehrt, insofern also in umgekehrter Richtung wirkt als die sonstigen
allgemeinen Entwicklungstendenzen der Handelsorganisation, welche in stei-
gendem Maße die Zahl der Mittelglieder v e r m i n d e r t haben. Der Ter-
minhandel wirkt in jener Richtung, indem er, in Gestalt der Hinausschiebung der
Erfüllung, auf K r e d i t zu spekulieren ermöglicht und zugleich das M a ß
des dem Spekulanten nötigen Kredits herabdrückt. Es genügt, um an der Speku-
lation teilzunehmen, wenn der Spekulant einen Partner finden kann, der ihn für
vermögend genug hält, um seinerzeit die D i f f e r e n z , die sich bei Fehl-
schlag seiner Spekulation zu seinen Ungunsten bei der Realisation ergeben
kann, decken zu nnen. Selbst dies Erfordernis wird an vielen Börsen beseitigt.
An den amerikanischen Börsen besteht die Einrichtung, daß jeder Spekulant so-
fort beim Abschluß des Geschäftes eine Geldkaution (»Marge«, deutsch »Ein-
schuß«) im
II. Der Börsenverkehr. 315
Betrage von einigen Prozent des Betrages bei einer Bank hinterlegt, die er nach
der Abwicklung zurückerhält. Zeigt später der Kurszettel eine Aenderung der
Kurse zuungunsten des Betreffenden – z. B. wenn er gekauft hat, ein Sinken der
Preise, so daß die Wahrscheinlichkeit besteht, er werde nur unter erhebliche-
rem Verlust realisieren nnen, als der ist, welchen seine Kaution deckt, dann
kann der Gegner »Nachschuß« zur Deckung dieses gesteigerten Risikos verlan-
gen. In Deutschland existiert zum gleichen Zweck im Produktenhandel mehr-
fach das Institut der » L i q u i d a t i o n s k a s s e n « , d. h. die Teilnehmer
am Handel in dem betreffenden Artikel (z. B. Kaffee in Hamburg) haben eine
Gesellschaft gegründet, welche von jedem von ihnen, der ein Termingeschäft
darin schließt, einen Einschuß und eventuell Nachschüsse erhebt, dafür aber die
Erfüllung aller Geschäfte mit ihrem Vermögen garantiert. Dadurch ist erreicht,
daß nun auch auf die P e r s o n des Spekulanten gar nichts mehr ankommt, da
ihm keinerlei Kredit gegeben wird: der eine ist so gut wie der andre, wenn er nur
die Kaution hinterlegt. Der Terminhandel führt also, sehen wir, zu einer gewal-
tigen » V e r b r e i t e r u n g d e s M a r k t e s « der Waren und Papiere,
in denen er stattfindet; sowohl die Zahl der Umsätze als der Kreis der Personen,
welche an diesen Umsätzen teilnehmen, ist bedeutend erweitert.
Er ist aber erweitert, unleugbar, nicht nur nach der Richtung, daß minder
b e m i t t e l t e , sondern auch daß minder s a c h v e r s t ä n d i g e Perso-
nen daran teilnehmen nnen. Der Spekulant, der heute in Weizen »fixt« und im
nächsten Monat zum Hafer übergeht, braucht zu beidem sonst nicht die gering-
ste berufliche Beziehung zu haben. Er hat sie auch oft genug nicht, sondern
s p i e l t eben ziemlich ins Blinde, einem dunklen Gefühl von der wahrschein-
lichen Richtung der Preisbewegung folgend, deren innere Gründe zu durch-
schauen und abzuwägen ihm jede Bildung fehlt. Der Mechanismus der Spekula-
tion ist eben ein so verhältnismäßig einfacher, daß er auch dem beruflich gänz-
lich Fernstehenden bald handlich erscheint, um da zu ernten, wo er nicht gesät
hat. Speziell dem »Publikum« draußen ist der Zutritt zur Spekulation zweifellos
durch die Natur des Terminhandels wesentlich erleichtert. Der Kommissionär,
an den sich der Außenstehende wendet, begnügt sich, wo ihm die Kreditwürdig-
keit zweifelhaft ist, einen »Einschuß« von einigen Prozent und, falls sich die
Kurse zuungunsten des Kunden ändern, so daß die Ver-
Die Börse. 316
lustchance desselben und damit das Risiko des Kommissionärs, daß der Kunde
diesen Verlust nicht zahlen kann, steigt, »Nachschüsse« zu verlangen. Im üb-
rigen schließt er im Auftrage des Kunden für dessen Rechnung das Gescft und
demnächst bei Heranrücken des Termins nach dessen Anweisung entweder ein
Realisationsgeschäft ab oder »prolongiert« das Engagement, indem er entweder
für Rechnung des Kunden ein Reportgeschäft abschließt, oder selbst als »Her-
einnehmer« die Papiere oder Waren bis zu einem folgenden Termin behält. –
Auch die Stellung des Kommissionärs hat sich nun in ähnlicher Weise wie
die des Maklers geändert. Im deutschen Handelsgesetzbuch wird als die Regel
behandelt, daß der Kommissionär im Auftrage des Kunden mit einem Dritten
abschließt. Aus diesem Abschluß ist er mithin berechtigt und verpflichtet: gegen
den Dritten hat der Kunde direkt keinerlei Ansprüche und umgekehrt, der
Kommissionär erledigt alles Weitere, nimmt Waren und Geld in Empfang und
legt dem Kunden dann Rechnung; Gewinnchance und Gefahr des Geschäftes
gehen auf Rechnung des Kunden, der Kommissionär erhält seine »Provision«.
Mit Vergrößerung der Verkehrskreise wird das teilweise anders. Der Kunde will
mit dem Dritten, dessen Person und Kreditwürdigkeit er nicht kennt, nichts zu
tun haben, sondern nur mit seinem Kommissionär. Diesem seinerseits ist es lä-
stig, stets speziell Rechnung legen zu müssen. Das ist auch schon deshalb oft gar
nicht möglich, weil der Kommissionär, wenn er – wie es ufig ist eine Mehr-
zahl von Aufträgen zum Kauf desselben Papiers bekommt, z. B. 5 verschiedene
Aufträge zum sofortigen Kauf von 10 000, 100 000, 30 000, 20 000 und 15 000
Mark, im ganzen also 175 000 Mark Nominalbetrag eines Papiers, diese Aufträ-
ge unter Umständen nur durch z. B. drei Käufe von 90 000, 60 000 und 25 000,
zusammen 175 000 Mark, zu 3 verschiedenen Preisen erledigen kann, also gar
nicht imstande ist, s p e z i e l l über den einzelnen Posten Rechnung zu legen,
und überdies vielleicht besser einen Teil aus eigenen Vorräten zulegen würde,
anstatt durch die starke Nachfrage den Preis für die Kunden allzustark zu ver-
teuern. Die Gesetze geben deshalb jetzt dem Kommissionär meist das Recht des
sogenannten »Selbsteintrittes«, d. h. sie gestatten ihm, statt jeder speziellen
Rechnungslegung dem Kunden einfach den im Kursblatt notierten B ö r s e n -
k u r s des betreffenden Zeitpunktes zu berechnen, indem sie an-
II. Der Börsenverkehr. 317
nehmen ob immer mit Recht werden wir noch sehen –, daß dadurch das Inter-
esse des Kunden genügend gewahrt und der Kommissionär sicher zu kontrollie-
ren sei. Für die Erfüllung des Geschäfts haftet dann der Kommissionär dem
Kunden persönlich. Von diesem Recht machen die Kommissionäre fast aus-
nahmslos Gebrauch, ohne Widerspruch der Kunden, welchen ja eben nur an der
Haftung ihres ihnen bekannten Kommissionärs liegt. Aber natürlich ist damit
der Schleier vor den Vorgängen auf der Börse für den draußenstehenden Kun-
den noch dichter zugezogen, als dies ohnehin der Fall ist. Was eigentlich hinter
diesem Schleier geschieht, wie die Kursnotizen zustande kommen, sieht der
spekulierende Kunde nicht. Die Markterweiterung durch Heranziehung des Pu-
blikums, wie sie das Termingeschäft erleichtert, zieht das ist zweifellos Leu-
te zum Börsenverkehr heran, die jeder Sachkunde und auch jedes Antriebes, sich
selbst für Gewinn und Verlust verantwortlich zu fühlen und also selbsndig die
Vorgänge auf der Börse zu prüfen, geradezu entbehren m ü s s e n .
Fragt man nun, welche v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e Bedeutung dieser
»Erweiterung des Marktes« zukommt, so ist das Interesse, welches zur Einfüh-
rung des Terminhandels in einem Artikel an einer Börse führt, in e r s t e r Li-
nie natürlich ein solches des ndlerstandes des betreffenden Platzes. Die Stei-
gerung der Zahl der Umsätze steigert die Wahrscheinlichkeit, dort jederzeit gro-
ße Posten Ware zu den dort laut Zeitungsbericht notierten Preisen absetzen und
einkaufen zu nnen. Diese Preise werden die maßgebenden für die Berechnun-
gen von Produzenten, Verkäufern und Händlern auch außerhalb des Platzes, und
dies alles führt dazu, daß Warensendungen von auswärts vornehmlich den dort
ansässigen Kaufleuten zur Verwertung angeboten werden und Kaufaufträge
vornehmlich an sie gelangen. Dadurch werden dann wieder die Umtze gestei-
gert. Damit werden in e r s t e r Linie die Verdienstchancen der Kaufleute des
betreffenden Platzes gehoben. In zweiter Linie aber steigt dadurch auch die wirt-
schaftliche Bedeutung und Macht des g a n z e n P l a t z e s andern und
dem Ausland gegeber. Der Kaufmann an dem Platz mit großem Markt kann
außerordentlich viel leichter den festen Ankauf großer Warensendungen vom
Auslande her unternehmen, da er, infolge der oben erörterten Möglichkeit sich
gegen Preisschwankungen zu versichern, ein weit geringeres Risiko trägt. Und
es bedeutet diese Steigerung
Die Börse. 318
der Machtstellung einheimischer Börsen im Verhältnis zu fremden, wie sie
zweifellos durch den Terminhandel mit herbeigeführt wird, auch einen gewalti-
gen Machtzuwachs der finanziellen und damit der politischen Machtstellung des
einheimischen Staatswesens. Es ist politisch n i c h t gleichgültig, ob die Ber-
liner oder die Pariser Börse fremden geldbedürftigen chten, wie z. B. Italien
und Rland, die besseren Chancen für den Absatz ihrer Schuldverschreibungen
bietet. Und es ist für die ökonomischen Interessen des Inlandes nicht gleichgül-
tig, ob inländische oder ausländische Kaufleute die Märkte beherrschen und wo
der Weltmarktverkehr eines für den einheimischen Verbrauch und die einheimi-
sche Produktion wichtigen Artikels sich konzentriert. Zweifellos wird diese
erhöhte Machtstellung des betreffenden Marktes durch mancherlei bedenkliche
Nebenwirkungen erkauft. Zunächst die zweifellose Steigerung der Teilnahme
Unberufener an der Spekulation, damit der Spielsucht des Publikums und der
Gelegenheit, sie an der Börse zu befriedigen. Man darf freilich die Tragweite
des Termingeschäftes nach dieser Richtung nicht überschätzen. Das Publikum
spielt, wenn ihm nur ein Bankier dafür Kredit gibt, ebenso im Kassageschäft, z.
B. durch Barankauf von Papieren in Erwartung einer Kurssteigerung, und gerade
die widerwärtigsten Vorgänge dieser Art der letzten Jahre z. B. die im Prozeß
Polke erörterten – waren solche spekulativen K a s s a geschäfte. Spekulationen
des Publikums in Form von K a s s a geschäften aber sind, der stärkeren Kurs-
schwankungen wegen, für dasselbe ungleich gefährlicher als die Terminspekula-
tionen. Man muß sich eben hüten zu glauben, mit Beseitigung d e s T e r -
m i n geschäfts beseitige man die S p e k u l a t i o n . Im Q u a n t u m
würde sie unzweifelhaft, weil kostspieliger, etwas eingeschränkt, in der Q u a -
l i t ä t aber, wie auf das deutlichste die des Termingeschäftes in Effekten ent-
behrende Neuyorker Börse zeigt, außerordentlich viel unsolider, weil bei dem
Mangel des breiten Marktes noch weit hazardartiger.
Der Gedanke, die Spekulation oder doch ihre Gefahren für das Publikum un-
terdrücken zu wollen, kann deshalb nimmermehr der H a u p t gesichtspunkt
sein, unter welchem man an die gesetzgeberische Behandlung des Börsenver-
kehrs herantritt.
Erfreulich ist es natürlich, wenn n e b e n h e r auch dem Zweck, die Au-
ßenstehenden möglichst gegen Ausbeutung zu schützen, gedient werden kann.
Ein Hauptsitz der verschieden-
II. Der Börsenverkehr. 319
sten Schäden liegt in dieser Beziehung zweifellos in der Art des Verhaltens der
K o m m i s s i o n ä r e gegenüber ihren Kunden. Der Kommissionär ist, sa-
hen wir, berechtigt, im Wege des »Selbsteintrittes« sich der Rechnungslegung
über die Art der Ausführung des Geschäftes zu entziehen, indem er dem Kunden
nur den amtlich notierten Börsenpreis berechnet. Dessen Feststellung kann aber
der Kommissionär durch seine e i g e n e n Spekulationsgeschäfte stark beein-
flussen, zumal soweit es sich um Papiere handelt, die nicht in sehr gren Be-
trägen im Handel sind, sog. »kleine« oder »leichte« Papiere, bei denen also je-
des einzelne auf dem Markt erscheinende Kaufsangebot beträchtlichen Umfan-
ges den Preis steigert, und am allermeisten bei solchen Papieren, die der Kom-
missionär selbst als »Emittent« (s. o.) in den Handel gebracht hat und von denen
er selbst die größten Vorräte besitzt. Hier ist das sogenannte »Kursmachen« und
»Aus-dem-Engagement-Werfezu Hause. Das heißt um wenigstens ein Bei-
spiel vorzuführen der Kommissionär veranlaßt etwa seinen Kunden, ihm auf
ein solches Papier einen Kaufauftrag per ultimo zu geben. Nachdem dies ge-
schehen und der Kunde den entsprechenden »Einschuß« (s. o.) geleistet hat, er-
hält er die Nachricht, daß der Kommissionär das Geschäft, »für ihn« zum Bör-
senkurse, der an dem betreffenden Tage notiert ist, »gemacht« habe, d. h. daß er
ihm die Papiere zu diesem Preis liefern werde. Womöglich hat der Kommissio-
när, indem er als Kaufreflektant auf einen kleinen Betrag zu hohem Preise auf
dem Markt erschien, jene Kursnotiz selbst künstlich herbeigeführt. Nunmehr
bietet der Kommissionär aus seinem Vorrat kleine Partien des Papiers zu billi-
gem Preis zum Verkauf aus. Es erscheinen infolgedessen niedrige Kursnotizen
im Kursblatt und der Kommissionär verlangt nun von dem Kunden zur Deckung
seines angeblichen Risikos die für diesen Fall vereinbarten »Nachschüsse«. Lei-
stet sie der Kunde nicht oder nicht rechtzeitig und oft ist in den Geschäftsbe-
dingungen Zahlung innerhalb 24 Stunden ausbedungen –, so hat dies regelmäßig
nach den Geschäftsbedingungen zur Folge, daß der Kommissionär berechtigt ist,
den Kunden als im Verzug befindlich zu behandeln und zur »Zwangsregulie-
rung« (s. o.) zu schreiten, worauf der Kunde die Differenz zu zahlen hat. Diese
unlautern Manipulationen sind aber sehr erschwert bei Papieren großen Betra-
ges, deren Preis schwer zu beeinflussen ist, und die Versuchung dazu besteht
Die Börse. 320
ferner wesentlich da, wo dieselbe Person zugleich Kommissionär also Ver-
trauensmann des Kunden und selbst Spekulant für eigene Rechnung ist. Je-
der Reformversuch würde hier einzusetzen haben.
Allein vom Standpunkt der Gesamtheit wichtiger als die Frage, ob und wie
das Publikum gegen die Folgen seiner eigenen Spielsucht geschätzt werden
kann, ist die Frage, welchen Einfluß die Formen des Geschäftsverkehrs, speziell
der Terminhandel, auf die Art, wie die Börse ihre wichtigste Funktion, die
P r e i s b i l d u n g versieht, ausüben. Auch hier sind Vorzüge und Schatten-
seiten des Terminhandels fast untrennbar vermischt. Ohne Zweifel versieht er in
technisch vollkommenster Weise die in hohem Grade nützliche und dem speku-
lativen Handel wesentliche Funktion der P r e i s a u s g l e i c h u n g . Da-
durch, daß der Arbitrageur zugleich in Paris billig kauft und in London teuer
verkauft, vermehrt er die Nachfrage dort und das Angebot hier, verteilt also die
Vorräte ö r t l i c h . Dadurch, daß der Spekulant nach der Ernte in Erwartung
einer Preissteigerung im Winter Getreide per Juni kauft und im Frühjahr per Juni
verkauft, veranlaßt er im Winter einen Teil der Besitzer von Getreide, dasselbe
nicht jetzt loko loszuschlagen zu niedrigem Preise, sondern auf Juni-Termin zu
dem Preis, den der Spekulant für diesen verspricht, also bis zum Heranrücken
dieses Termins auf Lager zu behalten, er vermindert also das Barangebot jetzt
und steigert die für künftig aufbewahrten Vorräte, verteilt sie also z e i t -
l i c h , über das Jahr hin
1)
. Die schroffen Schwankungen der allgemeinen Preis-
lage, die ohne Spekulation bestehen würden, werden dadurch gemildert. Aber
allerdings: an Stelle der großen, steilen Preiswogen tritt ein glich vibrierendes
Wellengekräusel. Denn die Spekulation ist, da sie in ihrem Erfolg nzlich von
der Entwicklung der Kauf- oder Verkaufsneigung der Beteiligten abhängt, sehr
empfindlich gegen jeden Vorfall, bei dem eine noch so unbestimmte glich-
keit dafür besteht, daß er auf die jetzige oder künftige Kaufneigung irgendeinen
Einfluß übe. Jeder starke Regenguß in der Erntezeit macht sich in den
Termingetreidepreisen fühlbar, und jede politische Nachricht – auch die
1)
Diese Wirkung vollzieht sich zwar in Wirklichkeit zumeist nicht ganz in dieser unmit-
telbaren Form, sondern etwas komplizierter, namentlich unter Dazwischentreten des Report-
geschäftes. Aber der Weg, auf dem sie erzielt wird, ist im Prinzip und Erfolg völlig derselbe.
II. Der Börsenverkehr. 321
unwahre wirkt auf die Preise zahlreicher Papiere. Diese in ihren Ursachen oft
nicht ganz zu durchschauende Unruhe in den Preisen ist naturgemäß namentlich
in Produkten für die Erzeuger hie und da unbequem. Dazu tritt der in gewissem
Sinn zutreffende Vorwurf, daß der Terminhandel auch der k ü n s t l i c h e n
Preisbeeinflussung im egoistischen Interesse großer Bankhäuser oder einzelner
Spekulanten besonders leicht zugänglich sei. Dies ist zunächst ganz allgemein
deshalb in gewissem M der Fall, weil der Terminhandel auch dem, der kein
eigenes Kapital besitzt, den Zutritt zur Spekulation erleichtert. Die große Schar
der kleinen, fast nur mit einer guten Lunge, Notizbuch und Bleistift ausgerüste-
ten Spekulanten aber und ebenso das urteilslose Publikum haben im allgemeinen
gar keine andere Wahl, als einer »von obed. h. von den großen Banken
ausgegebenen Parole zu folgen, wenn also von dort her die Preise durch teure
Kaufangebote aus irgendeinem Grunde in die Höhe getrieben werden, auch ih-
rerseits blindlings auf Spekulation zu kaufen. Jeder weiß dabei genau, daß diese
Steigerung der Preise einmal dem Gegenteil Platz machen wird, hofft aber, daß
dies erst eintreten werde, wenn er schon mit Gewinn realisiert hat, so daß der si-
cher zu erwartende Verlust einen a n d e r n treffe, wie beim » s c h w a r -
z e n P e t e r « . Zu diesem allgemeinsten Grunde der leichten Beeinfluß-
barkeit der Terminpreise treten noch spezielle, oft auf die technische Form des
Termingeschäftes zurückgeführte Spekulantenkunstgriffe. Die grandiosesten
Formen, in denen sich solche Manipulationen vollziehen, sind die sogenannten
»Corners« oder »Schwänze. Sie bestehen darin, daß ein einzelner nach einer
Richtung (insbesondere à la hausse) engagierter Großspekulant oder mehrere,
die sich dazu verbinden, den entgegengesetzt Interessierten die Erfüllung ihrer
Verbindlichkeiten am Termine unmöglich zu machen suchen, um ihnen dann ei-
nen Abstandspreis zu diktieren. So ließ der russische Finanzminister, um die
Baissespekulanten in Rubelnoten an der Berliner Börse zu ruinieren, durch ein
Berliner Bankhaus unter der Hand annähernd sämtliche Rubelnoten, die am Ber-
liner Markt vorhanden waren, aufkaufen, so daß die Baissespekulanten, die dies
nicht bemerkt hatten, als der Termin herankam, an dem sie zu liefern hatten,
keinerlei Noten zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeit zu kaufen oder zu leihen
vermochten und sich schließlich an den russischen Finanzminister selbst wenden
Die Börse. 322
mußten mit der Bitte, ihnen solche durch das gedachte Bankhaus verkaufen zu
lassen. Immerhin sind solche Vorgänge, die in Deutschland, auch wenn man
Jahrzehnte zurückrechnet, höchstens nach Dutzenden zählen, schnell vorüberge-
hende, mit dem Zusammenbruch einiger Spekulantenexistenzen und zwar
schließlich meist der »Corner« selbst endende Fiebererscheinungen, und sie sind
vor allem keineswegs an die Form des Termingeschäfts gebunden, sondern bei
uns sogar meist in einer hier nicht im einzelnen wiederzugebenden Weise mit-
tels »Kassa«geschäften ins Werk gesetzt worden.
Die wirklich dem Terminhandel a l s s o l c h e m ganz allgemein zu ma-
chenden Vorwürfe führen fast alle auf die erleichterte Heranziehung urteilsunfä-
higer und vermögensloser Spekulanten zurück. Diese Erleichterung ist aber nur
die Kehrseite der durch ihn bewirkten »Markterweiterung«, deren p o s i t i v e
Bedeutung für die nationale Volkswirtschaft wir oben in ihren Hauptzügen ken-
nen lernten. Vom politischen und ökonomischen Machtinteresse einer Nation
aus ist es n i c h t angängig, um dieser Schattenseiten willen e i n s e i t i g
den Terminhandel in einem Artikel bei s i c h zu verbieten und dadurch an-
statt der erstrebten Unterdrückung der Spekulation lediglich diese, damit aber
auch den für diesen Artikel maßgebenden M a r k t ins Ausland zu drängen
und dessen Finanzkraft zu stärken. Die größere Versuchung zum Spiel für das
einheimische Publikum und die dadurch verschuldeten Verluste desselben müs-
sen als Teil der Kriegskosten im Ringen der Nationen um die ökonomische
Herrscherstellung getragen werden. Nur eine i n t e r n a t i o n a l e Verein-
barung hätte da in Frage kommen dürfen, wo die Beseitigung des Terminver-
kehrs im einzelnen Falle erwünscht ist
1)
.
Was eine rationelle, von den Interessen der Machtstellung Deutschlands aus-
gehende Börsenpolitik auf dem Gebiete der Verkehrskontrolle hätte erstreben
sollen, liegt m. E. soweit nicht technische Einzelheiten, wie die Art der Kurs-
notiz, die
1)
Daß es solche Fälle gibt, ist kein Zweifel. Ich kann aber im einzelnen h i e r schon
des Raumes wegen darauf nicht eingehen. Es gehört dahin z. B. vielleicht der Kammzug, ein
Halbfabrikat, bei dem, anders als bei Rohstoffen, deren Produktion lange Ernteperioden er-
fordert, jede Preissteigerung leicht eine U e b e r produktion hervorrufen kann. G e -
t r e i d e gehört z u r Z e i t vom d e u t s c h e n Interessenstandpunkt aus m. E.
n i c h t dahin. Das Verbot, welches der Reichstag einseitig für das Inland ohne internatio-
nale Vereinbarung aussprach, war ausschließlich auf Stimmenfang berechnet und auch unter
diesem Gesichtspunkt eine Torheit.
II. Der Börsenverkehr. 323
Regelung des Kommissionsgeschäftes, die Vorschriften über die Bedingungen
des Getreideterminhandels in Frage kommen – nur in folgenden ungefähren
Richtungen: Unnütz und schädlich ist die unmittelbare Mitwirkung k a p i -
t a l l o s e r Spekulanten am Börsenverkehr, erwünscht deshalb, wennschon
gewiß nicht ganz leicht durchführbar, das Erfordern eines Vermögensnachwei-
ses bei der Zulassung. Schädlich und zu verhindern ist die Spekulation in »klei-
nen« Papieren, aber nicht nur in Form des T e r m i n h a n d e l s . Da die
Bildung eines spekulativen Marktes, auch wo die Spekulation sich in die Form
des Kassageschäfts kleidet, nicht leicht dauernd verborgen bleiben kann, könnte
ihr durch Versagung der Kursnotiz und Verbot aller Zeitungsberichte wirksam
genug entgegengetreten werden. Streng zu verbieten re die Wiedergabe von
Kursen irgendeines an deutschen rsen nicht zugelassenen Papiers in deut-
schen Zeitungen sowie Nachrichten über dasselbe überall da, wo nach Ermessen
der betreffenden Instanz der Verdacht einer irgend umfangreicheren Einschlep-
pung dieses Papiers in den Besitz deutscher Kapitalisten unter U m g e h u n g
der deutschen Börsen begründet erscheint. Im übrigen re den staatlichen Ge-
walten ein Aufsichts- und Einspruchsrecht gegen den börsenmäßigen Handel in
jedem Objekt im allgemeinen und den Terminhandel im speziellen zuzuweisen
gewesen. Bezüglich des letzteren wäre aber von dieser Befugnis im allgemeinen
nur im Falle der Erzielung i n t e r n a t i o n a l e r Vereinbarungen für die
einzelnen Gegenstände, r welche das Verbot erwünscht erschiene, Gebrauch
zu machen gewesen. Im übrigen hätte man lediglich die Verleitung unerfahrener
und leichtsinniger Personen zu Spekulationen so, wie es durch das Börsengesetz
geschehen ist, unter Strafe stellen sollen. –
Der Durchführung r e i n theoretisch-moralischer Forderungen sind eben,
so lange die Nationen, mögen sie auch militärisch in Frieden leben, ökonomisch
den unerbittlichen und unvermeidlichen Kampf um ihr nationales Dasein und
die ökonomische Macht führen, enge Grenzen gezogen durch die Erwägung, daß
man auch ökonomisch nicht e i n s e i t i g abrüsten kann. Eine starke Börse
kann eben kein Klub für »ethische Kultur« sein, und die Kapitalien der großen
Banken sind so wenig »Wohlfahrtseinrichtungen« wie Flinten und Kanonen es
sind. Für eine Volkswirtschaftspolitik, welche d i e s s e i t i g e Ziele er-
strebt, kön-
Die Börse. 324
nen sie nur eins sein: M a c h t m i t t e l in jenem ökonomischen Kampf. Sie
wird es gern begrüßen, wenn a u c h das » e t h i s c h e « Bedürfnis diesen
Institutionen gegenüber zu seinem Rechte gelangen kann, aber sie hat die
P f l i c h t , in l e t z t e r Linie darüber zu wachen, daß fanatische Interes-
senten oder weltfremde Apostel des ökonomischen Friedens nicht die eigne Na-
tion entwaffnen.
L i t e r a t u r z u r E i n f ü h r u n g .
1. Ueber die Effektenbörse:
S a l i n g s rsenpapiere, bearbeitet von S i e g f r i e d . Band I (in ihrer Art sehr gute
Darstellung der technischen Seite des Effektenhandels).
S t r u c k , Die Effektenbörse. Eine Vergleichung deutscher und englischer Zustände. Leip-
zig 1881 (stellt namentlich die höchstentwickelte Fondsbörse der Welt London auf
Grund englischen Materials dar).
E h r e n b e r g , Die Fondsspekulation und die Gesetzgebung. Berlin 1883. (Geschichte
des Kampfes der Gesetzgebung mit der Spekulation und dem sogenannten »Differenzge-
schäft«.)
2. Ueber die Produktenbörse:
F u c h s , Der Warenterminhandel, seine Technik und volkswirtschaftliche Bedeutung.
Leipzig 1891 (kurz, zur Einführung sehr geeignet).
S c h u m a c h e r in einer Serie von Aufsätzen in Konrads Jahrbüchern, Band 64 f., spezi-
ell über a m e r i k a n i s c h e n G e t r e i d e t e r m i n h a n d e l (bisher beste
Einzeldarstellung ihrer Art).
3. Zur deutschen Börsenreform:
Die zahlreichen Ausgaben und Kommentare des Reichsbörsengesetzes.
Ferner der Bericht der Börsen-Enquete-Kommission (in billiger Oktavausgabe).
Eine Verarbeitung des Materials, welches die sehr umfangreichen, 5 Foliobände füllenden
Enquete-Verhandlungen geliefert haben, habe ich in der »Zeitschrift für Handelsrecht«
Band 43 f., versucht.
Eine andere erscheint u. d. Titel: B ö r s e n r e f o r m i n D e u t s c h l a n d von
Pfleger und Gschwindt, bisher 2 Hefte. 1896.
Im übrigen ist zu vergleichen insbesondere: G. C o h n , Zur Börsenreform 1895.
325
Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen
zur Fideikommißfrage in Preußen (1904).
Der längst erwartete »Entwurf eines Gesetzes über Familienfideikommisse«
liegt seit dem Herbst 1903 in »vorläufiger« Redaktion in zwei voneinander in
einigen Punkten abweichenden Fassungen vor, von denen wir hier die im Verla-
ge der »Post« erschienene, mit einer Begründung versehene spätere Lesart
zugrunde legen
1)
. Das in Aussicht genommene Gesetz soll zunächst
1)
Aus der L i t e r a t u r über den Entwurf seien hervorgehoben die Aufsätze von
1. C o n r a d in seinen Jahrbüchern 1903 (Bd. 81) S. 507 ff., mit dem ich mich in allen
wesentlichen Punkten in erfreulicher Uebereinstimmung befinde.
2. Dr. W y g o d z i n s k i und
3. S e r i n g , beide in Schmollers Jahrbuch (1904, Heft 1, S. 47 f. bzw. 61 f.), auf die
zurückzukommen sein wird.
4. Prof. M. W o l f f (Berlin), Die Neugestaltung des Familienfideikommißrechts in
Preußen. Berlin 1904, Carl Heymanns Verlag eine sehr gut geschriebene wertvolle
Kritik der j u r i s t i s c h e n Konstruktion des Entwurfs, die uns als solche hier
nicht interessiert, nebst kurzem Resumé der prinzipiellen Standpunkte de lege ferenda.
Aus der vorhergehenden Literatur des letzten Jahrzehnts seien erwähnt:
1. P. H a g e r , Familienfideikommisse, Jena 1895 (Bd. VI, Heft 5 der Elsterschen »Stu-
dien«), eine mäßige Doktordissertation ohne wissenschaftlichen Wert. Den Motiven
hat sie offenbar als Hauptquelle gedient, besonders für die Ansichten der »Gegner« der
Fideikommisse.
2. E u g e n M o r i t z , Die Familienfideikommisse Preußens. Berlin 1901.
Ich würde diese Schrift, die mir erst jetzt vor Augen kommt, nicht erwähnen, wenn
nicht der Verf., der seinerzeit die Arbeit in meinem Seminar begann, dann nach auswärts
ging, meiner als seines »hochverehrten Lehrers« in der Vorrede gedächte. Die Verantwor-
tung für die Art ihrer Ausführung muß ich ablehnen. Wie diese ausgefallen ist, dafür nur
ein Beispiel: Der Verf. erörtert die Bevölkerungsabnahme in manchen Kreisen des Ostens
und meint (S. 41): »Wir sind geneigt, den Rückgang der Bevölkerung nicht auf Konto der
Gutsbezirke, sondern der Landgemeinden zu setzen, welche beide bei dieser Betrachtung
nicht zu trennen waren, d a h i e r j e d e s a m t l i c h e M a t e r i a l v e r -
s a g t . « Diese Bemerkung ist seitens des Verf. ein starkes Stück. Aus dem G e -
m e i n d e l e x i k o n , auf welches
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 326
den
überaus buntscheckigen Rechtszustand, der zur Zeit in Preußen besteht,
vereinheitlichen und mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch in ein klares Verhältnis
setzen: zu diesem Zweck wird den bestehenden Fideikommissen bei Strafe des
Erlöschens die Unterwerfung unter alle wesentlichen Bestimmungen des neuen
Rechts auferlegt. Es verfolgt darüber hinaus den Zweck, das Institut mit dem
modernen »Rechtsempfindeso weit in Einklang zu bringen als dies eben
möglich ist; und endlich wird – wie wir noch sehen werden – ganz offensichtlich
beabsichtigt, das Institut zu propagieren und deshalb insbesondere durch Schaf-
fung unzweideutiger einheitlicher und privatwirtschaftlich zweckmäßiger
Rechtsnormen die Fideikommißinteressenten zu deren Benutzung zu ermutigen
und ihnen jede etwaige Besorgnis zu benehmen, es könne eines Tages gegen das
ganze Institut gesetzlich vorgegangen werden.
Die für uns wesentlichsten Bestimmungen des 245 Paragraphen umfassenden
Entwurfes sind in summarischstem Auszug die folgenden: Jede
1)
neue Errich-
tung von Fideikommissen soll künftig königlicher Genehmigung unterliegen,
Erweiterungen bestehender
der Verf. v o n m i r h i n g e w i e s e n war und welches er S. 12 s e l b s t
z i t i e r t , können nicht nur jene Zahlen getrennt festgestellt, sondern die Bewegung der
Bevölkerung für j e d e e i n z e l n e G e m e i n d e e i n h e i t , auch jedes Fi-
deikommißgut, ermittelt werden, und eben diese mühsame dem Verf. zu mühsame –,
aber unter Umständen recht lohnende Aufgabe hatte ich ihm s. Z. gestellt. Ich meiner-
seits mußte mich, da ich z. Z. mit weit abliegenden anderen Arbeiten befaßt bin, nachste-
hend meist mit der Verwertung einigen Zahlenmaterials begnügen, welches ich vor Jahren
zum Zweck einer größeren agrarstatistischen Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapita-
lismus zusammengestellt bzw. überwiegend selbst errechnet hatte. Wenn ich auf diese Ar-
beiten demnächst einmal zurückkomme, hoffe ich dasselbe zu ergänzen. Wie lückenhaft es
ist, empfinde ich selbst am peinlichsten. Mehr als i l l u s t r a t i v e n Wert haben
meine Zahlen nicht. Die Fideikommißstatistik knüpft an die Arbeiten E v e r t s (Z.
des preuß. Stat. Bureaus 1897, S. 1 f.) und K ü h n e r t s (das. 1902, S. 134 f.) an,
durch welche die älteren bahnbrechenden Leistungen C o n r a d s heute meist, jedoch
keineswegs in allen Punkten, überholt sind.
Wirklich schlüssige neue Ergebnisse über die Wirkung der Fideikommisse nnten nur
umfassende, auf g r ü n d l i c h e r langdauernder Autopsie und historischen Studien
beruhende Spezialarbeiten über die hauptsächlichen Fideikommißdistrikte in Vergleichung
mit anderen geben, vorausgesetzt, daß die nötige U n b e f a n g e n h e i t des Arbei-
ters außer Zweifel steht. Heute, wo feststeht, »was herauskommen wird«, sind solche Ar-
beiten, wenn amtlich unterstützt, nach allen Erfahrungen schwerlich noch zu gewärtigen.
1)
Bisher nach dem Preuß. Landrecht nur bei mehr als 30 000 Mk. Ertrag und Erweiterung
bestehender Fideikommisse über diesen Betrag hinaus. In Hannover bestand keine Genehmi-
gungserfordernis.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 327
Fideikommisse um Grundstücke von mehr als 10 000 Mark Wert nur ebenso,
andere mit ministerieller Genehmigung zulässig sein. Die wichtige Bestimmung
über den bei der Errichtung fälligen Fideikommstempel fehlt noch. Gegen-
stand fideikommissarischer Bindung soll nur ein der Hauptsache nach land- oder
forstwirtschaftlich genutztes Grundstück sein nnen, andere Vermögensgegen-
stände nur als Zubehör eines solchen, Kapitalien nur als eine mit landwirtschaft-
lichen Grundbesitz verbundene Kapitalstiftung, insbesondere als Meliorations-
kapital (Verbesserungsmasse), als Abfindungs- und Ausstattungsstiftung für die
Angehörigen des Besitzers (s. u.), sonst aber nicht in einer den hundertfachen
Betrag des Jahreseinkommens aus dem landwirtschaftlichen Besitztum überstei-
genden Höhe. Das Fideikommißgut muß ein Einkommen von mindestens 10
000
1)
Mark (nach Abzug aller Jahresleistungen) aus dem landwirtschaftlichen
Grundbesitz nachhaltig zu gewähren imstande sein, davon mindestens 5000
Mark aus einer ein wirtschaftliches Ganze bildenden Besitzung, und es dürfen
ferner die für Schuld, Zinsen und Amortisation, für Abgaben und gesetzliche
Verpflichtungen des Besitzers, auch solche, die der Gesetzentwurf ihm aufer-
legt, aufzubringenden Beträge nicht mehr als die lfte des Ertrages des Grund-
besitzes in Anspruch nehmen
2)
. Die Fideikommißerbfolge ist stets agnatische
Primogeniturerbfolge
3)
, vorbehaltlich bestimmter Fälle der Anwartschaftsun-
würdigkeit. Die Verfügungsgewalt des Fideikommißinhabers ist nicht unerheb-
lich erweitert. Nach dem preußischen Landrecht bedarf es in allen Fällen der
Veränderung der Substanz des Fideikommißgutes, bei Abverkauf, Verpfändung
oder sonstiger Belastung, eines von der Fideikommißbehörde aufzunehmenden
und zu bestätigenden einstimmigen Familienschlusses. Ohne einen solchen ist
eine Verschuldung nur in bestimmten Fällen einer genau umschriebenen unver-
schuldeten außerordentlichen Notlage zur Erhaltung des Fideikommisses, oder
nach Maßgabe des Landeskulturrentenbankgesetzes usw., Abveußerung nur
bei Enteignung und bei kleineren Parzellen nach Mgabe der Rentengutsge-
setzgebung möglich. Der Entwurf setzt außer für Fälle, welche direkt den Be-
stand des Fidei-
1)
Bisher nach Landrecht 7500 Mk. einschließlich Kapitalzinsen, in Hannover 3600 Mk.
2)
Aehnlich, jedoch im einzelnen abweichend, ALR. II 4, § 51 f.
3)
Nach ALR. entschied bisher die Verfügung des Stifters.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 328
kommisses überhaupt oder in seiner bisherigen Beschaffenheit berühren, an die
Stelle des Familienschlusses die (in gewissen Fällen der Genehmigung der Fi-
deikommißbehörde bedürftige) Zustimmung des F a m i l i e n r a t e s , der
von der Fideikommißbehörde nach bestimmten Regeln aus der Reihe der Fami-
lienmitglieder zu bestellen ist. Dies gilt namentlich für Belastungen die
daneben einmal regelmäßig an eine Verschuldungsgrenze (
2
/
3
des Ertragswerts)
und ferner an bestimmte begrenzte Voraussetzungen (nachhaltige Verbesserun-
gen, öffentliche Pflichten) geknüpft sind –, für die an ähnliche Voraussetzungen
geknüpfte Veräußerung »kleinerer Teile« des Besitztums, ferner auch für die
Aufstellung der für Forsten und Bergwerke vorgeschriebenen Wirtschaftspläne
und für die Kapitalanlage. Er gestattet dem Fideikommißbesitzer, in den wich-
tigsten Fällen einer grundlosen Verweigerung diese Zustimmung durch Anru-
fung der Fideikommißbehörde ergänzen zu lassen. Der Abschluß von Pachtver-
trägen auf kürzere Zeit (6 Jahre) und von Arbeitsverträgen wird dem Fideikom-
mißbesitzer in Abänderung des geltenden Rechts auch ohne Konsens mit Wir-
kung gegen den Nachfolger gestattet, und für die regelmäßigen Verwaltungsge-
schäfte bleibt er von jeder Genehmigung entbunden, die also nur für wesentliche
Umgestaltungen der Wirtschaft (z. B. Uebergang zur Weidewirtschaft u. dgl.)
erforderlich ist. Der Fideikommißbesitzer ist eine wichtige und, wie anzuer-
kennen ist, sehr wertvolle Neuerung im Anschluß an das allerdings vom Entwurf
in nicht durchweg zweckmäßiger Weise abgeänderte sächsische Institut der Fa-
milienkasse
1)
verpflichtet, aus den Einkünften des Fideikommisses 3 verschie-
dene Kapitalfonds aufzusammeln, sofern nicht schon der Stifter dieselben in ei-
ner bestimmten Minimalhöhe mitgestiftet hat. Zur Ausstattung und zur Abfin-
dung bedürftiger und, wenn die Mittel reichen, auch anderer Familienangehöri-
ger bestimmter Verwandtschaftsgrade soll je eine Ausstattungs- und eine Abfin-
dungsstiftung errichtet und durch hrliche Beiträge von mindestens
1
/
6
des Jah-
reseinkommens bis zur Erreichung eines in »angemessener« Höhe vom Stifter,
eventuell von der Behörde, festzusetzenden Höchstbetrages der Kapitalien ge-
speist werden. Daneben ordnet der Entwurf die Ansammlung einer »Verbesse-
rungsmasse« an, r
1)
Ueber diese uns hier weniger interessierenden Fragen s. v. Köller in der »Kreuzzeitung«
1903, Nr. 383 ff.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 329
welche in »angemessener« Höhe und bis zur Erreichung des auf das Hundertfa-
che des Fideikommißeinkommens festgesetzten Höchstbetrages Beiträge vom
Besitzer zu leisten sind. Sie soll regelmäßig nur für Erhaltung und nachhaltige
Verbesserung des Fideikommißgutes Verwendung finden dürfen. Die Bestim-
mung über die, wie aus dem allem hervorgeht, höchst einflußreiche Fideikom-
mißbehörde fehlt noch. Als unbedingt souveränes höchstes Organ bleibt endlich
die zum »Familienschluß« versammelte Familie, welche alles, auch die Auflö-
sung des Fideikommisses beschließen kann, bestehen.
Uns interessiert nun hier von dem Inhalt des Entwurfes nur sein Gehalt an
s o z i a l p o l i t i s c h (im weitesten Sinne des Worts) bedeutungsvollen Be-
stimmungen. Deshalb bleiben die bloß technisch juristischen Vorschläge und
ferner diejenigen außer Erörterung, welche die Sicherung der Interessen der Fi-
deikommißanwärter und Familienmitglieder bezwecken
1)
. Irgendwelche »ethi-
sche« Sentimentalität in bezug auf i h r Schicksal re übrigens wenig am
Platze. Sie sind damit nicht so unzufrieden, wie oft geglaubt wird. Mit gutem
Grund: sie betrachten, und mit Recht, die Zugehörigkeit zur Familie des Besit-
zers als Chance ersten Ranges für die Beamtenkarriere. Diese Anweisung auf
die »Staatskrippe« ist ja eins der wesentlichsten Momente, die der Stifter von
jeher in Betracht zog und künftig, nach den Aussichten, welche die Motive (S.
13) eröffnen, erst recht Anlaß hat, in Betracht zu ziehen.
Von den uns interessierenden Bestimmungen des Entwurfes fällt als, wenn
auch praktisch unwichtig, so doch charakteristisch, zunächst die (scheinbare)
Unterdrückung des G e l d fideikommisses und die (ebenfalls scheinbare) Be-
schränkung der Fideikommisse auf land- und forstwirtschaftlich benutzten Bo-
den auf, welche die Motive (S. 18) mit pathetischen, aber sachlich gehaltlosen,
Worten begründen. Nun ist das reine Geldfideikommiß von praktisch geringer
Bedeutung. Sieht man aber näher zu, so
1)
In dieser Hinsicht ist die weitgehendste Bestimmung des Entwurfes der Vorschlag, dem
Familienrat nach eingeholter Zustimmung der Fideikommißbehörde die Befugnis zu ge-
ben, vom Besitzer Rechnungslegung über das Vermögen zu verlangen 22). Wenn Sering
und andere diese Bestimmung für überflüssig oder gar gegen die »Würde« des Fideikommiß-
besitzers verstoßend halten, so wird jeder, der einmal praktisch die Interessen von Fideikom-
mißanwärtern zu vertreten hatte, sie für die e i n z i g e halten, die zu einer m a t e r i -
e l l e n Sicherung der Interessen derselben führen k a n n . Alle anderen Rechte funktio-
nieren stets erst, wenn es zu spät ist.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 330
unterdrückt der Entwurf auch gar nicht, wie es scheinen nnte, die Kapitalan-
häufung, auch nicht die Anhäufung städtischen oder bergbaulich oder industriell
genutzten Bodens in Fideikommißform die Kapitalanhäufung e r z w i n g t
er vielmehr geradezu –, sondern er gibt lediglich den l ä n d l i c h e n Grund-
besitzern das M o n o p o l , nicht nur ländlichen Boden, sondern Boden j e -
d e r A r t u n d K a p i t a l i e n in sehr bedeutendem Umfange fidei-
kommissarisch zu akkumulieren. Das Fideikommiß soll also lediglich agrari-
sches Sonderrecht l a n d sässiger Kapitalisten sein
1)
. Vergegenwärtigen wir
uns also, welche Rolle h e u t e die Fideikommisse in der preischen Agrar-
verfassung spielen.
I.
Die Fideikommißbildung hat, nachdem das Verbot, welches noch die Verfas-
sung von 1850 enthält, bereits 1851 wieder aufgehoben war, seitdem ganz er-
hebliche Fortschritte gemacht und macht sie noch. Ueber die lfte (599 von
1119) der preußischen Fideikommisse sind in den letzten 50 Jahren neu entstan-
den, davon freilich ein Bruchteil nicht ganz ein Drittel durch Umwandlung
von Lehen in Fideikommisse. Die Zahl der N e u gründungen (also exkl. Le-
henumwandlungen) hat sich 1880-95 gegen 1850-80 in den östlichen Provinzen
nur in Posen und Westpreußen (aus politischen Gründen) nicht vermehrt, sonst
in allen. In Schlesien und Brandenburg ist in den 15 Jahren 1880-95 m e h r
in Schlesien um über
1
/
3
mehr Boden n e u gebunden worden als in den 30
Jahren 1850-80. Aber auch in der letzten Zeit schreiten die Fideikommißbildun-
gen und zwar i m g a n z e n mit der Tendenz zur Beschleunigung, nicht
zur Verlangsamung vorwärts, wie die Nachweisungen für die Jahre 1895-1900
ergeben. In diesen Jahren ist die Fideikommißfläche um 3,58 % gestiegen. Der
Zuwachs dieser 5 Jahre, 75 000 ha, umfaßt eine Fläche, die von der Durch-
schnittsfläche eines ganzen
1)
Mit einem Rittergut im Werte von 300 000 Mk. z. B. können eventuell n e b e n
Bergwerken und Fabriken auch Kapitalstiftungen von über 3 Millionen Mk. verbunden wer-
den. Man kann also die Bestimmungen des Entwurfs kurz auch dahin formulieren: »Wer Ka-
pitalien durch fideikommissarische Bindung nobilitieren will, m
1
/
10
davon in ländlichen
Grundbesitz anlegen und bestimmte Teile derselben für Ausstattung und Abfindung von An-
gehörigen sowie als ,Verbesserungsmasse‘ für speziell landwirtschaftliche Zwecke festlegen.«
Diese Formulierung bringt das, w a s d e r E n t w u r f w i l l , ungeschminkter
zum Ausdruck.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 331
Landkreises nur in wenigen Regierungsbezirken mit sehr ungünstigem Boden
übertroffen wird. Es finden sich unter den preußischen Landkreisen 10, welche
hinter dem bloßen J a h r e s zuwachs z. B. des Jahres 1898 allein (24 098 ha)
zurückbleiben. Die heute b e s t e h e n d e n Fideikommisse umfaßten 1900:
2 177 000 ha oder
l
/
16
d e s g e s a m t e n S t a a t s g e b i e t e s . Städte,
Wege, Wässer, Moore, Oed- und Unland eingerechnet, eine F l ä c h e ,
w e l c h e d i e j e n i g e d e r P r o v i n z W e s t f a l e n erheblich
übertrifft. In 33 Kreisen waren über
l
/
5
, in 6 über 40 % der Fläche gebunden.
Den Höchststand weist die Provinz Schlesien auf. Von den 26 Kreisen mit je
mehr als 20 000 ha Fideikommfläche gehören 17 der Provinz Schlesien, 3 der
Provinz Sachsen an, also denjenigen Provinzen, in welchen der rein kapitalisti-
sche Charakter des landwirtschaftlichen Großbetriebes am konsequentesten
entwickelt ist und speziell in ihrer Arbeitsverfassung am deutlichsten hervortritt.
Sieht man sich nun die B o d e n kategorien an, welche die Fideikommißbil-
dung mit Vorliebe ergreift, so zeigt sich, daß zunächst der W a l d b o d e n in
besonders hohem Grade zur Fideikommißbildung neigt. Etwa 46 % der Fidei-
kommißfläche sind Waldungen. Zwar re es eine starke Uebertreibung, wenn
man behaupten wollte – wie es früher geschah –, daß das Fideikommiß in erheb-
lichem Maße einer drohenden Entwaldung steuere. In waldarmen Kreisen
t e i l e n auch die Fideikommisse diese Eigenschaft. Und selbstverständlich ist
die Existenz jener 46 % Waldbestände nicht F o l g e der Fideikommißeigen-
schaft des Bodens, sondern umgekehrt: die Eigenart der Forstwirtschaft Länge
der Umschlagsperiode und (relative) Bedeutungslosigkeit des B e t r i e b s ka-
pitals drängt speziell den Waldboden der fideikommissarischen Bindung zu.
Aber immerhin ist die Chance, daß Walddevastationen unterbleiben, bei Fidei-
kommissen doch wohl eine relativ starke, und es entspricht den allgemeinen Er-
fahrungen, daß die dem feudalen Empfinden von jeher eigene, kultur- und wirt-
schaftsgeschichtlich so höchst wichtige Freude am Walde der Q u a l i t ä t
der Fideikommißwälder zugute kommt. Auch die hohen Durchschnittsreinerträ-
ge der Holzungen in manchen Fideikommißkreisen
1)
sprechen vielleicht, soweit
1)
Zu vergleichen etwa die starke Differenz zwischen den Reinerträgen der Holzungen der
G u t s b e z i r k e gegenüber den Dörfern im Fideikommißkreise Militsch gegenüber dem
Nachbarkreis Guhrau.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 332
es sich um a l t e Fideikommisse handelt, dafür, obwohl natürlich im allge-
meinen das Kausalverhältnis so liegt, daß gerade die besseren Waldlagen fidei-
kommissarisch gebunden wurden
1)
. Wie steht es nun mit dem l a n d w i r t -
s c h a f t l i c h nutzbaren Boden?
Die amtlichen Publikationen ergeben, daß auch hier die Fideikommisse die
von Natur (oder durch Marktnähe) b e s s e r a u s g e s t a t t e t e n Boden-
lagen im allgemeinen bevorzugen, und zwar da, wo dies näher ersichtlich ist, in
ganz auffallender Weise
2)
. Natürlich muß man hier zwischen den Fideikommis-
sen a l t e n Bestandes, die aus großen Lehngütern hervorgegangen sind, wel-
che naturgemäß vorzugsweise den verkehrs f e r n e r e n rein agrarischen Ge-
bieten angehörten, und denjenigen n e u e r e n Fideikommißbildungen u n -
t e r s c h e i d e n , welche im Laufe der letzten Jahrzehnte vorgenommen
worden sind. Was aber diese l e t z t e r e n anlangt, so bestätigt eine speziel-
lere Untersuchung der Grundsteuerreinerträge des landwirtschaftlichen Bodens,
wie sie mit Hilfe des Gemeindelexikons und der Handbücher des Grundbesitzes
möglich ist, jene Beobachtung, daß die Fideikommisse gute Bodenlagen bevor-
zugen, im ganzen denn natürlich kreuzen sich allerhand »Zufälligkeite des
gegebenen Besitzstandes damit – auf das eklatanteste
3)
. Und zwar scheint es, daß
dies im Laufe der letzten Zeit im ganzen in steigendem Maße
1)
Dies tritt z. B. in der gegen den Nachbarkreis Guhrau besonders n i e d r i g e n
Qualität der B a u e r n w ä l d e r im Fideikommißkreise Militsch hervor.
2)
Wo immer der Grundsteuerertrag des gebundenen Bodens hinter dem Durchschnitt zu-
rückbleibt, handelt es sich um alte F o r s t bestände. Wo dies nicht der Fall ist, steht der
durchschnittliche Reinertrag der Fideikommisse her, teilweise ganz erheblich höher als der
Durchschnitt. So betrug er z. B. per ha in Mk. in: Königsberg 9,13 (gegen 7,47 durchschnitt-
lich), Potsdam 10,26 (gegen 9,84), Stettin 13,68 (gegen 11,12), Schleswig 24,22 (gegen
19,69), Hannover 22,36 (gegen 13,32!), Stade 41,16 (gegen 21,22!), Wiesbaden 23,75 (gegen
16,71), Düsseldorf 32,73 (gegen 29,20). Man sieht, daß überall speziell die Nähe großer Kapi-
talzentren (Berlin, Hamburg, Hannover, Frankfurt, Rheinland) die Qualität des gebundenen
Bodens in die he treibt. Mit steigender Kapitalkraft wird es natürlich in steigenderem Maß
geschehen, daß das Anlage und Nobilitierung suchende Kapital sich den besten Boden weg-
fischt und den schlechten den Bauern läßt.
3)
Durch Stichproben bei Neugründungen leicht zu erweisen. – Es wir im ganzen nicht der
a l l e r beste Boden gebunden er ist zu teuer, weil nur durch sehr intensive Kultur voll zu
verwerten und vor allem ist gerade hier der B r u t t o stempel von 3 % bisher störend –,
sondern etwa die Garnitur »I
b
«. Schlechter Boden gehört zu Fideikommissen in irgend be-
trächtlichem Umfang nur, wenn sie a l t e Fideikommisse – frühere Lehen usw. – sind.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 333
der Fall ist, wie dies auch für die Jahre 1895-1900 die amtlichen Publikationen
bestätigen. Das Fideikommiß sucht den Boden, der G r u n d r e n t e , und
möglichst hohe und risikofreie Grundrente, trägt. Es ist, soweit es nicht früheres
Lehngut ist, eine spezifisch modern-kapitalistische Form der R e n t e n bil-
dung, ganz ebenso wie die verzinslichen Wertpapiere
1)
. Im Vaterlande der mo-
dernen kapitalistischen Landwirtschaft – England – ist diese seine Funktion:
Scheidung von Bodenbesitz und Betrieb, von Rente und Unternehmerrisiko, am
gründlichsten durchgeführt. Es erwächst überall aus dem Versuch, z u -
g l e i c h dem Verwertungsinteresse des Kapitals u n d den Interessen
s o z i a l herrschender Schichten an einem relativ stabilen »standesgemäßen«
Einkommen Raum zu schaffen. Es ist die Form, in welcher »satte« kapitalisti-
sche Existenzen ihren Erwerb aus der srmischen See des ökonomischen
Kampfes in den Hafen eines »Otium cum dignitate« einer briefadligen Rent-
nerexistenz zu retten pflegen. Es fühlt sich daher am wohlsten da, wo guter
Boden und Großgrundbesitz zusammentreffen mit einer starken bergbaulichen
oder industriellen Entwicklung, welche (wie in Schlesien) Kapital für die Anla-
ge in Grund und Boden »ausschwitzt«, zumal, wenn gleichzeitig niedrige Ar-
beitslöhne einer proletarisierten und dennoch durch Parzellenbesitz an den
Boden gefesselten Landarbeiterschaft (wie wiederum in Schlesien)
1)
Wenn Sering a. a. O. die Anhänger einer Ausdehnung der Fideikommisse als »Freunde
einer antikapitalistischen Agrarrefor, ihre Gegner als Vertreter des »kapitalistischen
Standpunkts« bezeichnet, so ist eigentlich das Bedauerlichste daran, daß er selbst wie jeder,
der ihn kennt, weiß an die Bedeutung solcher ganz inhaltsleeren Wendungen aufrichtig
glaubt. Wenn der Minister v. Miquel solche Wendungen zu politischen Reklamezwecken
verwendete, so w u ß t e er, daß er die Phrase in seinen Dienst nahm, wenn Nationalöko-
nomen sie aussprechen, so ist das Dienstverhältnis das umgekehrte. – Man kann nur bedauern,
daß z. B. auch in der Frage des ländlichen Erbrechts mit solchen Mitteln gearbeitet worden
ist. Auch wer selbst stets durchaus der Meinung gewesen ist, daß sich für Gebirgsgegenden,
marktferne Gebiete, überhaupt von Fall zu Fall sehr wohl über die Zweckmäßigkeit einer
Aenderung im Erbtaxverfahren und über die Anordnung, daß dort bäuerlicher Besitz in dubio
d. h. mangels Testament ohne Teilung unter Zugrundelegung des »Ertragswertvererbt
werden solle, reden lassen würde, ja daß es Fälle gebe, wo g e s c h l o s s e n e Hofgüter
ihre Berechtigung haben k ö n n e n , mußte durch die widerliche Miquelsche Reklame,
welche solche nach lokalen Verhältnissen rein sachlich zu diskutierenden Maßregeln der Erb-
rechts t e c h n i k unter den pomsen und in diesem Zusammenhang cherlichen Ge-
sichtspunkt eines »Kampfes gegen den Kapitalismus« stellte, zum Protest gereizt werden. Ein
»Kampf gegen den Kapitalismus« auf agrarischem Gebiet he anders aus als die Stümperei-
en, die heute sich als ein solcher gebärden.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 334
die dauernde Erzielung h o h e r Grundrenten gewährleistet
1)
. Die schlechten –
d. h. die rentelosen den meidet es. Die Kreise mit den ungünstigsten Bo-
denverhältnissen im Osten wiesen 1897 überhaupt keine Fideikommisse auf,
und die von den Freunden des Instituts früher verbreitete Legende, das Fidei-
kommiß sei das geeignete Mittel, auf s c h l e c h t e m Boden den Großbesitz
und Großbetrieb als »Träger der Kultur« zu erhalten, ist solange man die Bin-
dung besserer Böden nicht gesetzlich v e r b i e t e n will ein für allemal
gründlich zerstört. Vielmehr zeigen die Tatsachen, daß die Fideikommisse gera-
de diejenigen Böden zu okkupieren trachten, welche infolge ihrer Eignung für
intensive Betriebsformen, der Entwicklung zur V e r k l e i n e r u n g der Be-
triebe zustreben müßten oder, nach der offiziös-preußischen Theorie von der
»glücklichen Mischung« der Betriebsgrößen, für b ä u e r l i c h e , speziell
» g r o ß bäuerliche« Existenzen die Unterlage bilden nnten, hrend sie die
schlechten, angeblich nur in Großbetrieben zu bewirtschaftenden, Bodenklassen
ihrem Schicksal, das heißt der Besiedelung durch r e n t e l o s e Wirtschaf-
ten, speziell im Osten durch mehr oder minder stark naturalwirtschaftliche (na-
mentlich polnische) Parzellenbauern, überlassen. In wesentlich gesteigertem
Maße wird dies natürlich der Fall sein nach dem etwaigen Inkrafttreten der neu-
en Getreidezölle, die ja entsprechend der Maxime jedes Hochprotektionismus:
»wer da hat, dem wird gegebe speziell die Grundrente der b e s t e n , der
W e i z e n böden in die Höhe schrauben und speziell diese dadurch noch mehr
»fideikommißhig« machen.
Die Frage: wie w i r k t nun diese in großen Gebieten schon ganz außeror-
dentlich vorgeschrittene fideikommissarische Bindung des landwirtschaftlich
genutzten Bodens ökonomisch und sozialpolitisch? ist von den Motiven auf 6
Seiten in ganz und gar unzulänglicher Weise behandelt. Ehe dazu Stellung ge-
nommen wird, einige »theoretische« Vorbemerkungen.
Von den verschiedenen Gesichtspunkten, unter denen man eine Agrarverfas-
sung beurteilen kann, kommen, soweit sie in quantitativen, der Messung
zugänglichen, äußeren Massenerscheinungen ausdrückbar sind, zunächst drei in
Betracht, nämlich: 1. das
1)
Die »günstigen Arbeiterverhältnisshaben hier bei der Grundsteuerbonitierung ebenso
wie bei den im Bodenverkehr gezahlten Preisen ihre Rolle gespielt.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 335
P r o d u k t i o n s interesse: möglichst viel Erzeugnisse v o n einer gegebe-
nen Fläche, 2. das p o p u l a t i o n i s t i s c h e Interesse: viel Menschen
a u f einer gegebenen Fläche, 3. das um es einmal ad hoc so zu nennen
»sozialpolitische«
1)
: möglichst umfassende und gleichmäßige Verteilung des
Besitzes a n einer gegebenen Fläche. Soweit das platte Land in Betracht
kommt, sind die beiden Interessen zu 2 und 3, im a l l g e m e i n e n wenig-
stens, in bester Harmonie miteinander, während wenigstens bezüglich der G e -
t r e i d e produktion b e i d e mit dem Produktionsinteresse vielfach kollidie-
ren. Es besteht nicht der mindeste Zweifel, daß, wenn es sich um die Erzeugung
von m ö g l i c h s t viel Getreide von der gegebenen Fläche handelt, minde-
stens alle mittleren und kleineren bäuerlichen Besitz- und Betriebseinheiten
schlechterdings vom Uebel sind, und wer die Deckung des deutschen Getreide-
bedarfs durch i n l ä n d i s c h e Produktion anstrebt sei es auch nur als
ideales Ziel –, muß für deren Beseitigung, damit aber f ü r die Schärfung der
sozialen Gegensätze auf dem Lande und für die numerische S c h w ä c h u n g
der Landbevölkerung eintreten und er betrügt andere oder sich, wenn er dies
verschweigt. Hier gibt es kein »sowoh1 als auch«, sondern wenn man den tech-
nisch leistungsfähigsten G r o ß betrieb künstlich stützen will, so muß man in-
soweit die dauernde V e r d ü n n u n g der ansässigen Landbevölkerung wol-
len. Und zwar würde, je kapitalintensiver die Wirtschaft betrieben werden soll,
desto m e h r sich die Bevölkerung z u u n g u n s t e n wenigstens der
r e l a t i v e n B e d e u t u n g , oft auch der absoluten Zahl, der L a n d be-
völkerung verschieben. Denn desto mehr wird e i n Teil des »Ertrags des Gu-
tes« in Wahrheit in den Kaligruben, Thomas-Hochöfen, Maschinenwerkstätten
usw. der industriellen Gebiete produziert und ein a n d e r e r durch Saisonar-
beiter, die auf dem Gut n i c h t a n s ä s s i g sind, erzeugt, desto w e n i -
g e r also bleibt r e l a t i v Raum für die Verwendung einheimischer mit
der Scholle verwachsener Arbeitskräfte, desto m e h r von dem Arbeits -
l o h n wird auswärts (in Russisch-Polen!), desto mehr von dem Arbeits -
p r o d u k t von s t ä d t i s c h e n Konsumenten, desto w e n i g e r von
der ansässigen Landbevölkerung verzehrt. Auf eine möglichst einfache (und
deshalb natürlich nur r e l a t i v gültige) Formel ge-
1)
Es soll damit hier noch gar kein Werturteil zugunsten dieses Gesichtspunktes kaptiviert
werden.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 336
bracht: Der b ä u e r l i c h e Betrieb alten Schlages fragte: wie mache ich es,
um möglichst viel Köpfe an Ort und Stelle auf der gegebenen Fläche durch ihre
Arbeit zu ernähren? der k a p i t a l i s t i s c h e Betrieb fragt (das ist sein
B e g r i f f s merkmal) wie mache ich es, um auf der gegebenen Fläche mit
möglichstes E r s p a r n i s an unnötiger Arbeit ein möglichst großes Quan-
tum G ü t e r für den Absatz auf dem M a r k t disponibel zu machen
1)
?
Dieser höchst einfache Ausgangspunkt aller Be-
1)
Man vergleiche etwa die Dichtigkeit der Siedlung auf guten und schlechten den, wie
sie b e i s p i e l s w e i s e in folgenden sich in ähnlichen Relationen sehr oft wiederho-
lenden Zahlen zutage tritt:
Im Kreise Militsch (Fideikommißkreis) kam 1885 in den Reinertragsklassen
von pro ha Mk.: unter 10: 10-15: über 15:
auf 1 Wohngebäude ha Acker-
land und Wiesenfläche
in den Dörfern
auf den Gütern
4,39
49,8
5,66
43,7
6,29
55,6
Man sieht: dem besten Boden entspricht die dünnste Bebauung. Für den kapitalistischen
Betrieb auf den besseren Böden ist eben das Wohnhaus der Arbeiter Teil der P r o d u k -
t i o n s k o s t e n . Die enorme Differenz zwischen Dörfern und Gütern spricht hier für
sich selbst.
Es kam ferner in den gleichen Reinertragsklassen (spezifische F o r s t güter mit mehr als
50 % Wald ausgeschlossen):
unter 10: 10-15: über 15:
a) auf 1 Kopf ha
G e s a m t fläche:
in den Dörfern
auf den Gütern
0,79
(5,82)
0,87
4,90
0,95
5,07
b) auf 1 Kopf ha
Acker- und Wie-
senfläche
in den Dörfern
auf den Gütern
0,71
(3,67)
0,78
3,23
0,87
3,82
Eine Serie weiterer ähnlicher Zahlen s. in anderem Zusammenhang unten S. 537 f.
Man sieht, daß mit steigender Bodenqualität, also steigender »Produktivität der Arbeit« die
Besetzung der bewirtschafteten Fläche nicht nur mit Gebäuden, sondern auch mit ortsanwe-
sender Bevölkerung (Winterbevölkerung) die T e n d e n z z u r A b n a h m e zeigt,
wie die wegen des störenden Einflusses der Forsten am besten vergleichbaren Zahlen der
Landgemeinden innerhalb deren hier viel aufgekaufter und gebundener Gutsboden liegt
beweisen. Der schroffe Gegensatz zwischen Dorf und Gut, der diese Tendenz besonders deut-
lich illustriert, tritt auch hier hervor. Die eingeklammerten Zahlen für die u n t e r s t e
Klasse der Güter zeigen mit der nächsthöheren verglichen die Wirkung extensiven Betriebs.
Die Abnahme der Siedelungsdichte auf der h ö c h s t e n Stufe zeigt, daß Kapitalintensität
und Arbeitsintensität der Wirtschaften v e r s c h i e d e n e Wege gehen. Der beste Bo-
den trägt auch bei den Gütern, wie die Zahlen ad b zeigen, die g e r i n g s t e Zahl von
ortsansässigen Menschen. Ich kann hier diese in mannigfachen Abschattierungen an den sehr
zahlreichen Beispielen anderer Kreise, die ich durchgerechnet habe, sich wiederholende Er-
scheinung nicht eingehender prinzipiell erläutern, behalte mir dies vielmehr für künftig vor.
Es ist n i c h t n u r die Tendenz zur S a i s o n arbeit, sondern die Tendenz zum Ar-
beitsparen ü b e r h a u p t , welche diese Erscheinungen in den kapitalistischen Betrieben
hervorbringt. Auf den schlechten Böden der rfer hat für die Bevölkerungs v e r d i c h -
t u n g natürlich auch die gewerbliche Nebenarbeit ihre Rolle gespielt. Vgl. dazu die vor-
trefflichen Ausführungen S o m b a r t s im 2. Band seines »Kapitalismus«.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 337
trachtungen über die Wirkung des Großbetriebes und die sozial- und bevölke-
rungspolitische Kehrseite des P r o d u k t i o n s interesses in der Landwirt-
schaft sofern mlich darunter G e t r e i d e produktion im Fruchtwechsel
mit Hackfrüchten verstanden wird – mimmer wieder betont werden. Wer nun
der Meinung ist, daß die sozialen Kontraste im Osten der A b s c h w ä -
c h u n g bedürftig seien, oder wer meint, daß es heute vor allem gelte, soviel
selbständige landwirtschaftliche Existenzen wie nur irgend möglich auf den
dünn besiedelten, der Abwanderung und der Ueberschwemmung durch Auslän-
der oder doch Stammfremde preisgegebenen Boden des Ostens zu setzen, der
muß für den O s t e n die B e s e i t i g u n g aller Institutionen verlangen,
welche dem direkt entgegengesetzten Ziele zustreben, gleichviel, ob dadurch ei-
ne Schädigung der Produktionsinteressen – wie dies wenigstens für das Getreide
wahrscheinlich ist eintritt. Viele deutsche L a n d l e u t e müssen ihm mehr
wert sein als viel deutsches K o r n . Uebrigens läßt sich h e u t e auch
nicht die allerentfernteste »Gefahr« eines V e r s c h w i n d e n s oder auch
nur einer dem Getreide-Produktionsinteresse in fühlbarer Weise zuwiderlaufen-
den s t a r k e n Reduktion des Großbetriebes für den Osten wahrscheinlich
machen. Was dort z. B. etwa in Pommern an Reduktion der G r o ß be-
triebsfläche vor sich geht, ist in weit überwiegendem Me eine Reduktion der
Betriebsgröße auf ein technisch erträgliches Maß. Bei Aufhebung aller Fidei-
kommisse, stufenweiser Beseitigung aller Getreidezölle, progressiver Bodenbe-
sitzbesteuerung und einer noch sehr verstärkten inneren Kolonisationstätigkeit
würden nach hundert Jahren im Osten noch so außerordentlich zahlreiche Ex-
emplare von Grafen, Freiherrn und Rittergutsbesitzern übrig sein, daß jeder ge-
fühlvolle Romantiker sich an ihnen über Bedarf erquicken könnte. D die
Bäume der Bauernkolonisation nicht in den Himmel wachsen, dar ist durch
die historisch gegebenen, nur im Lauf vieler Generationen zu ändernden Ver-
hältnisse – nur allzu sehr! – gesorgt. –
Die Motive machen nun keinen Hehl daraus, daß i h n e n vor allem der
Schutz des G r o ß b e s i t z e r s wie wir später sehen werden, auch des
G r o ß b e t r i e b e s am Herzen liegt. S e i n e Verminderung betrachten
sie als diejenige Gefahr, welcher der Entwurf entgegentreten soll. Sie heben
hervor, die Fideikommisse sollten einen Schutz bieten gegen die »fortschreiten-
de Ueber-
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 338
schuldung des ländlichen Grundbesitzes, sowie gegen eine n i c h t d e r
f o l g e r i c h t i g e n E n t w i c k l u n g d e r w i r t s c h a f t l i -
c h e n V e r h ä l t n i s s e , s o n d e r n d e r N o t l a g e d e s B e -
s i t z e r s e n t s p r i n g e n d e Bodenzerstückelung«. Es wäre dankens-
wert, wenn die Motive angedeutet hätten, w a s denn die »folgerichtige« Ent-
wicklung wäre und woher r sie der Maßstab zu gewinnen sei in einer auf Pri-
vateigentum gegründeten Gesellschaftsordnung? In jener wunderbaren Wen-
dung hat aber lediglich das unklare Ineinanderschieben des Seienden mit dem
Seinsollenden und die Unfähigkeit der Abneigung, mit klaren Begriffen zu ar-
beiten, wie sie der »romantischeSchule eignet, ein Paradigma ihrer Konse-
quenzen geliefert. Denn die »folgerichtige Entwicklung« ist hier doch wohl ein-
fach die, welche der Verfasser der Motive für e r w ü n s c h t lt. Oder soll
damit gesagt sein, daß in der Ueberschuldung d. h. doch: in der zum ökonomi-
schen Zusammenbruch führenden Verschuldung gerade des G r o ß besitzes
individuelle, vom ökonomischen Standpunkt aus »zufällige«, Momente zum
Ausdruck men, da doch die t e c h n i s c h e Ueberlegenheit des Groß -
b e t r i e b e s eigentlich eine g e r i n g e r e ökonomische Gefährdung des
Groß b e s i t z e s bedingen müsse? Dann wäre der Satz einfach falsch und
beruhte teils auf falschen t a t s ä c h l i c h e n Annahmen, teils auf irrigen
ökonomischen Ansichten. Gerade weil der Groß b e t r i e b kapitalistische
Markt-Produktion bedeutet, ist der ihm als Grundlage dienende Groß b e s i t z
soweit Wirtschafter und Besitzer identisch sind ganz »folgerichtigerweise«
konjunkturen e m p f i n d l i c h e r
1 )
. Tatsächlich unrichtig ist aber überdies
die Behauptung, daß eine irgend im Verhältnis zu anderen Besitzgruppen – ins
Gewicht fallende » B o d e n z e r s t ü c k e l u n g « im Bereich speziell des
durch Fideikommisse zu schützenden G r o ß besitzes zu beobachten wäre, man
ßte denn eine Zerstückelung, die bei ungestörtem Fortgang in mehreren
J a h r h u n d e r t e n den Großbesitz d a n n ernstlich bedrohen würde,
w e n n der »Zerstückelung« k e i n e r l e i Zukauf gegeberstände, eine
solche nennen. In a l l e n anderen Besitzkategorien umfaßte
1)
Dies zeigen folgende, nach den Angaben in der Publikation von E v e r t , Zeitschr. d.
Preuß. Stat. B., Bd. 29, 1889, S. 146 f., errechnete Zahlen über 1. die Zahl und 2. die Gründe,
welche in den Jahren 1886-1889 zur Z w a n g s v e r s t e i g e r u n g l ä n d l i -
c h e r G r u n d s t ü c k e führten:
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 339
1896-99
der Besitzwechsel prozentual m e h r Fälle von »Abtrennung« und
»Zerstückelung« als gerade im Großbesitz, und zwar im ganzen: je weiter nach
unten hin, desto mehr
1)
, und
auf Betriebe bzw. Besitzungen von
unter 2 ha 2-10 ha 10-50 ha über 50 ha
a) von der Betriebsfläche Proz.
1,52 14,68 37,90 45,90
1886/87
1887/88
b) von der z w a n g s - 1888/89
v e r s t e i g e r t e n durch-
Besitzfläche Proz. schnitt-
lich
0,79 5,10 15,99 78,12
0,81 5,02 15,50 78,67
0,77 5,87 15,72 77,64
0,79
5,33
15,70
78,14
Die Durchschnittsfläche zu b)
bleibt hinter dem nach Be-
triebsverteilung (a) auf die
Größenklasse entfallenden Quotenbetrag zu-
rück (–) bzw. über-
steigt ihn (+) um Proz.
– 48,1
63,7
58,6
+ 70,2
Als Gründe des Vermögensverfalles
ist der Einfluß der
K o n j u n k t u r e n angegeben
in Proz. der Fälle
2,58
4,03
7,21
15,52
Dagegen rein persönliche Verhältnisse (Wu-
cher, Verschulden,
Familienverhältnisse usw. in Proz.)
71,75
63,15
57,21
45,01
Also zunehmende Bedeutung der a l l g e m e i n e n Einflüsse der Marktkonjunkturen
bei den g r ö ß e r e n Betrieben. Ich habe mich über diese Frage und den Wert dieser Zah-
len in meinem Gutachten über das Heimstättenrecht für den 24. Juristentag geäußert.
1)
K ü h n e r t , in der Ztschr. d. Pr. Stat. B., 1902 S. 1 f. Die Motive, welche die Arbeit
des gleichen Verfassers über die Wanderungen (s. u.) sich nutzbar zu machen versucht haben,
haben für diese sehr viel schlüssigeren Zahlen charakteristischerweise gar kein Auge gehabt,
trotzdem aber das alte agrarische Schlagwort wiederholt. Die wucherische »Güterschlächte-
re wird wohl allseitig gleichmäßig beurteilt, ihre T r a g w e i t e aber, soweit der
G r o ß besitz in Betracht kommt, ist im g a n z e n eine schlechthin minimale. Die Zah-
len der oben zitierten Abhandlung leiden vorläufig notgedrungen unter dem Mißstand, daß
wir nicht wissen, welches Maß von H i n z u s c h l a g u n g e n den Abzweigungen ge-
genübersteht. Ferner natürlich unter einer gewissen Divergenz zwischen gezählter Besitzein-
heit und Eigentumskomplex. Manche Auffälligkeit möchte damit zusammenhängen. Auch
würden w i c h t i g e Resultate erst bei einer Entzifferung für weit kleinere Bezirke (der
einzelnen Gerichte) hervortreten, namentlich stände erst dann die Erörterung über die Wir-
kungen des E r b r e c h t s auf etwas festerem Boden. Aber wenigstens dieses Zahlenma-
terial beschafft zu haben, bleibt trotzdem ein ganz hervorragendes Verdienst. Mehr darüber
bei einer künftigen Gelegenheit.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 340
das wird so bleiben, solange unsere Zollpolitik den nun seit 20 Jahren f ü r
d e n O s t e n ungefähr gleichmäßig hohen und jetzt noch zu steigernden,
speziell den Großbetrieb und -besitz fördernden G e t r e i d e zollschutz nicht
herabsetzt. S t e i g e r u n g d e s d e n G r o ß b e s i t z e r n z u g u -
t e k o m m e n d e n Z o l l s c h u t z e s , s p e z i e l l d e s g e r a -
d e d e n b e s t e n B ö d e n z u g u t e k o m m e n d e n , u n d
A n r e i z z u f i d e i k o m m i s s a r i s c h e r B i n d u n g g e r a d e
d i e s e r B ö d e n , v e r b u n d e n m i t wie noch zu erörtern sein
wird e r z w u n g e n e r E r h a l t u n g u n d S c h a f f u n g v o n
G r o ß b e t r i e b e n ist aber offenbar das ganz bewußte Ziel der Regie-
rungspolitik.
I n w i e w e i t dadurch auch nur das von den Motiven in den Vordergrund
geschobene Getreideproduktionsinteresse gefördert wird, ist höchst fraglich.
Denn es ist endlich auch unzutreffend, daß die Verschuld b a r k e i t des frei-
en Großgrundbesitzes h e u t e als ein irgend w e s e n t l i c h ins Gewicht
fallender Grund ökonomischer Rückständigkeit gegenüber den unverschuldba-
ren Fideikommissen angesprochen werden könnte, so oft und kritiklos dies auch
geschieht. Daß die t a t s ä c h l i c h e Verschuldung diese Rolle spielen
k a n n , ist durchaus zuzugeben. Aber den ganz unzweifelhaft vorkommenden
Fällen, wo ein überschuldeter Grundbesitzer, der nicht verkaufen will und nicht
verpachten kann, sich in jahrelanger Agonie befindet, stehen ebensoviele Fälle
unzulänglichen Betriebskapitals
1)
und relativ w e i t m e h r Fälle unzuläng-
licher landwirtschaftlicher Kenntnisse von Fideikommißbesitzern mit alsdann
noch v i e l l ä n g e r dauernder Misere gegeber, und n u r b e i
g r o ß e n K o m p l e x e n kann durch V e r p a c h t u n g oder, infolge
der ökonomischen Potenz der ganz großen Grundherrn, durch Gewinnung her-
vorragender Kräfte für die h e u t e keineswegs mehr unbedingt hinter der
Selbstwirtschaft eines Offiziers a. D. zurückstehende Administration
2)
und de-
ren Ausstattung mit großen Betriebsfonds abgeholfen, und dann freilich oft sehr
günstige Er-
1)
D a r i n schafft natürlich für die Eigenwirtschaft auch die »Verbesserungsmasse« des
Entwurfs, so dankenswert auch dieser obligatorische Sparzwang sonst ist, keinen entschei-
denden Wandel, denn eben als B e t r i e b s kapital soll sie ja n i c h t verwendet wer-
den. Die eventuelle technische Stärke des von »Besitzschulden« freien Betriebs wird nach wie
vor durch V e r p a c h t u n g bedingt sein.
2)
Eine nähere Erörterung hierüber muß unterbleiben.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 341
gebnisse erzielt werden: aber Voraussetzung ist dann eben, daß man worauf
wir noch oft zurückkommen den Lieblingsgedanken von den fideikommissa-
risch gesicherten » R ü c k e n besitzern« aufgibt. Leider freilich werden noto-
risch und auch nach Ausweis der Güterlexika gerade auf großen Herrschaften
immer noch Offiziere a. D. als die qualifiziertesten Administratoren und selbst
Pächter angesehen. Eine Ueberlegenheit des s e l b s t wirtschaftenden kleinen
Fideikommißbesitzers vom Standpunkt des Produktionsinteresses aus aber ist
generell in keiner Weise wahrscheinlich. Die armen, chronisch notleidenden Gü-
ter der östlichen sandigen Höhengebiete (Pommern, Preußen) m e i d e t das
Fideikommiß, auf den besten Boden ist der f r e i e Besitzer dem k l e i n e n
selbstwirtschaftenden Fideikommißbesitzer höchstwahrscheinlich ganz erheb-
lich überlegen, auf den mittleren findet jedenfalls schwerlich das Gegenteil statt.
Die Statistik reicht soviel ich sehe nicht aus, um für die hier wesentlich in
Betracht kommende G e t r e i d e produktion etwas bestimmtes festzustellen
1)
.
Es bleibt also, wenn man irgendeinen verständigen Sinn jener Worte der Motive
zu ermitteln sucht, nur die Annahme übrig, daß dem Verfasser dabei der oft be-
sprochene Gegensatz der »Besitz-« und »Betriebs«schulden vorschwebte, und er
die »Besitz«verschuldung schon um dieses Charakters willen für verwerflich er-
achtet. Nun muß hier der Nachweis, daß diese Unterscheidung keineswegs so
einfach ist, wie die auf Rod-
1)
Der einzige spezifische Fideikommißkreis, den ich bei Durchsicht einiger früher ge-
machter Notizen für die 5 Jahre 1888-1892 mit auffällig h o h e n Getreideerträgen, höhe-
ren als in den Nachbarkreisen ähnlicher Reinertragsklassen, notiert finde, ist Oels (große
Herrschaften des Königs von Sachsen und des preußischen Kronprinzen, also finanziell
potenter, n i c h t selbst wirtschaftender Großbesitzer). Der Fideikommißkreis Militsch
stand hinter dem benachbarten Kreise Guhrau im Weizenertrag stärker zurück, als die
Differenz der Bodenbonitierung erwarten läßt, ohne daß der ebenfalls pro Fläche weniger
ertragende Roggen die Divergenz ausglichen Der Fideikommißkreis Franzburg stand bei
minimalen Differenzen des Grundsteuerertrages in allen jenen 5 Jahren hinter den
Nachbarkreisen Greifswald und Grimmen im Weizenertrage zurück, außer in einem, wo er
wenigstens den Kreis Grimmen etwas übertraf. Doch ist mit den betreffenden Zahlen und
ähnlichen nicht viel anzufangen, da entscheidend stets der im Osten immer negativ ins
Gewicht fallende Anteil der kleineren Bauern an der Fläche ist. In den hauptsächlichsten
Fideikommißkreisen (speziell Schlesiens) hat dieser aber allerdings, wie noch zu erörtern, die
Tendenz, stärker zu steigen, als derjenige der mittleren Betriebe, also das Ergebnis
herabzudrücken. Den Viehstand lasse ich für diesmal unerörtert, obwohl natürlich gerade
hier die Stärke d e r B a u e r n liegt, da für ihn wohl niemand von den Fideikommissen
mit G r o ß betrieb Heil erwartet.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 342
bertus fußende, und noch nicht über ihn fortgeschrittene Theorie annimmt, un-
terlassen werden. Nur auf eins sei hingewiesen: die fideikommissarische Bin-
dung großer Teile des Bodens schränkt das für den Ankauf durch fachmäßig
chtig vorgebildete Landwirte verfügbare Areal e i n , s t e i g e r t a l s o
natürlich wenn nicht die Zahl derartiger Kaufreflektanten und damit der Zu-
strom von Intelligenz und Kapital a b nimmt seinen Preis
1)
und d a m i t
d i e » B e s i t z « v e r s c h u l d u n g d e s n i c h t g e b u n d e n e n
B o d e n s . Die später noch zu berührende Erscheinung, daß in spezifischen
Fideikommißkreisen die Zahl der K l e i n bauern besonders stark steigt, dürfte
eben jener Verringerung des Bodenangebots im Verhältnis zur Nachfrage zuzu-
schreiben sein. Es gelangen nur d i e Leute zum Bodenkauf, die à fonds perdu
Ersparnisse darin anlegen, um eine gesicherte Stätte der Verwertung ihrer Ar-
beitskraft zu gewinnen, es sei denn, daß die Fideikommisse eine so starke
V e r m i n d e r u n g der landwirtschaftlichen Bevölkerung herbeiführen, daß
jene verstärkte Nachfrage nicht eintritt
2)
, daß sie also e n t v ö l k e r n d wir-
ken.
Außer den bisher erörterten unzutreffenden theoretischen Bemerkungen be-
schränken sich die Motive zur Begründung des ökonomischen Werts der Fidei-
kommisse, neben relativ breiten Ausführungen über die Bedeutung der Forst-
wirtschaft, auf die Hervorhebung der technischen Vorzüge des Großbetriebes,
schließen aus dem Umstande, daß die n e u gegründeten Fideikommisse gerade
auf guten Böden zu entstehen pflegen, darauf, daß »die Behauptung, die Fidei-
kommisse seien weniger intensiv bewirtschaftet« als andere Güter, unbegründet
sei
3)
, und spre-
1)
Schon die gesteigerte N o b i l i t i e r u n g des Bodenbesitzes wirkt ja darauf hin.
Ist doch die s o z i a l e Position des Gutsbesitzers einer der Hauptgründe der Ueberwer-
tung des Bodens schon jetzt.
2)
Ueber die grundsätzlichen Fragen der »Besitz«verschuldung ein andermal. R i c h -
t i g ist natürlich, daß die Grundrentenbildung, die in ihr sich äußert, das Agens der Tren-
nung von Besitz und Betrieb, Rente und Unternehmerrisiko ist, welches in der Fideikommiß-
bildung seinen konsequentesten Ausdruck findet. Eben deshalb ist diese ja – wie schon gesagt
ein echtgeborenes Kind des Agrarkapitalismus, der sich hier bis zu einem eigentümlichen
Umschlag in eine v e r k e h r s l o s e Besitzorganisation unter Erhaltung der verkehrs-
wirtschaftlichen B e t r i e b s organisation aufgipfelt. Daher die Vorliebe mancher S o -
z i a l d e m o k r a t e n für das Fideikommiß, welches t h e o r e t i s c h betrachtet
mit Recht – als eine Staffel des »Expropriationsprozesses« aufgefaßt wird.
3)
Allerdings ein wunderbarer Schluß. – Natürlich ist unter Anwendung
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 343
chen
in vagen Redewendungen von jener sattsam bekannten »glücklichen Mi-
schung« größerer, mittlerer und kleinerer Betriebe, welche zu erhalten und zu
fördern das Ziel der Agrarpolitik sein müsse. Daraus geht zunächst wiederum
nur das eine hervor, daß sie sich das Fideikommiß speziell als Stütze des
Groß b e t r i e b e s denken, den sie, wie wir immer wieder sehen werden, mit
dem Groß b e s i t z zu identifizieren bemüht sind. Im übrigen begnügen sie
sich damit, hervorzuheben, daß die Fideikommisse nicht, »wie die Gegner des
Fideikommißwesens es darstellen«, die ndliche A b w a n d e r u n g »in
hervortretendem Maße« mit veranlassen. Auf diesen letzteren Punkt mag, da er
eben schon berührt wurde, hier zunächst kurz eingegangen werden.
Vorauszuschicken ist dabei eins: Es ist kein Zweifel, daß starke B e w a l -
d u n g eines Gebietes, die natürlich regelmäßig mit sehr dünner Besiedelung
desselben identisch ist, diese geringere einmal vorhandene Bevölkerung in rela-
tiv hohem Grade auf dem Lande festzuhalten geeignet ist infolge der Winterar-
beitsgelegenheit, die hier im Gegensatz zu dem zunehmenden Saisoncharakter
rein landwirtschaftlicher Großbetriebe geboten wird. Da nun der Wald in beson-
ders hohem Grade nach fideikommissarischer Bindung strebt, und also Kreise
mit starker Bewaldung besonders häufig Kreise mit viel Fideikommissen sind,
so ßte man in den Fideikommißkreisen ganz allgemein eine besonders
n i e d r i g e Abwanderungsziffer erwarten, o h n e daß aus einer solchen
natürlich für die Wirkung der F i d e i k o m m i s s e , vollends der l a n d -
wirtschaftlichen Fideikommisse, irgend etwas folgen würde. Gerade die ganz
großen Fideikommisse sind ferner a l t e n Ursprungs. Ihre Wirkung bzw. ihre
N i c h t wirksamkeit auf die Bevölkerungsverhältnisse kann nicht aus der
j e t z i g e n Wanderbewegung, sondern muß aus den D i c h t i g k e i t s -
ziffern geschlossen werden
1)
. Sie haben ihre Wirkung: Verhin-
der nötigen Vorsicht die Annahme zulässig, daß bei s o n s t g l e i c h e n V e r -
h ä l t n i s s e n innerhalb eines Gebietes auf einen Bodenkomplex von höherer Ertragsfä-
higkeit auch auf hohe Erträge hingewirtschaftet werden wird. Auch ich werde sie hier mehr-
fach zu machen haben. Aber daraus, daß der werdenwollende Fideikommißbesitzer heute die
guten den aufkauft, auf seine Qualität als B e t r i e b s l e i t e r zu schlien, ist denn
doch ein starkes Stück. Es fragt sich gerade, was auf unter sich g l e i c h w e r t i g e m
Boden der freie und der s e l b s t w i r t s c h a f t e n d e gebundene Besitzer im all-
gemeinen als Betriebsleiter zu l e i s t e n pflegen.
1)
Wie es damit steht, kann daraus entnommen werden, daß auf einen hauptberuflich in der
Landwirtschaft Erwerbstätigen im Durchschnitt der Provinz
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 344
derung
der V e r m e h r u n g der selbständigen B a u e r n schon in der
V e r g a n g e n h e i t getan. Ein Mitglied des preußischen statistischen Bu-
reaus hat gleichwohl den Versuch gemacht, durch Nebeneinanderstellung von
Kreisen, deren Eigenart in bezug auf Grundbesitzverteilung und Fideikommiß-
bestand charakteristisch voneinander abweicht, den Beweis zu erbringen, daß
die Fideikommisse in der Gegenwart die Wanderbewegung günstig, d. h. im
Sinne der V e r m i n d e r u n g der ländlichen Abwanderung beeinflußt hät-
ten. Ich gehe unter dem Strich
1)
auf diese übrigens sehr verdienstlichen Ausfüh-
rungen
Schlesien 2,72 ha landwirtschaftliche Nutzfläche (also exkl. Forsten) kamen, im Durchschnitt
der schlesischen Fideikommißkreise dagegen 3,26 ha, daß also im Durchschnitt der Provinz
die Dichte der hauptberuflich landwirtschaftlichen Bevölkerung um
1
/
5
größer ist, als in den
Fideikommißkreisen, trotz der in diesen letzteren wie noch zu erörtern sein wird so sehr
zahlreichen Parzellenwirtschaften. Die liederliche Art, in der die schon früher erwähnte Bro-
schüre von E. Moritz gearbeitet ist, tritt schon darin hervor, daß hier die ländliche Volkszu-
nahme der Fideikommißkreise des Regierungsbezirks O p p e l n als Beweis dafür ange-
sprochen wird, daß die Fideikommißbesitzer die L a n d a r b e i t e r durch »patriarcha-
le« Vorsorge usw. an sich zu fesseln gewußt hätten. Ich entnehme einigen gelegentlich fher
gemachten Notizen, daß 1895 von den Inhabern der ca. 105 000 Landwirtschaftsbetriebe dort
17 885 Landarbeiter, Knechte, Mägde, Tagelöhner, Forst- und Fischereiarbeiter, dagegen 41
319 h a u p t beruflich in anderen als landwirtschaftlichen Berufen tätig waren. Schon ein
Blick in das Gemeindelexikon zeigt als Pertinenzen der Gutsbezirke: Zinkhütten, Eisenhütten,
Bergwerke usw. D a s sind die Mittel, die dortige »Landbevölkerung« zu halten.
1)
Kuhnert greift diejenigen 33 preußischen Kreise heraus, in denen mehr als 20 % der
Fläche fideikommissarisch gebunden sind (Gruppe a). Diesen werden 20 andere mit wenig
Fideikommiß-, aber viel allodialer Gutsfläche (Gruppe b), und endlich weitere 26 Kreise mit
sowohl wenig Fideikommiß- als wenig Gutsfläche (Gruppe c) gegenübergestellt. Er gelangt
nun zu dem Ergebnis, daß die Abwanderung der Bevölkerung der Landgemeinden und Guts-
bezirke in den Fideikommißkreisen nicht sehr wesentlich andere Erscheinungen aufweise, als
in den anderen. Speziell im Osten der Monarchie, auf den wir uns hier beschränken, sei aber
1875 bis 1900 in den Fideikommißkreisen die Abwanderung sogar g e r i n g e r gewesen,
als in den beiden anderen Gruppen, wenn schon erheblich h ö h e r , als im Durchschnitt
der Monarchie. Letzteres führt der Verfasser auf das Eindringen der Industrie in die Landkrei-
se des Westens zurück, ohne aber zu berücksichtigen, daß gerade die größten Fideikommiß-
kreise des O s t e n s in Schlesien ganz spezifische Industriekreise sind. Er gibt in dieser
Hinsicht zu, daß vielleicht »besondere örtliche Verhältnissdie Zahlen auch des Ostens be-
einflußt hätten, meint jedoch, daß diese »nicht ohne weiteres feststellbaseien. Das ist mir,
offen gestanden, unverständlich. Wir haben doch die Zahlen der Berufszählungen von 1882
und 1895 für jeden Kreis, und es konnte daraus die weit vorwiegend industrielle Qualität sol-
cher Landkreise wie Schmalkalden, Waldenburg, Reichenbach und der oberschlesischen Fi-
deikommißkreise ohne weiteres ersehen werden. Ferner aber kann man daraus auch die Zif-
fern speziell der l a n d - u n d f o r s t w i r t s c h a f t -
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 345
etwas
näher ein, um zu zeigen, daß, soweit die Zahlen uns etwas Bestimmtes
auszusagen gestatten, das Gegenteil davon richtig ist. Im übrigen aber ist nie-
mals behauptet worden, daß die R e c h t s f o r m der fideikommissarischen
Bindung des Bodens als solche u n m i t t e l b a r die Abwanderung der
Landbevöl-
l i c h e n Belkerung für jeden Kreis berechnen und vergleichen. Und auf deren Berech-
nung muß es doch ankommen, da kein Verständiger glauben wird, daß die fideikommissari-
sche Bindung des Bodens die Zahl etwa der Berg- und Hüttenarbeiterbevölkerung, wie sie ge-
rade in den Landgemeinden und Gutsbezirken mancher der größten Fideikommißkreise
Schlesiens in der großen Mehrheit ist, beeinflusse, und da überhaupt die Bewegung gerade
der landwirtschaftlichen Bevölkerung das ist, was bei der ganzen Erörterung in Frage steht.
Dabei ist nun natürlich die Beschränkung auf ein möglichst zusammenhängendes größeres
Gebiet mit in sich ähnlichen Verhältnissen geboten, um Zufallszahlen, wie sie beim Heraus-
greifen einzelner, zerstreut liegender Fideikommißkreise unterlaufen würden, möglichst aus-
zuschließen. Nehmen wir also das klassische Land der Fideikommisse, Schlesien, das einzige
größere Gebiet, welches jene Eigenschaften und daneben besonders große Kontraste in dem
Grade der Fideikommißbildung aufweist, und vergleichen wir die hauptberuflichen Erwerbs-
tätigkeiten in den vom Verfasser in Betracht gezogenen schlesischen Kreisen 1882 und 1895,
so zeigt sich, daß die landwirtschaftlich im Hauptberuf Erwerbstätigen in den 17 schlesischen
Kreisen der Gruppe a sich von 1882 bis 1895 um 4,18 % verminderten,hrend die landwirt-
schaftlich hauptberuflich Erwerbstätigen der zusammen 12 schlesischen Kreise der beiden
anderen Gruppen sich im gleichen Zeitraum nur um 1,07 % verminderten. Auf die 17 Fidei-
kommißkreise kommen nur ebensoviele mit einer Z u nahme der landwirtschaftlich Haupt-
berufstätigen wie auf die nur 12 Nichtfideikommkreise. Die Abnahme der hauptberuflich in
der Landwirtschaft Erwerbstätigen war also in den Fideikommißkreisen zusammen viermal so
stark als in den Kreisen mit vorwiegend freiem Bodenbesitz, t r o t z d e m doch die weit
stärkere Bewaldung der Fideikommißkreise (die hier wie überall dem Schwerpunkt nach na-
türlich nicht Folge, sondern U r s a c h e der Fideikommißbildung ist) das gerade umge-
kehrte Verhältnis keineswegs erstaunlich erscheinen lassen würde. Jener Unterschied der Ab-
nahme ist aber um so bemerkenswerter, als bei den bekanntlich im Sommer stattfindenden
Berufszählungen die Zahlen speziell der großen Güter infolge der Mitzählung der S a i -
s o n arbeiter stets erheblich zu hohe, und zwar infolge der s t e i g e n d e n Verwendung
der Wanderarbeiter natürlich in s t e i g e n d e m Maße zu hohe sindein Umstand, wel-
cher da, wo uns die Landkreise mit starkem Großgrundbesitz steigende Zahlen der landwirt-
schaftlichen Belkerung vortäuschen, stets sehr im Auge zu behalten ist. Jener Umstand
kommt z. B. darin zum Ausdruck, daß in den Fideikommißkreisen Mittel- und Niederschlesi-
ens auf 100 Erwerbstätige nur 101,5 Angehörige kommen. In Oberschlesien ist das Verhältnis
besser, da hier die andersartige polnische Lebenshaltung und die Frauenarbeit stark ins Ge-
wicht fällt. Auf die Agrarverfassung der Fideikommißkreise komme ich weiterhin zu spre-
chen.
Noch eine Einzelheit: den Kreis Habelschwerdt, dessen Fideikommißbestand erst n a c h
1895 von 8 auf 22 % stieg (!), durfte der Verf. doch wohl nicht in die Vergleichung einbezie-
hen. Auf eine weitere Kritik der zur Vergleichung herangezogenen Kreise verzichte ich, da
natürlich jede Auswahl, auch die weiterhin von mir gelegentlich getroffene, anfechtbar ist und
solche Zahlen stets n u r illustrativ verwertet werden dürfen.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 346
kerung bedinge, sondern es ist von dem im G r o ß betriebe genutzten
G r o ß g r u n d b e s i t z behauptet worden, daß er bei starkem Vorherrschen
auf landwirtschaftlich genutztem Boden die Entlkerung des Landes fördere
und deshalb auf gutem, für b ä u e r l i c h e Besiedelung g e e i g n e t e n
Boden allerdings direkt und wesentlich für sie verantwortlich sei
1)
. S o w e i t
der gebundene Großbesitz den Großbetrieb mit sich führt oder begünstigt wie
dies der Entwurf ausdrücklich als seinen Zweck hinstellt ist er es, der unter
den erwähnten Bedingungen die Schwächung der landwirtschaftlichen Bevölke-
rung verschuldet. Ob die Zusammenklammerung des Besitzes durch Hypothe-
ken oder durch fideikommissarische Bindung herbeigeführt wird, wäre a n
s i c h gewiß gleichgültig, nur daß eben die Schranken der Hypotheken so
außerordentlich viel leichter zu beseitigen sind. Das Institut des Fideikommisses
spielt also eine Rolle in diesem Zusammenhang und zwar eine recht erhebliche,
i n d i r e k t , indem es, w e n n es seinen in den Motiven ausdrücklich her-
vorgehobenen Zweck erfüllt, den Großbetrieb künstlich zu erhalten, dies gerade
auf Böden tut, wo die Entstehung von mittleren und kleineren Betrieben wirt-
schaftlich möglich, und zwar generell gesprochen g a n z b e s o n d e r s
g u t m ö g l i c h wäre. Diese Behauptung ist durch die Publikationen des
Preußischen Statistischen Bureaus nicht etwa, wie der Verfasser der Motive des
Gesetzentwurfes sich einredet, widerlegt, s o n d e r n v i e l m e h r b e -
s t ä t i g t worden, denn sie wird durch die unbestreitbare Tatsache bewiesen,
daß heute gerade die b e s s e r e n landwirtschaftlich nutzbaren Bodenlagen
der Fideikommiß-Neugründung anheimfallen.
Mit dem Gesagten sind wir bereits bei der entscheidenden Frage: wie wirkt
die Fideikommißbildung auf die grundlegenden Elemente der Agrarverfassung,
Boden b e s i t z - und B e t r i e b s verteilung und das Verhältnis von Besitz
und Betrieb zueinander. Obwohl es nun ganz unmöglich ist, diesen Punkt, der
von den Freunden des Instituts, z. B. Sering, einfach nicht erörtert worden ist, im
Rahmen dieser Studie erschöpfend zu behandeln, so muß doch einiges wenig-
stens über die Beeinflussung des stets so stark hervorgehobenen Interesses an
der »Erhaltung
1)
Daß die Abwanderung vom Lande nicht n u r da stattfindet, wo Großbetrieb vor-
herrscht, ist durchaus richtig. Daß sie durch das Vorherrschen des Großbetriebs exzessiv
g e s t e i g e r t wird, ist aber ganz ebenso unzweifelhaft.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 347
des B a u e r n standes« durch das Fideikommiß auch hier gesagt werden
1)
.
Was zunächst die Entwicklung des uerlichen Boden b e s i t z e s , speziell
im Osten der Monarchie, den wir hier allein heranziehen, anlangt, so wird er
heute durch zwei Tendenzen z u u n g u n s t e n des Bestandes speziell der
größeren und mittleren Bauernstellen beeinflußt. Einerseits durch den Landhun-
ger der Parzellenbesitzer
2)
, welche und dies gilt insbesondere für die zahlrei-
che Klasse der grundbesitzenden Sachsengänger um jeden, auch einen gänz-
lich unwirtschaftlichen Preis durch Bodenzukauf selbständig zu werden trachten
und dadurch den Bodenpreis in die Höhe treiben: Abnahme der größeren un-
selbständigen, Zunahme der kleinsten selbständigen und Abnahme der, zugun-
sten jener Nachfrage vorteilhaft zu parzellierenden, größeren selbsndigen Be-
sitzungen sind die Folgen. Auf der anderen Seite ist es der Landhunger zunächst
des bürgerlichen Kapitals, welches Anlage in Bodenbesitz wegen der sozialen
Position des Gutsbesitzers sucht, daneben aber auch der Landhunger des Fidei-
kommißbesitzes, der nach Erweiterung seiner Rentenbasis strebt. Soweit nicht
ganze Rittergüter, sondern Bauernländereien angekauft werden, verkleinern
b e i d e naturgemäß n i c h t den Bereich des seinerseits selbst landhungri-
gen Parzellenbesitzes, sondern gerade den der größeren und mittleren Bauernbe-
sitzungen, dies auch deshalb, weil naturgemäß überall die mit Gebäuden we-
niger belastete Fläche billiger zu erstehen ist. Beiden Tendenzen zur Seite steht
nun die Benachteiligung derjenigen Eigentümer b e t r i e b e , welche nicht
e n t w e d e r ganz oder annähernd ganz durch die eigene Familie bestellt
werden nnen, o d e r aber den regelmäßigen Bezug großer Scharen wan-
dernder S a i s o n arbeiter lohnen,
1)
Die nachstehenden Zahlen sind durchweg nach dem Gemeindelexikon von 1885 und
1895, ferner nach den preußischen Grundbesitzaufnahmen von 1878 und 1892, den Berufs-
zählungen von 1882 und 1895, den Erntestatistiken (alles in den Tabellen teils der amtlichen
preußischen Statistik, teils der Reichsstatistik enthalten) und den im preußischen »Statisti-
schen Jahrbuch« gegebenen Ziffern errechnet, soweit sie nicht direkt entnommen werden
konnten. Ich habe der Raumersparnis halber auch nur die Verhältnis-, nicht die absoluten
Zahlen hergesetzt. Die nur begrenzte Vergleichbarkeit der »landwirtschaftlichen« mit den
»Anbau«flächen von 1895 bzw. 1882 steht der Vergleichung der Kreise u n t e r e i n a n -
d e r nicht im Wege.
2)
Der natürlich sehr stark mitbedingt ist durch das Verschwinden der g e w e r b l i -
c h e n Nebenarbeit auf dem platten Lande.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 348
infolge der Steigerung der Löhne und der bekannten Entwicklungstendenzen der
Arbeitsverfassung im Osten. Dem Umsichgreifen der B o d e n b e s i t z -
Akkumulation wirkt nun auf dem Gebiete des u n g e b u n d e n e n Bodens
zurzeit die unzweifelhafte Tendenz zur Verkleinerung unwirtschaftlich großer
B e t r i e b e derart entgegen, daß h e u t e auch in der Sphäre der nicht ge-
bundenen großen B e s i t z ungen im g a n z e n die Tendenz zur Abnahme
der Durchschnittsgrößen überwiegt. Allein diese Abnahme erfolgt, bei der grö-
ßeren Rentabilität der Ausbeutung des Landhungers der Parzellisten, in weitaus
stärkerem M zugunsten ganz kleiner Bauernstellen als zugunsten mittlerer
oder größerer. Wie sich nun die Fideikommißbildung zu diesen Entwicklungs-
tendenzen stellt, versuchen wir uns wieder an dem Beispiel Schlesiens zu ver-
deutlichen und greifen auch hier als Fideikommißkreise die in der erwähnten
amtlichen Publikation ausgewählten 17 schlesischen Kreise heraus. Die Grund-
besitzverteilung dieser schlesischen Fideikommkreise weicht nun von dem
durchschnittlichen Zustande Schlesiens zunächst darin ab, daß die Zahl der selb-
ständigen im Verhältnis zu den unselbständigen Besitzungen eine erheblich
k l e i n e r e ist: 1878: 1 : 3,4 in der Provinz, 1 : 4,9 in den Fideikommißkrei-
sen, 1893: 1 : 2,9 in der Provinz, 1 : 3,8 in den Fideikommißkreisen. Zwar hat,
wie diese Relationen zeigen, von 1878-1893 die Zahl der selbsndigen Besit-
zungen in allen Fideikommißkreisen zusammengerechnet schneller zugenom-
men als im Durchschnitt der Provinz, aber diese Zunahme ist weit überwiegend
nicht durch Neuentstehung von mittleren Bauernbesitzungen, sondern dadurch
herbeigeführt, daß, besonders in den industriellen Fideikommißkreisen, in über-
durchschnittlich hohem Maße der Bruchteil derjenigen Parzellenbesitzungen
von ungefähr 60 Talern Reinertrag gestiegen ist, welche als » s e l b s t ä n -
d i g e « Nahrungen gezählt wurden, verbunden mit einer teils absoluten, teils
relativen Abnahme der unselbständigen, früher auf gewerbliche Nebenarbeit
sich stützenden Parzellenbesitzungen. Die Zunahme kam also lediglich den eben
über die Schwelle der Selbständigkeit herausragenden Kleinstbauern zugute.
Das entsprechende zeigt sich bei spezieller Betrachtung des uerlichen Grund-
besitzes. Wenn man als Grenzen der bäuerlichen Besitzungen nach unten das
Nichtvorkommen »unselbständiger« in der betreffenden Reinertragsklasse, nach
oben das Auftreten
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 349
von Gutsbezirken im Umfang von Mehr als
1
/
10
der Fläche der betreffenden
Reinertragsklasse annimmt, so stellen die Besitzungen zwischen 60 und 300 Ta-
lern Reinertrag im Provinzialdurchschnitt und (mit nur zwei Ausnahmen) auch
in allen Fideikommißkreisen »bäuerliche Besitz dar. Wie in der ganzen Pro-
vinz, so sind nun 1878-1893 auch in den Fideikommißkreisen Zahl und Fläche
der Besitzungen dieser Klasse gesunken, aber der Z a h l nach l a n g s a -
m e r , als im Provinzialdurchschnitt (minus 1,3 % gegen minus 2,4 %), dage-
gen der F l ä c h e und also auch der Gesamtbedeutung innerhalb der Agrar-
verfassung nach s c h n e l l e r (minus 5,3 % gegen minus 3,8 %), d. h. wie
auch ein näheres Eingehen auf die Zahlen lehrt: es ist in den Fideikommiß-
kreisen in s t ä r k e r e m Maße als im Provinzialdurchschnitt die Schicht der
k l e i n e n Bauern begünstigt gewesen, also erhalten geblieben oder (teilwei-
se) gewachsen, dagegen sind die mittel- und großbäuerlichen Besitzungen
s c h n e l l e r gesunken, als im Provinzialdurchschnitt, und zwar obwohl sie
ohnedies in den Fideikommißkreisen im allgemeinen am schwächsten vertreten
waren. Die Erhaltung und weitere Verbreitung der Fideikommisse, welche das
Angebot uflichen Bodens dauernd und zunehmend künstlich herabsetzt und
die Masse der Bevölkerung in verstärktem Maße auf die ungünstigsten Böden
zusammendrängt, würde, soweit sich urteilen läßt, in den Bodenbesitzverhältnis-
sen die Tendenz zum Nebeneinander grer Bodenkomplexe und kleiner Stel-
len, die zur Beschäftigung und Ernährung einer Familie mit möglichst niedriger
Lebenshaltung eben ausreichen, fühlbar v e r s t ä r k e n , wie dies ja dem
früher theoretisch Entwickelten entspricht. – Die Bewegungen innerhalb der
Sphäre des großen Besitzes sollen, da hier die gezählten Besitzeinheiten am we-
nigsten mit den Eigentumseinheiten koinzidieren, für jetzt beiseite bleiben. Wir
wenden vielmehr unsere Aufmerksamkeit der B e t r i e b s verteilung zu.
Die umstehende Tabelle zeigt die Betriebsverteilung der Fideikommißkreise
im Jahre 1895 nach den 5 Größenklassen, welche die Reichsstatistik unterschei-
det, im Vergleich mit den Durchschnittszahlen der betreffenden Regierungsbe-
zirke. Es zeigt sich zunächst, daß in 12 von den 16 Fideikommißkreisen die
Großbetriebe und zwar zum Teil recht erheblich, m e h r von der gesamten
Wirtschaftsfläche okkupieren, als im Durchschnitt der einzelnen Regierungsbe-
zirke. Dagegen stehen sie in zwei Kreisen
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 350
Von der gesamten Wirtschaftsfche umfaßten
1895 Proz. die Betriebe von ha
0-2 2-5 5-20 20-100 üb. 100 5-100
Regierungsbezirk Breslau
1)
2,90 8,27 24,66 23,82 40,35 48,48
Kreise: Groß-Wartenberg
4,71 10,97 29,52
9,89
44,91
39,41
Oels 2,40 6,74 20,05 17,97
52,84
48,02
Militsch
3,37
7,99
32,07
13,89
42,68
45,96
Reichenbach 2,46 7,61 19,98
26,75 43,20
46,73
Waldenburg
4,91 9,44 52,40 27,74
5,51
80,14
Regierungsbezirk Liegnitz 3,95 11,36 30,28 26,01 28,40 56,29
Kreise: Freistadt 2,50 7,85 29,74 22,58
37,33
52,32
Sagan 3,87
13,01 32,36 26,76
24,00
59,12
Sprottau 2,05 6,91 26,71
32,16 32,17 85,87
Hirschberg
6,94 17,42 37,74 30,39
7,51
68,13
Regierungsbezirk Oppeln 7,29 13,46 33,29 14,74 31,22 48,03
Kreise: Rosenberg 5,92 10,89
33,86
8,08
41,25
41,96
Lublinitz 6,36
15,16 34,44
7,08
36,96
41,51
Tost-Gleiwitz 6,16 13,12 28,57 5,39
46,76
33,96
Tarnowitz
19,64 17,92
14,91 3,51
44,02
21,42
Pleß
10,73 17,57 34,38
9,38 27,34 43,76
Ratibor
11,31 14,37
30,76 6,27
37,29
37,05
Kosel
7,59
12,92 31,27 7,86
40,36
39,13
(Waldenburg und Hirschberg) ganz auffallend und in einem weiteren (Sagan)
merklich dahinter zurück und diese selben sowie ein benachbarter Kreis (Sprot-
tau) sind die einzigen schlesischen Fideikommißkreise
2)
, in denen der »großbäu-
erliche« Betrieb eine für Schlesien überdurchschnittliche Stelle einnimmt. I n
a l l e n d i e s e n K r e i s e n s i n d n u n d i e F i d e i k o m -
m i ß k r e i s e z u m e h r a l s
3
/
4
i n e i n e m z u
9
/
1 0
, d e r
F l ä c h e F o r s t f i d e i k o m m i s s e . Die Gruppe des kleineren u-
erlichen Besitzes (5-20 ha) ist allerdings in der Hälfte (8) der Kreise s t ä r -
k e r als im Durchschnitt der Regierungsbezirke vertreten, d a r u n t e r
a b e r 3 jener spezifischen F o r s t fideikommkreise, während 4 weitere
auf den
1)
Der Kreis Habelschwerdt ist hier aus den früher angegebenen Gründen fortgelassen.
F e t t g e d r u c k t sind die Zahlen in den Kreisen, wo die betreffende Größenklasse die
Proportion des Regierungsbezirks übersteigt.
2)
Nur im Kreise Reichenbach ist neben den Betrieben über 100 ha auch die Klasse 20-100
ha überdurchschnittlich vertreten. Von ihm wird später besonders zu reden sein. Hier sei nur
bemerkt, daß nach seinen B o d e n verhältnissen hier die größeren Betriebe dieser Klasse
bereits als Großbetriebe gelten müssen.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 351
Regierungsbezirk Oppeln – die Region der Polen – fallen. Vergleicht man in den
Kreisen mit besonders starker Vertretung dieser Klasse die Betriebsgrößenent-
wicklung zwischen den hlungen von 1882 und 1895, so zeigt sich
1)
, daß die
durchschnittliche Betriebsgröße in den vergleichbaren Größenklassen der uer-
lichen Betriebe sich dort derart verschoben hat, daß wiederum mit Ausnahme
eines F o r s t fideikommißkreises die Zunahme gerade den k l e i n e r e n ,
noch eben selbständigen, Betrieben zugute gekommen ist
2)
. Aus dem gleichen
Grunde zeigen auch die an uerlicher Betriebs f l ä c h e stabilen oder ab-
nehmenden Kreise meist eine Z u nahme der Z a h l der Betriebe. Abge-
nommen hat, wie in der Provinz überhaupt, so auch in der überwiegenden Mehr-
zahl der Fideikommißkreise, Fläche und Zahl der unselbständigen Betriebe unter
2 ha, jedoch sind andererseits in einer Anzahl von Fideikommißkreisen eine er-
hebliche Zahl von K l e i n s t parzellisten (unter 1 ha) neu entstanden. Beginnt
man nun, wie es notwendig geschehen muß, in die lokale Einzelvergleichung
einzutreten, so erfordert die Deutung der dabei z. T. etwas mühsam zu errech-
nenden Zahlen eine eingehendere Darlegung, als sie hier gegeben werden kann.
Es muß genügen, hier unter dem Strich
3)
an drei Beispielen be-
1)
Ich will diese weitläufigen Rechnungen nicht auch noch hier abdrucken.
2)
So hat z. B. im Kreise Militsch die Z a h l der Betriebe in der Klasse von 10-50 ha
um 14 % die Fläche nur um 10
1
/
2
% zugenommen, in der Klasse von 2-10 ha die Zahl um
10,8 % die Fläche nur um 6
1
/
2
%.
3)
1. Latifundien und freier Grundbesitz in rein agrarischen Kreisen. In den Kreisen
G u h r a u und M i l i t s c h sind beiderseits über
3
/
4
der wirtschaftlich überhaupt Täti-
gen (Gruppen A. B. C. der Berufsstatistik) landwirtschaftlich h a u p t berufstätig. Der etwas
bessere Boden in Guhrau wird durch das von der Kavalleriegarnison in Militsch repräsentierte
große Konsumzentrum ausgeglichen, Guhrau ist wesentlich schwächer bewaldet als Militsch,
dagegen sehr viel stärker unter den Pflug genommen (Verhältnis der Ackerfläche von Guhrau
zu Militsch (1885) gleich 9,1 : 10, der gesamten Kreisfläche dagegen nur wie 7,3 : 10 und der
Waldfläche nur wie 5,3 : 10). Die Großbetriebe über l00 ha umften 1895 in Guhrau 50,8, in
Militsch 42,7 % der Fläche. Dagegen sind in Guhrau 5
1
/
2
%, in Militsch dagegen 43 % der
ganzen Kreisfläche fideikommissarisch gebunden und zwar dem Schwerpunkt nach in 5 gro-
ßen Herrschaften mit 80 einzelnen Rittergütern und Vorwerken. In Guhrau hat der Großbe-
trieb 1882-1895 an Umfang der Wirtschaftsfläche sich behauptet, an Durchschnittsgröße der
Betriebe etwas a b genommen, im Fideikommißkreise Militsch ist er an Fläche etwas gestie-
gen, an Zahl der Großbetriebe hat er ab- und also an Durchschnittsfläche des Grbetriebes
z u genommen. Die bäuerlichen Besitzgruppen zwischen 10 und 100 ha haben 1882-1895 in
beiden Kreisen an Gesamtflächenquote (30 %) sich so gut wie nicht verändert, dagegen an
Z a h l beiderseits, in Militsch aber doppelt so stark als in Guhrau z u genommen, so daß
die Durchschnittsfläche pro b ä u e r l i c h e n Betrieb in diesen Klassen jetzt
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 352
nachbarter
Kreise mit in bestimmter Beziehung charakteristisch differierenden,
im übrigen möglichst ähnlichen Verhältnissen einige wichtigere Entwicklungs-
momente zu i l l u s t r i e r e n , n i c h t : zu » b e w e i s e n « , denn
dazu bedürfte es der Vorführung eines weit umfassenderen Materials, die ich
mir gern für
in Guhrau 20,2, im Fideikommißkreise Militsch nur 17,8 ha beträgt, trotzdem in Militsch An-
erbensitte, in Guhrau Vererbung ohne Bevorzugung eines Erben vorherrscht. In der Klasse 2-
10 ha hat die Gesamtfläche beiderseits zugenommen, in Guhrau um 5, in Militsch aber um 16
%. Da die Zahl der Betriebe in Militsch um 10 % g e s t i e g e n ist, in Guhrau aber um
1
2
/
3
% a b genommen hat (durchschnittliche Betriebsgröße 4,9 ha in Militsch gegen 5,1 ha in
Guhrau) und da endlich bei den Parzellisten unter 2 ha ebenfalls die Zunahme der Zahl in Mi-
litsch (+7 %) einer Abnahme in Guhrau (-16 %) gegenübersteht, so zeigt alles in allem der
Fideikommißkreis im Gegensatz zu dem Kreise mit nicht gebundenem Boden heute die Ten-
denz der S t e i g e r u n g d e r E x t r e m e auf beiden Seiten, Parzellisten und
Kleinbauern mit abnehmender Durchschnittsfläche einerseits, Grbetrieb mit zunehmender
Fläche andererseits, auf Kosten der mittleren Betriebe. Dementsprechend ist 1895 der
Kleinstbetrieb unter 5 ha in Militsch mit 11
1
/
3
% gegen 7,9 % in Guhrau vertreten, die uer-
liche Besitzklasse 5-20 ha zwar in Militsch jetzt noch stärker als in Guhrau (32 gegen 24 %),
wobei aber zu berücksichtigen ist, daß in Militsch noch in der Größenklasse 14-18 ha
1
/
10
der
Besitzungen als u n s e l b s t ä n d i g gezählt sind. Dagegen ist die Betriebsklasse 20-
100 ha, also der s e l b s t ä n d i g e Bauernbetrieb, in Guhrau stärker als im Fideikom-
mißkreise vertreten. Eine Ergänzung des Bildes bietet die Bodenbesitzstatistik, welche fol-
gendes ergibt: der unselbständige Parzellenbesitz bis zu 5 ha (bis zu welcher Größe beide
Kreise nur je 2 selbständige Besitzungen aufweisen), zeigt in der Zahl der Besitzungen in bei-
den Kreisen keine nennenswerte Veränderung. Die Besitzklasse zwischen 5 und 18 ha, in de-
nen selbständige und unselbständige Besitzungen nebeneinander stehen, hat sich der Z a h l
nach im Fideikommißkreise Militsch etwas stärker als im Kreise Guhrau vermehrt. Innerhalb
dieser Klasse ist die Zahl derjenigen Besitzungen, die als selbständige gezählt wurden, im
Kreise Guhrau, wo sie bis dahin schwach vertreten waren, von 29,7 auf 56,5 % dagegen im
Kreise Militsch, wo sie der Zahl nach auch jetzt noch größer ist als in Guhrau, nur von 38,8
auf 45,9 % gestiegen, während die u n selbständigen Besitzungen im Kreise Guhrau absolut
und relativ weit stärker a b genommen haben. Die so gut wie ausschlilich selbständigen
Besitzungen zwischen 18 und 50 ha weisen in beiden Kreisen der Zahl nach eine Verminde-
rung: im Kreise Guhrau um -12,3, in Militsch um -11,9 % auf; der absoluten Zahl nach ist
diese Klasse jedoch in Guhrau noch immer stärker vertreten, als in Militsch. Das Verhältnis
der selbständigen zu den unselbständigen Besitzungen stellte sich im Kreise Guhrau 1878 wie
1 : 3,37, 1893 wie 1 : 2,20, in Militsch 1878 wie 1 : 3,96, 1893 wie 1 : 2,82. Die relative Be-
deutung der selbständigen Besitzungen ist also gleichmäßig gestiegen, in Militsch aber immer
noch erheblich geringer als in Guhrau. Die Bevölkerungszahl der rfer ist im Kreise Mi-
litsch seit 1871 stetig zurückgegangen, bis 1895 um -14% in Guhrau um -12,9 %, wovon je-
doch
4
/
5
erst auf die Zeit seit 1885 fallen. Die Güter weisen im gleichen Zeitraum in Militsch
eine Abnahme (-1,7 %), in Guhrau eine erhebliche Zunahme (+10,77 %) auf: die Gutsbevöl-
kerung hatte sich in Militsch bis Anfang der 1880er Jahre aufsteigend bewegt (1880 +10 %
gegen 1871) und war dann rasch gesunken, in Guhrau hatte der Anstieg bis 1885 angehalten
(+13 % gegen 1871)
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 353
eine
künftige Erörterung dieser Dinge unter wissenschaftlich wertvolleren Ge-
sichtspunkten als dem Augenblickszweck einer Gesetzgebungskritik vorbehalten
möchte. Zu jenen Punkten, auf die es hier ankommt, gehört zunächst die sehr
verschiedene Bedeutung von F o r s t fideikommissen und l a n d w i r t -
und dann eine kleine Abnahme eingesetzt. Hiernach zu urteilen vollzog sich in Guhrau die
Einschränkung der Grbetriebe auf das für intensive Wirtschaft zweckßige Ausmaß, ohne
daß sie in ihrer Stellung irgend erschüttert worden wären, während sie in Militsch nach
F l ä c h e n expansion strebten.
Der Unterschied der Volksdichte zwischen rfern und Gütern war 1885 wo wir Areal
und Volkszahl vergleichen können – in Militsch mehr als doppelt so groß als in Guhrau (1 : 9
dort, 1 : 4
1
/
3
hier), und selbst wenn man den in Militsch qualitativ weit besseren Wald abzieht
und die Gesamtbevölkerung einschließlich aller direkt und indirekt durch ihn in Nahrung ge-
setzten n u r zu dem Acker- und Wiesenland in Beziehung setzt, waren in Militsch die Dör-
fer viermal, in Guhrau nur dreimal dichter besiedelt als die Güter. Die stärkeren Kontraste des
Fideikommißkreises treten auch hier hervor. Die landwirtschaftlich ( h a u p t beruflich)
erwerbstätige Bevölkerung hatte 1882-1895 in Militsch um etwas stärker zugenommen (+3,38
% gegen +3,25 in Guhrau) und war, auf den Grundsteuerreinertrag bezogen, in Militsch dich-
ter (pro Kopf 58,5 Mk. gegen 75,6 Mk. in Guhrau), weil Bewaldung und Parzellisten in Mi-
litsch die Quote herabdrücken. Neben der Arbeitsintensität (= Kapitalarmut) der Militscher
Kleinbetriebe kommt darin aber, da die Zählungen im Juni stattfanden, offenbar die stärkere
S a i s o n arbeiterverwendung zum Ausdruck, denn die Abnahme der Angehörigen der
landwirtschaftlich Erwerbstätigen ist im Kreise Militsch auffallend stark (21 %) und mehr als
doppelt so hoch als in Guhrau. (Auch in der Provinz Posen sind die Fideikommisse stärker als
der Durchschnitt der Güter an der Verdrängung deutscher durch polnische Arbeiter beteiligt.)
Bei alledem ist zu beachten, daß es sich im Kreise Militsch um Fideikommisse a l t e n
Bestandes und sehr g r o ß e n Umfangs auf relativ nicht allzu hoch klassifiziertem Boden
handelt (der Ernteertrag der Gutsbezirke in Weizen war regelmäßig in Militsch niedriger als
in Guhrau). Nicht nur ist unter solchen Verhältnissen die Neigung zum Bauernauskaufen we-
nigstens regelmäßig geringer als bei kleinen, auf Zuwachs ausgehenden Fideikommissen auf
Boden hoher Ertragsfähigkeit, sondern es besteht auch häufiger die glichkeit, b ä u e r -
l i c h e Pachtstellen mittleren Umfangs zu schaffen, wo der kleine Betrieb privatwirtschaft-
lich begünstigt ist. Daher die (relativ) noch immer starke Vertretung größerer bäuerlicher Be-
triebe in Militsch, aber auch die starke Vertretung der P a c h t , trotz des nicht besonders
guten Bodens. Die Pachtquote war 1882 eine Vergleichung mit späteren Zahlen war nicht
möglich in den beiden Kreisen nach den 5 Betriebsgrößenklassen: über 100 ha: Guhrau
11,0, Militsch 33,1 %; 50-100 ha: G. 0,4, M. 11,8 %; 10-50 ha: G. 3,0, M. 5,1 %; 2-10 ha: G.
8,5, M. 16,6 %; unter 2 ha: G. 16,1, M. 57,9 %. Bei den G r o ß betrieben hat inzwischen in
der Provinz Schlesien die Verpachtung zugunsten der Selbstbewirtschaftung abgenommen.
Wie es in dieser Hinsicht mit den Fideikommissen speziell steht, ist leider nicht bekannt.
2. F o r s t fideikommisse: Die Kreise W a l d e n b u r g und R e i c h e n b a c h
stimmen in der Quote der Fideikommißfläche und in der stark überwiegenden Bedeutung der
industriellen Bevölkerung (Waldenburg Bergbau, Reichenbach Textilindustrie) überein. Ent-
sprechend der weit ungünstigeren Bodenqualität des Kreises Waldenburg (Ackerreinertrag 12
Mk. pro ha gegen
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 354
s c h a f t l i c h e n
Fideikommissen. Das landwirtschaftliche Fideikommiß
ist der weitaus schärfste Feind des uerlichen Besitzes. Roseggers »Geschichte
Jakobs des Letzten« ist ein Vorgang, der in Gebieten mit g u t e m , für m o -
d e r n e kräftige Bauernwirtschaften überhaupt qualifiziertem Boden sich
28 in Reichenbach) hat in Waldenburg nicht der landwirtschaftliche, sondern der Forstboden
die fideikommissarische Bindung gesucht. Die Forstquote beträgt in Reichenbach nur
4
/
7
von
derjenigen in Waldenburg. In Reichenbach nimmt im Gegensatz zur Mehrheit der umliegen-
den Kreise und zum Durchschnitt des Bezirks die Fläche der Betriebe über 100 ha, wie in Mi-
litsch, trotz gleichbleibender Zahl zu (1882-1895 um +37 %) und beträgt jetzt über 43 % der
Fläche, in Waldenburg ist sie stabil und beträgt 5
1
/
2
% der Fläche. Dagegen umfaßt der bäuer-
liche Betrieb (5-100 ha) in Reichenbach 43, in Waldenburg aber 80 % der Fläche. Die selb-
ständigen bäuerlichen Betriebe zwischen 10 und 100 ha nehmen in Reichenbach an Zahl und
Fläche a b , in Waldenburg in beiden z u , während die überwiegend unselbständigen Be-
triebe zwischen 2 und 10 ha in Waldenburg im Gegensatz zu Reichenbach a b nehmen. Die
Durchschnittsbetriebsfläche der uerlichen Betriebe steigt in Waldenburg, in Reichenbach
sinkt sie, in beiden llen freilich nur unbedeutend. Dabei ist zu beachten, daß in Reichen-
bach schon sehr zahlreiche Betriebe u n t e r 100 ha im sozialen Sinne Großbetriebe sind.
Die Parzellisten endlich, speziell die Betriebe unter 1 ha, sind infolge der starken landsässigen
Bergarbeiterbevölkerung in Waldenburg stärker als in Reichenbach vertreten, wo sie infolge
der Verschiebung der Textilindustrie abnehmen. In dem Forstfideikommißkreise also Stär-
kung des b ä u e r l i c h e n Betriebes, in Reichenbach Schwächung desselben zugunsten
der G r o ß b e t r i e b e , deren Durchschnittsgröße steigt. Die geschlossene Vererbung
mit Vorzugsquote herrscht in Reichenbach im Gegensatze zu Waldenburg vor. – Die Lage des
uerlichen Besitzes in dem immerhin noch stark bewaldeten Fideikommißkreise Reichen-
bach ist dabei freilich noch immer wesentlich nstiger, als in dem anstoßenden waldarmen
Oderebenenkreise Nimptsch, in dem der sehr fruchtbare Boden zu 60 % in den nden der
Großbetriebe haftet. Allein die Großbetriebe haben in Nimptsch seit 1882 an Zahl weit lang-
samer zu-, und im Gegensatz zu Reichenbach an Durchschnittsfläche abgenommen, die
uerlichen Betriebe aber (10-100 ha) weisen ebenfalls im Gegensatz zu Reichenbach eine
Flächen z u nahme auf. Und in dem in diesen Grundverhältnissen (Bewaldung,
Industriebelkerung) Reichenbach und Waldenburg nahestehenden, aber nur zu 7 % der
Fläche gebundenen Kreise Landeshut liegen die hier in Betracht kommenden Verhältnisse:
relativ weit geringere Quote der Großbetriebsfläche (5 %), stärkerer Bauernstand (77
1
/
2
% der
Fläche), ähnlich wie in Waldenburg, nur ist im Kreise Landeshut mit freiem Boden gerade der
mittlere und größere bäuerliche Betrieb n o c h stärker vertreten, als in Waldenburg
(Betriebe zwischen 20 und 100 ha in Landeshut 33
1
/
2
% gegen 27
3
/
4
% in Waldenburg). Eine
Erleichterung oder auch nur ein weiteres Fortschreiten der Fideikommißbildung würde
hiernach die rein kapitalistischer Agrarverfassung der oderebenen Kreise wie Nimptsch,
Strehlen usw. dauernd festlegen und sie in die Bahn des Kreises Reichenbach
( F l ä c h e n ausdehnung der Großbetriebe) treiben. Nimptsch hat bereits 10 %
Fideikommißfläche. Die landwirtschaftlich im Hauptberuf Erwerbstätigen haben infolge der
erwähnten entgegengesetzten Entwicklung der mit Landwirtschaft kombinierten
Industriearbeit der Parzellisten und infolge der Mitzählung der Saisonarbeiter in Reichenbach,
wie sie sich in der dort erheblich geringeren Zahl von Angehörigen aus-
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 355
wenigstens
nicht allzu oft ereignen wird. Die kapitalisierte Forstrente ist im all-
gemeinen doch zu erheblich niedriger, als der Kaufwert der Bauerngüter. Das
Expansionsbedürfnis des regel-
spricht, in Waldenburg ziffernmäßig schneller als in Reichenbach abgenommen, dagegen in
den Nachbarkreisen mit geringerem Fideikommißbestand (Landeshut, Nimptsch) zugenom-
men. (Die sehr bedeutende Zunahme der g e s a m t e n Landbevölkerung in Waldenburg
im Gegensatz zu Reichenbach ist durch die industrielle Entwicklung bedingt.)
3. Latifundien in landwirtschaftlichen und Latifundien in industriellen Kreisen: Die nahe
beieinander gelegenen Kreise P l e ß und T a r n o w i t z , beide der Bevölkerung und
dem Gesamtcharakter nach spezifisch oberschlesisch, umfassen beide sehr große Fideikom-
misse (Tarnowitz 45, Pl 31 % der Fläche) mit starker Waldquote (Tarnowitz 73, Pleß 62
%). Das Fürstentum Pleß ist seinem Schwerpunkt nach eine Grundherrschaft landwirtschaftli-
chen Charakters, die Grafen Henckel-Donnersmarck in Tarnowitz sind spezifische Repräsen-
tanten der schlesischen »Starostenindustrie«. Die beiden Kreise verhalten sich in bezug auf
die Quote der landwirtschaftlich Hauptberufstätigen entgegengesetzt: in Pleß beträgt das Ver-
hältnis der Gruppen B und C der Berufsstatistik zur Gruppe A (Landwirtschaft usw.) rund 1 :
2,3, in Tarnowitz dagegen umgekehrt das der Landwirtschaft zu jenen Gruppen nur rund 1 :
3,2. Die Verteilung der Fläche auf die Betriebe war 1895 folgende:
Betriebe: unter 2 ha 2-5 ha 5-20 ha 20-100 ha über 100 ha
Pleß 10,7 % 17,6 % 34,4 % 9,4 % 27,9 %der Fläche
Tarnowitz 19,6 » 17,9 » 14,9 » 3,5 » 44,0 » » »
Also ungemein viel stärkere Vertretung der größten und kleinsten Betriebe in dem indus-
triellen, relativ starke Vertretung wenigstens der kleinen Bauernstellen in dem agrarischen La-
tifundienkreise. In Tarnowitz stehen 62 »selbständige« 1650 »unselbständigen« Besitzungen
gegenüber, in Pleß 947 der ersteren 7976 der letzteren. Die landwirtschaftlich hauptberuflich
Erwerbstätigen nehmen in beiden Kreisen ab, in Tarnowitz aber, obwohl dort, nach der gegen
Plweit geringeren Zahl der Angehörigen zu schließen, ungleich mehr Saisonarbeiter ge-
zählt sind, viermal so stark. Während in Tarnowitz eine gewaltige im Hauptberuf industriell
tätige Parzellistenbevölkerung mit landwirtschaftlichem N e b e n beruf sich entwickelt hat,
welche die hauptberuflich Tätigen an Zahl um fast die Hälfte überragt, ist dies letztere in Pleß
trotz ebenfalls starker Nebenberufsentwicklung umgekehrt. Alles in allem eine wesentliche
Schärfung der Extreme in dem industriellen Latifundienkreise und damit eine Steigerung der
charakteristischen Eigenart der Agrarverfassung Schlesiens, welche im schroffsten Kontrast
zu dem angeblich »Natürlichen« den Großbetrieb auf den b e s t e n Boden und n a h e
an die Märkte, die kleinen Bauern aber auf s c h l e c h t e n Boden und in die Gebirgstä-
ler legt. Eine weitere Vermehrung der Fideikommisse würde jetzt in Schlesien wesentlich der
Ebene und den Industriegebieten und damit der immer weiteren Verschärfung dieses Kontra-
stes zugute kommen. Dagegen wird auf unnstigen den in rein agrarischer Gegend eine
große Standesherrschaft weit eher die großen Betriebe wenigstens innerhalb eines b e -
t r i e b s t e c h n i s c h zweckmäßigen Umfangs halten. Das ist offenbar im Kreise Pleß,
wo die Standesherrschaft erst letzthin eine Neueinteilung ihres großen Areals unter betriebs-
technischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vorgenommen hat, in der Tat der Fall gewesen,
wie namentlich auch der Gegensatz gegen den Nachbarkreis Rybnik (mit allerdings etwas
stärkerer gewerblicher Bevölkerung als Pl) zu zeigen scheint.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 356
mäßig den b e s s e r e n Boden aufsuchenden l a n d w i r t s c h a f t l i -
c h e n Fideikommisses dagegen richtet sich, wie gesagt, naturgemäß gerade
auf die mit weniger und älteren Baulichkeiten bestandene Fläche des großen und
mittleren Bauernbesitzes weit stärker, als daß es den Versuch machte, mit der
landhungrigen Bodennachfrage der Kleinsten zu konkurrieren. Die Fideikom-
mißkreise Schlesiens zeigen, auch da, wo die ganz großen Fideikommisse a l -
t e n Bestandes in stark vorwiegend oder gänzlich l a n d w i r t s c h a f t -
l i c h e n Gegenden noch ein anderes Bild aus der Vergangenheit konserviert
haben, h e u t e die Tendenz, die charakteristischen Eigenarten der kapitali-
stisch degenerierten schlesischen Agrarverfassung w e i t e r z u s t e i -
g e r n , deren soziale Kontraste zu schärfen und zwar am m e i s t e n da, wo
industriell akkumulierte Kapitalien auf den Weg zur Bodenanhäufung instradiert
werden. Aufsaugung des guten landwirtschaftlichen Bodens es kann nicht oft
genug gesagt werden: g e r a d e d e s j e n i g e n Bodens, auf dem nach der
Meinung der modernen Theoretiker von der »glücklichen Mischung der Be-
triebsgrößedie Bauern sitzen » s o l l t e n « , durch das Kapital und seine
Festklammerung in Fideikommissen, daneben kleine, selbstgenügsame und an
der Ostgrenze – kulturfeindliche Bauernwirtschaften zusammengedrängt auf den
rentelosen Bodenklassen, das sind jene beiden Tendenzen der östlichen ländli-
chen Entwicklung, welche die Fideikommisse zwar sicherlich nicht etwa ge-
schaffen haben, welche sie aber, statt ihnen entgegenzuwirken, v e r s t ä r -
k e n .
Der Entwurf scheint, in seinem Eifer, nur ja den Großbesitz und -betrieb zu-
sammenzuklammern, eine solche Entwicklung geradezu zu w o l l e n . Denn
er will die glichkeit, auf Grund von »Unschädlichkeitsattestegemäß § 1
des Gesetzes vom 27. Juni 1891 über die Errichtung von Rentengütern, auch
g r ö ß e r e Trennstücke aus dem Fideikommißnexus zwecks Abveräußerung
zu entlassen, b e s e i t i g e n und nur die Veußerung von »kleineren Tei-
ledes Fideikommißgutes zur Errichtung von bäuerlichen Stellen »kleinen und
mittleren Umfanges« und zur A n s i e d l u n g v o n A r b e i t e r n zu-
lassen 29), welche überdies vom Stifter beschränkt oder beseitigt werden
kann. Mit Recht tritt Sering in Ausführungen, denen man sich freut, durchweg
zustimmen zu können, dieser Beschränkung entgegen: es ist kein Gesichtspunkt
erkennbar, der sie rechtfertigt.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 357
Endlich die Wirkungen auf die A r b e i t s v e r f a s s u n g . Hier k ö n -
n e n ohne Zweifel, wie namentlich das Beispiel der Holsteiner »Grafenecke«
beweist, wenigstens die g r o ß e n Fideikommisse – regelmäßig nur diese,
denn die kleineren unterscheiden sich darin in nichts von den anderen Gütern
im eigenen Interesse die Erhaltung einer ansässigen und doch nicht schollen-
pflichtigen Arbeiterschaft durch Eingehung günstiger kombinierter Pacht- und
Arbeitsverträge in höherem Grade fördern, als ein einzelner Gutsbesitzer, dem
mehr die Versuchung nahe liegt, schlechte Außenschläge in dieser Form abzu-
stoßen. Geschehen wird es freilich wesentlich nur da, wo die Bodenqualität
niedrig, das Opfer an wertvollem Land also nicht erheblich ist: auf gutem Bo-
den hat die Steigerung der Grundrente die ansässige Arbeiterschaft auf Fidei-
kommißboden im allgemeinen ganz ebenso wie auf freiem Boden enteignet.
Und tatsächlich läßt sich aus der großen Zahl der Parzellenkleinpächter in man-
chen Fideikommißkreisen mit nicht zu gutem Boden so in Militsch auf eine
ähnliche Entwicklung schließen. Aber der Bedarf der durch die Fideikommisse
gestützten G r o ß betriebe an S a i s o n arbeitern und der allgemeine Zug der
kapitalistischen Betriebe zur Verdünnung und Zusammendrängung der Belke-
rung Verdünnung: nach der Zahl der Köpfe auf die Fläche gerechnet, Zusam-
mendrängung: nach der Zahl der Haushaltungen und Köpfe auf die Wohngeu-
de berechnet
1)
überwiegt im Effekt jene individualistische Entwicklung weit,
ganz abgesehen davon, daß jene neugeschaffenen Pachtstellen der Güter im
Osten heute da, wo sie bestehen, sehr klein sind (unter
1)
Daß es sich bei den erwähnten Tendenzen um einen spezifischen Zug a g r a r k a -
p i t a l i s t i s c h e r Entwicklung handelt, mag vorbehaltlich einer künftigen einge-
henderen Darstellung – auch hier etwas näher erläutert werden.
Man kann die Dörfer und Güter von Landkreisen, die sich als Untersuchungsobjekt eignen,
nach ihrer Bodengüte (d. h. nach ihrem Grundsteuerreinertrag) klassifiziert mit der Dichte ih-
rer Besiedelung vergleichen. Alsdann zeigt sich nicht nur die, wie längst bekannt, durchweg
außerordentlich viel geringere Volksdichte der Güter, sondern ferner der Umstand, daß die-
selbe, während die östlichen Dörfer darin keine Regelmäßigkeiten zeigen, auf den Gütern mit
zunehmender Ertragsfähigkeit des Bodens keineswegs regelßig zu-, sondern gar nicht sei-
ten a b nimmt, daß aber mit großer Regelmäßigkeit die Z u s a m m e n d r ä n g u n g
der Bevölkerung in den Behausungen – die in den Dörfern sich ebenfalls ganz individuell ge-
staltet auf den Gütern mit z u nehmender Ertragsfähigkeit z u nimmt. Je mehr möglicher
»Mehrwert« aus der Arbeitskraft nach Lage der natürlichen Produktionsbedingungen zu ge-
winnen ist, desto stärker für den Großbetrieb der Anreiz zur vollen Ausbeutung der Arbeits-
kräfte
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 358
und damit desto größer die Haushaltungs- und Kopfzahl pro Wohngebäude, die Kopfzahl pro
Haushaltung. Beispiele:
Es kamen 1885 in den Gutsbezirken bei einem Reinertrage 0-5 5-10 10-15 15-20 20-25 25-30 über 30
von pro ha: Mk. Mk. Mk. Mk. Mk. Mk. Mk.
im Kreise Gnesen
(alle Gutsbezirke)
Köpfe auf 1 Wohngebäude
15,88
15,76
16,83
23,95
Haushaltungen auf 1 Wohngebäu-
de
,280 2,63 2,80 3,90
Köpfe auf 1 Haushaltung 5,66 5,96 6,01 6,12
Im Kreise Flatow
(24 Güter über 200 ha)
Köpfe auf 1 Wohngebäude
14,2
14,4
15,0
Köpfe auf 1 Haushaltungen 5,9 5,9 6,2
im Kreise Königsberg-
Land
(58 Güter über 200 ha)
Köpfe auf 1 Wohngebäude
18,5
18,0
(15,9)
21,2
23,0
Haushaltungen auf 1 Wohngebäu-
de
3,5 3,3 (3,0) 3,5 3,7
Köpfe auf 1 Haushaltung 5,25 5,43 (5,32)
6,12 6,42
im Kreise Fischhausen
(78 Güter über 200 ha)
Köpfe auf 1 Wohngebäude
15,8
17,3
16,7
25,0
Haushaltungen auf 1 Wohngebäu-
de
2,6 3,0 2,9 3,7
Köpfe auf 1 Haushaltung 5,97 5,73 5,79 6,66
im Kreise Preußisch-
Stargard
(33 Güter über 200 ha)
Köpfe auf 1 Wohngebäude
12,1
14,1
15,7
16,4
15,3
Haushaltungen auf 1 Wohngebäu-
de
2,4 2,5 2,7 2,8 2,8
Köpfe auf 1 Haushaltung 4,9 5,6 5,6 5,8 5,4
Es kamen ferner 1885 in den ebenso von unten nach oben abgestuften Reinertragsklassen in den Gutsbezirken der Krei-
se
Franzburg 6,1 6,1 7,3 12,7 13,2 12,8 12,8 13,3 Köpfe
auf 1
Wohngeb.
Pyritz 11,0 12,4 (13,6) 12,6 12,6 13,2
Bublitz 10,4 10,7
und in Franzburg
1,00
1,31
2,02
(2,09)
2,00
2,01
2,13
Haushalt.
auf 1
Wohngeb.
in Pyritz 1,78 2,08 2,25 2,25 2,15 (2,05)
in Bublitz 1,704 1,806
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 359
1 ha)
und nichts mit den alten Heuerlingsstellen des Nordwestens zu schaffen
haben.
Gerade für die Fideikommißbesitzer liegt nun aber die Versuchung nahe, die
»Ansässigmachung« der Landarbeiter auf R e n t e n gütern zu versuchen, zu
der sich der freie Großgrundbesitz immerhin nicht so leicht entschließt, da sie
ein für den
Eingeklammert sind Zahlen, bei denen in der betreffenden Reinertragsklasse bei einigen
Gütern nicht sicher, aber w a h r s c h e i n l i c h Parzellenverpachtung, industrielle Be-
triebe usw. die Vergleichbarkeit stören. Die Zahlen sind aber am schlüssigsten und dem »Ty-
pus« entsprechendsten überall da, wo ich mir die (recht erhebliche!) Mühe gemacht habe, an
der Hand des Handbuches des Grundbesitzes Gemeindeeinheiten, bei denen dies offenbar der
Fall war, auszuscheiden. Es ist ganz charakteristisch, kann aber hier nicht auch noch erörtert
werden, daß und warum auch im Osten zuweilen gewisse Kreise (z. B. Goldap, Angerburg,
Kreise in n a t i o n a l gemischten Bezirken usw.) a b weichende Erscheinungen zeigen.
Trotz vereinzelter Abweichungen die sich namentlich durch das Hineinspielen von Parzel-
lenverpachtungen erkren ist das Bild schon nach diesen, älteren Notizen entnommenen
Beispielen ein sehr gleichmäßiges. Je besser der Boden, desto stärker die Belegschaft der Ge-
ude mit Haushaltungen und Köpfen, der Haushaltungen mit Köpfen (daß hier die persönli-
che herrschaftliche Dienerschaft und die über durchschnittliche Größe des herrschaftlichen
Haushalts erheblich ins Gewicht fiele, muß bei der absoluten he der Zahlen es sind eben
deshalb nur größere Güter gewählt n a m e n t l i c h aber, wenn man die Gestaltung des
Verhältnisses zwischen Haushaltungen und Wohngebäuden beachtet, ausgeschlossen erschei-
nen). Dem entspricht es, daß, während die e i n stöckigen Häuser in den Gutsbezirken des
Regierungsbezirks Königsberg 1878 98,8 % aller betrugen, die Produktion von Zerealien
1884-1888 in den Gutsbezirken pro Kopf ihrer 1885er Bevölkerung 854, an Hackfrüchten 985
kg, in den Regierungsbezirken Breslau und Liegnitz die entsprechende Quote der einstöcki-
gen Häuser 70,4 bzw. 66,1 %, die Produktionsquoten in den Gutsbezirken pro Kopf in der
Provinz Schlesien (im ganzen) 2768 kg Zeralien, 5622 kg Hackfrüchte ausmachten. Die Gut-
sarbeiterkasernen Schlesiens e n t s p r e c h e n der hohen »Produktivität« der Arbeit in
den kapitalistischen Betrieben. So kommen auch von den oben behandelten Kreisen nach
Reinertragsklassen von unten herauf gestaffelt z. B. im Kreis Fischhausen auf den Kopf der
Bevölkerung Mk. Reinertrag: 25,7 35,2 43,5 67,5 bei einer von 15,8 bis zu 25 Köpfen
pro Wohngebäude ansteigenden Zusammendrängung. Für Schlesien muß ich mich z. Z. auf
die folgenden Durchschnittszahlen beschränken:
Es kamen Köpfe auf ha Haushalt
auf ein
pfe auf
im Reg.-Bez. in den Fläche Acker u.
Wiese
Wohn-
gebäude
1 Haus-
halt
1 Wohn-
gebäude
Landgemeinden 0,7 0,63 1,73 4,35 7,55
Breslau
Gutsbezirken 4,8 2,79 3,25 4,85 14,95
Landgemeinden 1,0 0,75 1,36 4,12 5,63
Liegnitz
Gutsbezirken 9,0 3,59 2,26 4,63 10,49
Landgemeinden 0,5 0,49 1,72 4,56 7,88
Oppeln
Gutsbezirken 4,2 1,77 3,31 4,85 16,09
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 360
Fideikommißbesitzer
leichter mögliches s y s t e m a t i s c h e s Vorgehen
erfordert, wenn sie erhebliche Resultate billige Arbeiter erzielen soll. Wenn
nun die Landarbeiterenquete von 1893 i r g e n d ein sicheres Ergebnis gehabt
hat, so war es die sozialpolitische Verwerflichkeit des Grund e i g e n t u m s
bei
Die F i d e i k o m m i ß kreise im speziellen anlangend, so stehen sie in bezug auf die
Wohndichtigkeitsverhältnisse ihrer Gutsbezirke verschieden, und zwar im g a n z e n je
nach der Bodenqualität unter oder über den vergleichbaren Nachbarkreisen. Der auf schlech-
terem Boden gelegene Fideikommißkreis Militsch z. B. steht mit (auf den Gütern) 2,9,2
Haushaltungen und 12,8 Köpfen pro Wohnhaus unter dem besser gestellten freien Kreis Guh-
rau mit bzw. 3,47 und 14,1; der auf g u t e m Boden belegene Fideikommißkreis Oels da-
gegen überragt bedeutend den letztgenannten Kreis ebenso wie den Bezirksdurchschnitt und
so öfter. Analysiert man den Kreis Militsch spezieller vgl. dazu oben S. 334 Anm. –, so
zeigt sich folgendes Bild.
Es kamen in den Reinertragsklassen von pro ha Mk.:
unter 10 10-15 über 15
Haushaltungen auf
1 Wohngebäude
in den rfern
1,71 1,66 1,69
auf den Gütern
3,16 3,12 3,22
pfe auf 1 Wohn-
gebäude
in den rfern
7,43 7,26 14,5
auf den Gütern
13,5 13,5 14,5
Nicht nur die typisch stärkere Belegung der Wohngebäude auf den Gütern, sondern auch
die S t e i g e r u n g der Belegung auf den besten Böden der großen Güter treten deutlich
hervor, ebenso die abweichende Gestaltung in den Dörfern.
Aerhalb Schlesiens fügt sich Kreis Franzburg in den Unterschieden zwischen den Rein-
ertragsklassen durchaus der Regel. Die Verhältnisse auf der Holsteiner Grafenecke (Kreis
Plön, Oldenburg, Eckernförde) mit ihren großen und alten landesherrlichen Fideikommissen
und modernen bäuerlichen Pachtbetrieben sind in dieser Hinsicht nicht ganz so konsequente,
immerhin nicht grundsätzlich abweichende. (Im ganzen steigende Belegung der Wohngebäu-
de mit Köpfen und Haushaltungen, aber geringere K o p f zahl der Haushaltungen auf besse-
ren Böden: keine Scharwerker!) Aber, verglichen mit anderen Kreisen aus anderen Gebieten
sind in diesem ganzen Winkel Ostholstein, Mecklenburg, Neuvorpommern die Verhält-
nisse der a n s ä s s i g e n Arbeiter, wie die Enquete von 1892 zeigte, noch mit die n-
stigsten Deutschlands aus Gründen, die hier nicht zu wiederholen sind. Diese nstigen Ver-
hältnisse t e i l e n die Fideikommißkreise.
Bei den obigen Zahlen, welche die Verdünnungs- und Zusammenhäufungstendenz der Gü-
ter deutlich illustrieren, ist nun noch im Auge zu behalten, daß die Insassen der W a n -
d e r a r b e i t e r k a s e r n e n dabei noch gar nicht mitgezählt sind, da die hlung im
Dezember stattfand, auch die Saisonarbeit erst nach Bismarcks Rücktritt ihre jetzige Ausdeh-
nung gewann. Ein Institut, welches den Großbetrieb stützt, wirkt dem Individualismus des
Wohnens entgegen. Im Westen fallen auf dem Lande Haushalt und Wohngebäude der Zahl
nach fast zusammen, und von Regierungsbezirk zu Regierungsbezirk steigt mit der durch-
schnittlichen Betriebsgröße die Zusammendrängung der Landbevölkerung in den Wohnge-
uden die dann im Osten auf den Gütern wesentlich h ö h e r ist als in den kleineren
S t ä d t e n und zwar im allgemeinen ceteris paribus um so höher, je b e s s e r der Bo-
den.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 361
Landarbeitern
in Gegenden mit starkem Großbesitz und wenig Bauern. Es be-
deutet dort das Angewiesensein auf die Arbeitsgelegenheit a l l e i n des oder
der wenigen unmittelbar benachbarten Ritterter und Schollenfestigkeit, also
absolute Auslieferung an die Ausbeutung durch die Gutsherren. Das unerhört
niedrige s c h l e s i s c h e Lohnniveau ist der Ausdruck
Es ist also a b s o l u t u n w a h r , daß das ländliche Wohnungselend Folge der
»schlechten Lage« der Gutsbesitzer sei.
Ueber die in den vorstehenden Zahlen nur gestreiften Zusammenhänge künftig einmal un-
ter adäquateren Gesichtspunkten. Nur das eine sei hier noch bemerkt: Die Tendenz des bür-
gerlichen Kapitals zum Bodenerwerb besteht nicht nur im Osten, sie ist eine durchaus allge-
meine und wäre nur abzuschwächen, wenn die g e s e l l s c h a f t l i c h e Bevorzugung
des Grundbesitzes schwände. Aber im Westen bleibt, auch wo sie sich geltend macht, gleich-
wohl weit häufiger der Kleinbetrieb (als Pachtbetrieb) und damit die ländliche Volksdichte
auf den günstigen Böden und vor den Toren der Städte und mit ihm der allmähliche Ueber-
gang zwischen Stadt und Land, erhalten, und es ist denn doch s e h r fraglich, ob ein be-
weglicher n i c h t schollenfester Kleinpächterstand nicht unter fast allen in Betracht kom-
menden Gesichtspunkten i n d i e s e m R a y o n kleinen Eigentümern sogar vorzu-
ziehen wäre. Im Osten okkupiert dagegen der bevölkerungsverdünnende Grbesitz g e -
r a d e die marktnahen besten Böden. (Ueber den Kampf dieser Verdichtungs- und Verdün-
nungstendenz miteinander in der Provinz Sachsen siehe die Arbeit von Dr. Goldschmidt in
der von mir edierten Enquete des Ev. Soz. Kongr., Heft 1, S. 17.) Der Gesetzentwurf würde,
da er den Großbetrieb e r z w i n g t , die östliche Entwicklung verschärfen und auch in
den Westen verpflanzen, soweit das Kapital zur Bodenbindung greift. Es sind nicht »natürli-
che«, sondern zunächst historisch gewordene, dann aber durch bestimmte »Gesetze« agrarka-
pitalistischer Entwicklung gesteigerte Verhältnisse, welche den Gegensatz in dem Siedlungs-
charakter etwa der Oberrheinebene gegen die Oderebene bedingen. Auch wer aus irgendwel-
chen Gründen eine stärkere Vertretung größerer Betriebe auf dem Lande nscht, als sie am
Rheine vorhanden sind, wird sie und den geschlossenen Besitz nicht vor die Tore der Stadt
legen und die Kleinbetriebe in die Berge und auf die schlechten Böden drängen wollen. Man
setze für die Fideikommisse – und übrigens z. B. auch für das Anerbenrecht, wo es gelten soll
R a y o n s nach Maßgabe der h e u t e dafür noch immer brauchbaren Grundsteuer-
reinerträge und der Nähe der Großstädte und Industriezentren fest, derart daß sie nur in Gebie-
ten mit u n t e r durchschnittlichem und marktfernem Boden gelten und schreibe unter
Aufhebung aller hiernach unzulässigen l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n Fideikommisse
für die letzteren eine entsprechende P r ü f u n g als Vorbedingung der Weitergabe zur
Genehmigung gesetzlich vor, wenn man durch jene Institute nicht die spezifisch modernen
»Entwicklungstendenze, die man beklagt, v e r s c h ä r f e n will. Aber freilich, den
kapitalistischen Interessen, mit denen man rechnen m und welche die heutige Gesetzge-
bungsmaschinerie in ihren Dienst zwingen, wäre damit nicht gedient, und deshalb wird die
amtliche Terminologie den Vorschlag »mechanisch« oder dergleichen nennen und auf die
»Prüfung des konkreten Falls« verweisen, obwohl deren Wirkungslosigkeit ja genugsam aus
der Statistik hervorgeht und obwohl vor allem, nach S. 60 der Motive, ja die Vorlegung an
den König zur Entscheidung erfolgen m u ß , wenn die f o r m a l e n Bedingungen er-
füllt sind. Hierüber s. weiter unten.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 362
dessen
1)
. Bei R e n t e n g ü t e r n ist das natürlich in noch viel gesteigertem
Maße der Fall. Nur P o l e n würden sich bei K e n n t n i s der Verhält-
nisse als Reflektanten für solche melden. Selbst der damalige Landwirt-
schaftsminister v. Heyden hatte auf Grund des Ergebnisses der Enquete damals
im Landtage eindringlich vor den Gefahren eines »grundbesitzenden Proletari-
ats« gewarnt. N u r die Parzellen p a c h t kann Bodenständigkeit und Frei-
heit des Arbeiters vereinigen. – Das hindert den Entwurf nicht, gerade die
k l e i n e n Rentengüter zuzulassen
2)
und die Motive sprechen von der Mög-
lichkeit, sich dadurch einen »Stamm« ansässiger Arbeiter zu schaffen, ganz wie
es der von den Landwirtschaftskammern vertretene Agrarkapitalismus zu tun
pflegt. r diese Gesetzmacherei sind eben alle Erfahrungen nicht vorhanden,
nicht nur weil sie oberflächlich, sondern weil sie, wo die Interessen der Groß-
grundbesitzer in Frage stehen, sozialpolitisch schlechthin ohne Gewissen ist.
II.
Wollten die Freunde des Fideikommisses die vorstehend dargestellten Konse-
quenzen der Fideikommißbildung, namentlich d i e B i n d u n g g e r a d e
d e s g u t e n B o d e n s , vermeiden, so gäbe es dafür ein einfaches Mittel:
B e s c h r ä n k u n g d e r F i d e i k o m m i s s e a u f W a l d u n d
a u f W o h n g e b ä u d e ( n e b s t P e r t i n e n z e n ) i n d i r e k -
t e m r ä u m l i c h e n A n s c h l u ß a n F i d e i k o m m i ß w a l -
d u n g e n . Die Konsequenz einer solchen Bestimmung würde sein, daß jenes
Kapital, welches Boden zum Zweck fideikommissarischer Bindung sucht, nicht
wie jetzt dem besten,
1)
Die Durchschnittstagelöhne männlicher, dauernd beschäftigter Arbeiter betrugen 1892
in der Provinz Ostpreußen (Durchschnittsreinertrag pro ha Ackerland Mk. 9,40) je nach Be-
zirken 1,10-1,50 Mk., in Pommern (Durchschnittsreinertrag Mk. 13,32) 1,22-1,76 Mk., im
Regierungsbezirk Oppeln (Durchschnittsreinertrag Mk. 16,06) 0,87-0,95 Mk., im Regie-
rungsbezirk Breslau (Durchschnittsreinertrag Mk. 22,32) 0,94-1,18 Mk. Lohndrücker sind
hier auch außerhalb des polnischen Rayons ü b e r a l l die Parzellenbesitzer, wie die En-
quete mit vollkommenster Deutlichkeit ergab. (S. Schriften d. V. f. Sozialpolitik, Bd. 55.)
Vorstehende Nebeneinanderstellung der Löhne und des Reinertrags möge auch den Wert der
Behauptung beleuchten, daß die Landwirte i h r e r s c h l e c h t e n L a g e w e -
g e n schlechte Löhne zahlten. Das Umgekehrte ist, so paradox es klingt, wahr.
2)
Sering, der jene Ergebnisse genau kennt, hat (a. a. O.) gegen diese Zulassung gleich-
wohl nichts zu erinnern!
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 363
sondern dem ärmsten, für kräftige moderne Bauernwirtschaften ungeeigneten,
zur Beforstung geeigneten Boden zugute käme, daß also diejenigen ärmeren und
dünn besiedelten Kreise, für welche die Ansässigmachung kaufkräftiger und in-
telligenter deutscher Familien wirklich etwas in ökonomischer und nationaler
Hinsicht bedeuten kann, mit solchen Landsitzen besetzt würden. Und kann man
sich zu einer absoluten Beschränkung auf Forsten nicht entschließen, so läßt sich
eine gewisse Annäherung an diesen Effekt vielleicht schon dadurch erreichen,
daß landwirtschaftlicher Boden nur in Verbindung mit m i n d e s t e n s 80 %
Waldfläche gebunden werden dürfte
1)
. 23 % der Fläche des Staates sind Wald,
noch nicht ein Viertel der Privatwaldungen (mit A u s schluß der genossen-
schaftlichen) ist fideikommissarisch gebunden: es ist Platz genug für noch sehr
viel Forstfideikommbesitzer vorhanden. Auf die Verwirklichung dieses Vor-
schlages rechne ich natürlich nicht. Denn ganz abgesehen von der Macht der
agrarkapitalistischen Interessen geht aus den Motiven des Entwurfes zur Genüge
hervor, daß für die Zulassung und Begünstigung der Fideikommisse ganz andere
Beweggründe als irgendeine agrarpolitische Sorge r eine (unter i r g e n d -
w e l c h e n Gesichtspunkten) »gesunde« soziale Verfassung des platten Lan-
des den Ausschlag geben, und daß die preußische Regierung gar nicht daran
denkt, der weiteren Verbreitung der Fideikommisse irgendwelche e r n s t -
l i c h fühlbaren Hemmnisse in den Weg zu legen.
Der Entwurf weist den Gedanken, die Errichtung von Fideikommissen allge-
mein für jeden Fall an einen Akt der Gesetzgebung (nach Art englischer »private
bills«) zu binden was in Oesterreich geltendes Recht ist ab. Er würde, nach
den Motiven, voraussichtlich eine Einschränkung der Fideikommißgründungen
zur Folge haben und das genügt charakteristischerweise, um über diesen denn
doch im höchsten Grade erwägenswerten Vorschlag, der vor allem allein die
S i c h e r h e i t geben würde, daß auch a n d e r e Interessenten, als die Fi-
deikommiß-
1)
Noch in der F o r s t b e t r i e b s größenklasse von 1000-2000 ha sind mit 800 000
ha Forstfläche 140 000 ha landwirtschaftliche Fläche in 272 Betrieben verbunden. Ich sehe
übrigens, daß schon D a d e (bei Roscher, Nat. Oek. d. Ackerbaus, 13. Aufl., S. 777) einen
ähnlichen Vorschlag gemacht hat: vorzuschreiben, daß stets 50 % der Fideikommißfläche
Forsten sein müssen. Das ist, wie die schlesischen Verhältnisse zeigen, ganz ungenügend, um
die spezifischen Wirkungen der W a l d fideikommisse zu sichern.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 364
stifter zu Gehör gelangten, und daß überhaupt die Vorgänge der Fideikommiß-
bildung einer gewissen Publizität unterworfen würden, hinwegzugehen. Ob zu
hoffen ist, daß die Mehrheit des Abgeordnetenhauses hierin anderer Ansicht sein
wird, muß hier dahingestellt bleiben. Der Entwurf glaubt eine hinlängliche Kon-
trolle über die Entwicklung der fideikommissarischen Bindung des Bodens zu
schaffen, indem er dieselbe auch da, wo dies bisher nicht der Fall war, an die
G e n e h m i g u n g d e s K ö n i g s bindet. Es ist fast u n g l a u b -
l i c h , daß die Motive es wagen können, dies Erfordernis als eine
S c h r a n k e der Fideikommißbildung anzusprechen. Dasjenige Gebiet, für
welches – da hier 95 % aller Fideikommisse ursprüngliche Fideikommisse, nicht
Lehensumwandlungen sind schon b i s h e r die dort für große Fideikom-
misse erforderliche königliche Genehmigung ihre Wirksamkeit hätte erproben
können, ist Schlesien, das Land mit dem absolut und relativ größten Fideikom-
mißbesitz an Latifundien, deren Umfang selbst den leidenschaftlichsten Vertre-
tern des Instituts Bedenken erregt, und der ein konstantes weiteres Umsichgrei-
fen zeigt. Gar keine Genehmigung fordert das hannoversche Recht und Hanno-
ver hat die geringste Fideikommißfläche. Die gesellschaftlichen Gründe, aus de-
nen gerade die H e r e i n z i e h u n g d e s p e r s ö n l i c h e n E n t -
s c h l u s s e s d e s K ö n i g s a n s t a t t d e r v e r a n t w o r t l i -
c h e n E n t s c h l i e ß u n g d e r M i n i s t e r
1 )
völ-
1)
Denn darum handelt es sich: Die Minister d ü r f e n , mögen sie das formell korrekt
nachgesuchte Fideikommiß für n o c h s o s c h ä d l i c h ansehen, die Vorlegung des
Gesuchs an den nig zur Entschließung n i c h t a b l e h n e n ! Dies sprechen die Mo-
tive S. 60 ausdrücklich aus. Jeder weiß, was das praktisch bedeutet, und es ist rund heraus-
gesagt eine selbst das bei amtlichen Aeußerungen neuerdings üblich gewordene Maß über-
schreitende U n a u f r i c h t i g k e i t , eine solche Rechtslage für eine e r h ö h t e
Gewähr g e g e n ein Ueberhandnehmen der Fideikommisse auszugeben. Im Landtage
würde daraufhin natürlich die übliche Verweisung auf die Person des Königs jeder Kritik ent-
gegengesetzt werden. Es handelt sich also hier lediglich um ein Mittel, d e n M i n i -
s t e r n D e c k u n g h i n t e r d e m K ö n i g e z u s c h a f f e n . Es hat
noch keinen Monarchen gegeben, der Napoleon nicht ausgenommen nicht geglaubt hätte,
seine Stellung durch Befriedigung der Eitelkeit der Leute mit dem großen Geldbeutel zu fe-
stigen. Und bei der subalternen Auffassung, welche eine Erbschaft des Bismarckschen Re-
gimes heutige Minister in Preußen von ihrer Stellung und Verantwortung haben, ist damit
das ganze »Genehmigungsverfahren« zur Farce gestempelt. Es wäre wirklich zu viel verlangt,
daß man in flicher Form mit solchen Aeußerungen der Motive diskutieren sollte, wie S. 58
oben: »Sollten sie (nämlich gewisse bedenkliche, aber formal zulässige Bestimmungen des
Stifters) sich ereignen, so wird ihnen durch Versagen der Genehmigung (§ 8) zu begegnen
sein.« Die
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 365
lig
das Gegenteil einer Erschwerung der Fideikommißgründung bedeutet, ist es
wohl nicht nötig, hier näher zu erörtern.
Die einzige wirksame Schranke der Fideikommgründung ist h e u t e der
Fideikommißstempel von 3 %
1)
des Bruttowertes. Die Frage seiner künftigen
Höhe ist für die weitere Entwicklung der Fideikommißbildung ausschlaggebend
und man kann dreist behaupten, daß für die Fideikommißinteressenten der Ent-
wurf in seinem übrigen Inhalt nur Kulisse ist für die anderweitige Regulierung
dieses Punktes. Ominöserweise läßt der Entwurf den Abschnitt, der vom Stem-
pel handeln soll, offen mit dem Bemerken, derselbe solle im Einvernehmen mit
dem Finanzminister »demnächst« festgestellt werden. Der Fideikommißstem-
pel hat nun zunächst (aber nur nebenher) den Sinn, die steuerliche Begünstigung
des Fideikommbesitzes gegeber den anderen Grundstücken abzulösen. In
Betracht kommt zunächst die Stempelsteuer von 1 % bei Verkäufen von Grund
und Boden, welche für Fideikommißboden ganz entfällt und weiter die Erb-
schaftssteuer, welche nur nach der Lebenserwartung des Fideikommißerben be-
rechnet wird, hrend der überschießende Bodenwert ganz frei bleibt, es sei
denn, daß der Gesetzentwurf mit dem Satz, daß das Fideikommiß dem Fidei-
kommißbesitzer »gehört«, a u c h i n s t e u e r l i c h e r B e z i e h u n g
f ü r k ü n f t i g e r n s t m a c h e n und jenes Privileg beseitigen wollte,
woran (natürlich!) nicht zu denken ist. Der Umsatzstempel allein könnte rein
t e c h n i s c h , nach der Umsatzgeschwindigkeit des gesamten Bodens der
g r o ß e n Besitzungen bemessen, wohl durch eine hrliche Abgabe von etwa
1
/
2
pro Mille abgelöst werden
2)
. Die Erbschaftssteuer ist heute, wo sie nur von
Seitenverwandten erhoben wird, von noch nicht allzu großem Gewicht, die Be-
günstigung wird aber sehr bedeutend werden, wenn, was ja früher oder später
unvermeidlich ist, die gerade Linie, sei es seitens des Staats oder des Reichs in
die Besteuerung
Naivität sondergleichen, dem sic volo sic jubeo des Königs, welches § 8 in Verbindung mit §
20 statuiert, in diesem Ton Vorschriften zu machen, wäre höchst achtbar, wenn man glauben
könnte, daß sie »echt« wäre. In Wahrheit soll der schrankenlosen Expansion der Fideikom-
misse der Weg geebnet und jeder etwaige Widerspruch durch Hereinziehung des Königs er-
stickt werden.
1)
Zur Würdigung seiner he (oder vielmehr des Gegenteils) sei erinnert, daß der badi-
sche gewöhnliche Boden u m s a t z stempel schon 2
1
/
2
% beträgt.
2)
Die Berechnung nach der Besitzwechselstatistik gibt dabei aus mehrfachen, hier nicht
zu erörternden Gründen zu niedrige Zahlen.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 366
einbezogen wird. Alsdann würde
1)
bei einer Höhe von 1 %, der Steuer die Be-
günstigung schon der heutigen rund 1000 Fideikommißfamilien in jeder Genera-
tion etwa 8 bis 10 Millionen Mk. betragen
2)
. Man wird annehmen dürfen, daß
heute zur bloßen, nach den dem Fiskus entgehenden Durchschnittsbeträgen ka-
pitalisierten Steuerablösung etwa 2 % ausreichen würde, wenn es eben mit dem
Gedanken einer wirklichen S t e u e r verträglich wäre, daß sie abgelöst wird
nach rein privatwirtschaftlichen Kapitalisierungsprinzipien
3)
. Allein die rein
steuerliche Gerechtigkeit ist ja in k e i n e r Weise der wesentliche Sinn des
Fideikommißstempels. Derselbe war vielmehr, wie schon die ganze Art seiner
Bemessung zeigt, als eine s o z i a l politische Maßnahme gedacht und sollte
diese extremste Form der Monopolisierung des Bodens in Schranken halten. Nur
ein a l s b a l d z a h l b a r e r und h o h e r , d. h. den gewöhnlichen
Kaufstempel von 1 % um ein vielfaches überragender Betrag des Stempels bürgt
dafür, daß nicht die nichtigste und erbärmlichste Eitelkeit irgendeines Grundbe-
sitzes, die kindischste Sucht nach dem ndlichen Hoflieferantentitel: dem Adel,
und ähnliches den Sieg selbst über alle ernsteren und sachlichen p r i v a t e n
Erwägungen davon trägt
4)
. Diese Kontrolle durch eine hohe Abgabe kann durch
k e i n e r l e i staatliche Einmischung ersetzt werden, am wenigsten natürlich
dann, wenn die Staatsverwaltung, wie ja der Entwurf ausdrücklich als wün-
schenswert bezeichnet, mit agrarischen Interessenten möglichst stark durchsetzt
ist. –
Den naheliegenden Gedanken, da, wo wie in fast allen Teilen des preußi-
schen Ostens der Großgrundbesitz bereits eine die Agrarverfassung beherr-
schende Stellung einnimmt, durch Festsetzung einer M a x i m a l f l ä -
c h e n q u o t e , die in jedem
1)
Wenn man ein Durchschnittsalter des Nachfolgers von 35-40 Jahren annimmt.
2)
Daß auch heute schon gelegentlich ganz gewaltige Beträge in Betracht kommen n-
nen, beweist wohl der bekannte Millionenprozeß des Fürstenberger Fideikommisses gegen
den badischen Fiskus.
3)
Wie unangemessen es ist, zeigt sich daran, daß z. B. eine durchschnittlich in Zukunft
seltener als alle 30 Jahre fällige Abgabe von 1 % nach diesen Grundsätzen mit e i n maliger
Zahlung des Betrages von 1 % müßte abgelöst werden können, selbst wenn man den heutigen
Zinsfuß zugrunde legt.
4)
Traurige Beispiele dafür habe ich selbst aus der Nähe gesehen. Wenn also Sering,
nachdem er die Herabsetzung des Stempels für bedenklich erklärt hat, seine Umwandlung in
eine Abgabe suggeriert, so steht das im Widerspruch miteinander. Man würde den Stempel
wohl auf etwa 5 % festzusetzen haben, w e n n eben s a c h l i c h e Gründe hier etwas
bedeuteten.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 367
Kreise (oder etwa innerhalb ad hoc gebildeter etwas größerer Bezirke von je 3-6
Kreisen) nicht überschritten werden dürfte etwa 5 %, der landwirtschaftlich
nutzbaren Fläche
1)
die fideikommissarische Bodenhäufung zu hemmen, weist
der Entwurf mit dem Bemerken ab, dies würde zur Folge haben, daß seitens der
Behörden alsdann bis an diese Grenze ausnahmslos, also auch, wenn das Gesetz
sachliche Prüfung vorschreibt, ohne Berücksichtigung der besonderen Verhält-
nisse herangegangen würde
2)
. Vielleicht beurteilt der Entwurf die Art, wie preu-
ßische Fideikommißbehörden unter den heutigen Verhältnissen arbeiten würden,
richtig. Bei einer so wenig schmeichelhaften Einschätzung der Wirksamkeit ih-
res Pflichtgefühls aber erscheint dann die Notwendigkeit, durch Mitwirkung des
Landtages, dem sicherlich prinzipielle Fideikommfeindschaft ebenso fernliegt,
wie dem österreichischen Reichsrat (der bisher noch kein Fideikommgesuch
abschlägig beschieden hat), wenigstens ein gewisses Maß von Oeffentlichkeit zu
schaffen, um so unabweislicher. Alles in allem ergibt sich, daß der Entwurf, der
z. B. an die glichkeit, gelegentlich der Umformung der bestehenden Fidei-
kommisse wenigstens für Gebiete, wie Schlesien, die Frage des F o r t -
1)
Im ganzen S t a a t ständen danach l 620 000 ha landwirtschaftlich nutzbare Fläche
zur Bindung zur Verfügung, d. h. an l a n d wirtschaftlicher Fläche reichlich 600 000 ha
m e h r als sie deren h e u t e (ungefähr) schon umfassen. Da aber die Masse der Fidei-
kommisse sich heute in einigen wenigen Bezirken zusammendrängt, so wäre faktisch in den
anderen, bisher nicht so stark mit Fideikommissen durchsetzten Gegenden noch eine sehr viel
größere Vermehrung, meist eine Verdoppelung möglich. Dazu würden dann noch 3 Millionen
ha bisher noch nicht gebundener Privatforsten kommen. Wie Sering es miteinander vereini-
gen kann, in einem Atem die oberschlesischen Zustände als »übergroße Ausdehnung der Fi-
deikommisse« zu bezeichnen und dann alsbald vorzuschlagen, eine Grenze der Bindung erst
da eintreten zu lassen, wo e i n V i e r t e l (!) der landwirtschaftlichen Fläche sich in to-
ter Hand befinde oder die Betriebe über 250 (!) ha mehr als die lfte derselben umfassen
selbst da noch wegen möglicher »Unbilligkeit« (!) Dispens zulassend –, das ist mir absolut
unverständlich. Ein Blick in die Statistik kann ihn belehren, daß dies nichts anderes bedeutet,
als e b e n d i e o b e r s c h l e s i s c h e n Z u s t ä n d e f ü r d e n g a n -
z e n S t a a t a l s N o r m z u p r o k l a m i e r e n . Von seinen Bauernkoloni-
sationsidealen ist eben Sering trotzdem er sie für »weitaus wichtiger« erklärt gänzlich ab-
gekommen: man kann nicht zween Herren dienen. Eine solche »Schranke« hätte lediglich den
Sinn einer A t t r a p p e .
2)
Wenn übrigens auch hier wieder wie noch sonst gelegentlich die Motive den flüch-
tigen Leser (der die Bemerkungen auf S. 60 nicht beachtet) in die Täuschung versetzen, daß
eine s a c h l i c h e Prüfung f o r m a l korrekter Fideikommißgesuche und eine
A b l e h n u n g der Weitergabe an den König im Fall eines ungünstigen Resultats über-
haupt zulässig sein soll, so sucht man auch hier wieder vergebens nach einem parlamentari-
schen Ausdruck dafür.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 368
b e s t e h e n s der dortigen Latifundien erneut zu prüfen, offenbar gar nicht
im entferntesten auch nur gedacht hat irgendeine p r a k t i s c h w i r k -
s a m e Schranke der Bodenanhäufung e b e n e i n f a c h n i c h t
w i l l . Dies llt besonders deutlich ins Auge, wenn man berücksichtigt, daß
die Bodenanhäufung, d u r c h die Fideikommisse keineswegs nur im Wege
der Bildung v o n Fideikommissen erfolgt. Zunächst steht neben der Begrün-
dung neuer die Erweiterung bestehender Fideikommisse. Von 1100 bestehenden
haben fast 200, also zwischen
1
/
5
und
1
/
6
aller allein in den Jahren 1895-1900 ei-
ne Erweiterung erfahren, im Jahre 1900 allein 46. Man kann getrost sagen,
j e d e s bestehende Fideikommiß ist normalerweise ein Zentrum der Boden-
akkumulation: die »Psychologie« (wie man heute zu sagen pflegt) des Fidei-
kommißbesitzers macht es auch durchaus plausibel, daß sein Streben nun einmal
in der Richtung auf Land und immer m e h r Land ausgerichtet ist. Er
d e n k t (normalerweise) gar nicht daran, landwirtschaftlicher U n t e r -
n e h m e r sein zu wollen, er will Rente, s t a n d e s g e m ä ß e Rente,
m e h r standesgemäße Rente haben und dazu braucht man eben L a n d . Er
will eine nach Sombarts Ausdruck » s e i g n e u r i a l e « , keine Unter-
nehmer-Existenz
1)
führen. Der Vergleich mit den ebenfalls (und der bloßen Zahl
nach sogar recht zahlreich) vertretenen Verkleinerungen bestehender Fidei-
kommisse zeigt, daß es sich bei diesen um weitaus kleinere Flächen handelt.
Bei diesem ganzen Prozeß steht wiederum S c h l e s i e n oben an: Hier tritt
die Neubegründung gegenüber dem Umsichgreifen schon bestehender Fidei-
kommisse ganz in den Hintergrund.
1)
Das soll heißen: wo er irgend kann, wird er gerade wenn er tüchtig ist den Nach-
druck darauf legen, seiner Familie eine in g e s t e i g e r t e m Maße sichere Basis ihrer
standesgemäßen und möglichst immer noch standesgemäßeren Existenz zu hinterlassen, und
kraft der sozialen Schätzung, die der Bodenbesitz, zumal in Fideikommißform, genießt, wird
er – normalerweise – nicht daran denken, ihn um betriebstechnischer Vorteile willen zu
v e r k l e i n e r n , sondern ihn oft selbst t r o t z betriebstechnischer Schwierigkeiten
im Interesse des splendor familiae zu v e r g r ö ß e r n . Jedermann fragt nun einmal bei
einem großen Gut zuerst, w i e groß es ist und n i c h t , mit wieviel Kenntnissen und
Betriebskapitalien es wohl bewirtschaftet werden möge, und taxiert nach jener Fläche die so-
ziale Position des Mannes. Das wissen die Fideikommißbesitzer so gut wie jeder andere. Die,
natürlich a u c h vorkommenden, Ausnahmen »bestätigen« hier so gut wie irgendwo die
Regel. Die Z u nahme der Durchschnittsfläche der G r o ß betriebe in Fideikommißkreisen,
die wir oben (Fußnote 3 zu S. 349 f.) beobachteten und die der normalen Entwicklung des
n i c h t gebundenen Betriebs entgegenlaufen, sind keine »Zufälligkeiten«.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 369
Aehnlich steht es in einigen westfälischen Distrikten, wo gleichfalls Kapital in
den Händen der im eigentlichsten Sinne des Wortes »Schlotbarone« sich an-
sammelt und im Boden Anlage sucht. Es wird bei weiterer wohlwollender Be-
handlung der Fideikommbildung immer häufiger werden, daß ein Fideikom-
miß relativ klein anfängt, und »auf Zuwachs« begründet wird
1)
. Die Zukäufe
werden dann meist sehr leicht als p r i v a t wirtschaftlich zweckmäßig zu
rechtfertigen, der Konsens zur Einverleibung in das Fideikommiß, zumal nach-
dem der Kauf doch einmal erfolgt ist, schwerlich je zu verweigern sein. Die Be-
stimmung des Entwurfes, daß die Einverleibung von Boden in schon bestehende
Fideikommisse konsensbedürftig sein soll, ist daher schon an sich von auf die
Dauer s e h r geringer praktischer Bedeutung. Denn die Bodenakkumulation
durch die Fideikommißbesitzer erfolgt eben keineswegs nur im Wege der Ein-
verleibung in das Fideikommiß, oder hat diese notwendig zur Folge. Es sind
ganz beträchtliche Latifundien im Osten entstanden, von denen nur ein Bruchteil
fideikommissarisch gebunden ist. Das von Sering befürwortete Verbot, s t i f -
t u n g s m ä ß i g die Neuerwerbung von Grundbesitz vorzuschreiben, und die
Beschränkung des Bodenerwerbes a u s Fideikommiß m i t t e l n genügt
aber natürlich absolut nicht; es wäre ein Verbot j e d e s Bodenerwerbes durch
Fideikommiß b e s i t z e r , außer in Fällen nachweislicher Beseitigung ge-
meinwirtschaftlicher Schäden und etwa gegen Zahlung sehr hoher Spezialabga-
ben erforderlich und, bei der rechtlichen Sonderstellung, welche die Fideikom-
mißbesitzer nun einmal überhaupt einnehmen, natürlich auch mehr als gerecht-
fertigt.
1)
Ein Drittel der 939 Fideikommißbesitzer entfiel 1897 auf die regierenden Häuser, Stan-
desherren und Grafen (unter diesen bekanntlich mehrfach briefadlige), etwas über
5
/
6
sind
»sonstiger Adel« (darunter viel Briefadel) nicht ganz
1
/
10
(90) sind bürgerlich. Die Masse der
Grafen befindet sich in der Größenklasse 1000-5000 ha, der Adel hat seinen Schwerpunkt in
den Klassen von 200-1000 ha,
4
/
5
der Bürgerlichen in der Besitzgruppe unter 100 ha natür-
lich nicht, weil Bürgerliche überhaupt arme Schlucker wären im Gegensatz zum Adel, son-
dern weil je nach der Größe des Geldbeutels – nach vorgenommener Metamorphose in
Grundbesitz und Fideikommißbildung die Chance steigt, adlig, Freiherr, Graf zu werden.
Die Bürgerlichen sehen sich also darauf hingewiesen, durch Bodenanhäufung (Bauernauskauf
usw.) die Qualifikation zu etwas herem zu erwerben. Und ebenso für die höheren Staffeln
denn warum sollte die Eitelkeit bei dem Erreichten Halt machen? Abhilfe gäbe es nur,
wenn man, nach badischem Vorbild, nur A l t adlige zur Fideikommißstiftung zuließe. Aber
wir werden davon noch reden so ziemlich das gerade G e g e n t e i l ist das Ziel des
Entwurfs.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 370
Die alte Forderung endlich, daß für die e i n z e l n e n Fideikommisse ein
Maximal u m f a n g gesetzlich festgestellt werde, erledigt der Entwurf mit der
Bemerkung, daß damit ja nicht die Herbeiführung des gleichen Gesamtergebnis-
ses durch Entstehung mehrerer kleiner Fideikommisse gehindert würde. Der
große Besitzer, der Boden zukauft, w i l l ja aber gar nicht neue kleinere Fi-
deikommisse gründen, und jenes gerade im Munde des angeblich so latifundien-
feindlichen Verfassers der Motive höchst sonderbare Argument spräche eben
wieder für die Festsetzung einer Maximal f l ä c h e n q u o t e , r deren Ab-
lehnung aber der Entwurf, wie wir sahen, ähnlich nichtige Vorwände bereit hält.
In Wahrheit w i l l man eben den großen Fideikommißfamilien nicht an den
Leib und wo immer es sich um ernstliche Schranken der Fideikommisse handelt,
sind dem Entwurf die Gründe dagegen s e h r billig und scheut er wie wir
schon sahen vor direkten Unaufrichtigkeiten nicht zurück.
Indessen praktisch weit wichtiger ist die Frage, welche M i n i m a l erfor-
dernisse in bezug auf den Umfang des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens ei-
nes Fideikommißgutes gestellt werden. Die Motive lassen die Frage, ob in Zu-
kunft ein dem Fideikommißrecht analoges Recht (»Stammgüterrecht«) auch
dem Bauernstand zugänglich zu machen sei, ausdrücklich dahingestellt: in der
Konsequenz des Geistes der jetzigen preußischen Agrarpolitik würde es unzwei-
felhaft liegen. Für die Fideikommisse fordert der Entwurf, wie wir sahen, den
Nachweis eines »nachhaltigen« Minimal-Nettoeinkommens von 10 000 Mk.
(nach Abzug auch der Beiträge für die verschiedenen »Massen«), wovon 5000
Mark aus e i n e m geschlossenen »wirtschaftlichen Ganze. Für die Beurtei-
lung dieser Bestimmungen
1)
kommt für die Zukunft folgendes in Betracht:
Das traditionelle große Gut des Ostens, auf den wir uns auch hier beschrän-
ken, stellte 1885 in Ostpreußen
2)
eine Fläche von
1)
Für die G e g e n w a r t bedeutet die Anforderung von 10 000 Mk. Ertrag natürlich
eine E r h ö h u n g der Erfordernisse. S e i n e r z e i t waren selbstverständlich die
2500 Taler des ALR. ein nach der Kaufkraft des Geldes, noch mehr aber nach dem Verhältnis
zum Durchschnittseinkommen gerechnet, ganz außerordentlich viel höherer Betrag.
2)
Nach dem Umfang der G u t s b e z i r k e gerechnet. Diese geben im g a n z e n
oft ein sichereres Bild der s o z i a l e n Qualität des Besitzes als irgendein Umfang der
B e t r i e b e . Natürlich befindet sich viel Großbesitz und -betrieb auch in den Dörfern und
die Beziehungen zwischen Rittergut im administrativen und im ökonomisch-sozialen Sinn
sind auch nach Provinzen
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 371
durchschnittlich
590 ha (davon 280 ha Acker und Wiesen), in Pommern von
720 ha (davon 420 ha Acker und Wiesen), und in Schlesien von 500 ha (davon
225 ha Acker und Wiesen) dar. Es herrscht unter den Agrarpolitikern wohl Ein-
stimmigkeit darüber, daß selbst die schlesische, jedenfalls aber die nordöstliche,
Fläche als D u r c h s c h n i t t für eine modernen Anforderungen entspre-
chende Bewirtschaftung von einem Zentrum aus technisch zu g r o ß ist. Die-
sen betriebstechnischen Motiven zur V e r k l e i n e r u n g der Fläche der
kapitalistischen gren B e t r i e b e steht nun aber der privatwirtschaftliche
Zwang zur V e r g r ö ß e r u n g des Umfangs des gren B e s i t z e s
gegenüber. Das traditionelle Rittergut des Ostens »trägt keine Herrschaft mehr«,
wie sich der Minister Miquel, der ja, wenn er wollte und namentlich privatim,
äußerst zutreffende Bemerkungen machen konnte, mir gegenüber einmal äußer-
te. Das heißt: eine Familie, welche eine die »großbürgerliche« erreichende und
sogar überragende Lebensführung sich erhalten will und, wie dies ja beim Fidei-
kommißbesitzer der Fall ist, s o l l welche also ihre erwachsenen hne (im
ganzen etwa 12 Jahre lang) studieren lassen und durch die Zeit bis zur Anstel-
lung mit Gehalt »standesgemäß« erhalten will, welche ferner in den gesell-
schaftlichen Formen der »obereKlassen verkehren will, usw. –, kann bei den
heutigen Kosten einer solchen Lebensführung sich aus dem Ertrag eines rein
landwirtschaftlich oder gar zu einem erheblichen Teile forstwirtschaftlich ge-
nutzten Gutes von jener Durchschnittsgröße auf u n g ü n s t i g e n Böden
nur sehr mühsam erhalten. Die Lebenskosten steigen und erfordern mehr Rente
und das bedeutet für eine Fideikommißfamilie: m e h r L a n d als Unterlage
für eine wirklich »sturmfreie« Existenz, das heißt eine solche, die sich eben auf
ein sicheres Einkommen, eine R e n t e , nicht auf den schwankenden Gewinn,
der durch Verwertung von hohen Betriebskapitalien etwa zu gewinnen wäre,
gründet. Und eine solche Existenz soll doch der Fideikommisbesitzer darstellen.
Der intensive Betrieb erfordert mehr B e t r i e b s kapital, was
schwankend. Vergleicht man z. B. die F l ä c h e , welche von Betrieben über 100 ha einer-
seits, von Gutsbezirken andererseits okkupiert wird, so stand 1885 die erstere hinter der letz-
teren in Schlesien um -3,7 % zurück, in Pommern übertraf sie dieselbe um +4,4, in Ostpreu-
ßen UM +21,1 % und in Sachsen um +40,5 %. Im letztgenannten Falle war also eine Identifi-
kation der administrativen mit der ökonomischen Kategorie völlig ausgeschlossen, in
Pommern und Schlesien im ganzen durchaus zulässig.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 372
dem Fideikommißbesitzer, je mehr er der Tendenz zur Bodenanhäufung nach-
gibt, desto häufiger, und je mehr er wirklich eine dem Schwerpunkt nach rein
l a n d wirtschaftliche Existenz ist, desto sicherer fehlt
1)
. Ein Reinertrag von
nach Abzug aller Lasten und Ausstattungspflichten 10 000 Mk. ist heute auf den
u n g ü n s t i g e r e n Böden des Ostens aus einem e i n z e l n e n Rittergut
von betriebstechnisch zweckmäßigem Umfang selbst beim Mangel irgend er-
heblicher Schulden n i c h t als » n a c h h a l t i g e s « Einkommen eines
Besitzers, der n i c h t selbst mit allen seinen Familienmitgliedern in Stall und
Feld nach Bauernart ständig mitarbeitet, derart zu gewährleisten
2)
,
1)
Die Motive nnen Betriebs- und Meliorationskapital nicht unterscheiden, wenn sie die
Verbesserungsmasse als B e t r i e b s kapital bezeichnen, ihren Zweck aber in der
» n a c h h a l t i g e n Besserung« des Gutes finden. Gewiß kann sie und ebenso Grund-
stücksabverkäufe nach § 30
3
auch zu einer erstmaligen I n v e n t u r beschaffung ver-
wendet werden, aber doch offenbar n i c h t als Kapital für einen »Umschlagsbetrieb«. Das
entspräche ihrem Sinn nicht und stellte jederzeit ihre Existenz aufs Spiel. Uebrigens nnte
gerade M e l i o r a t i o n s kapitalien der selbstwirtschaftende Fideikommißbesitzer sehr
leicht und billig a n d e r s als durch Kapitalaufspeicherung erhalten. Vielleicht könnte
aber diese Masse im Sinn des englischen »joint business« bei Meliorationen v e r p a c h -
t e t e r Güter eine Rolle spielen, ferner beim Bau von Brennereien, Zuckerfabriken u. dgl.
2)
Nimmt man an, daß durchschnittlich etwa das 2
1
/
2
- oder etwas mehrfache des
Grundsteuerreinertrags als » n a c h h a l t i g e s Einkomme angesetzt werden dürfte
daß ferner mindestens etwa 30 % Forstfläche (gegen jetzt im Durchschnitt 45 %) mitgestiftet
werden und daß eine Verschuldung von 25 % eingebracht wird, so kommt man für den Osten
für einen Ertrag von jedenfalls ü b e r 12 500 Mk. wie dies zur Erzielung eines dem Be-
sitzer v e r b l e i b e n d e n Einkommens von 10 000 Mk. nötig ist auf eine
d u r c h s c h n i t t l i c h e M i n i m a l f l ä c h e von ca. 700 ha, für Schlesien na-
türlich auf w e s e n t l i c h weniger, für den Nordosten aber, wo die Reinerträge bis dicht
an 4 Mk. im Kreisdurchschnitt herabgehen, auf den ungünstigen den, die gerade die fidei-
kommißbedürftigen wären, auf jedenfalls ü b e r 3000 ha als Minimum zur Erzielung jener
Rente. Für e i n e n einheitlich geleiteten Betrieb ist schon jene erstgenannte Fläche als
M i n i m u m jedenfalls zu gr. Wollte man ernstlich »Rückenbesitzer« im eigentlichen
Sinn des Wortes auf Fideikommissen wachsen lassen, d a n n bliebe diese Art von Fidei-
kommissen im Osten Privileg der Böden der schlesischen Ebene, des unteren Weichsel- und
Odertals und einzelner Striche in der Provinz Brandenburg. Auf ihnen würde der erzwungene
Großbetrieb seine Stätte finden, während die Theorie von der »glücklichen Mischung« der
Besitz- und Betriebsgröße ihn auf die s c h l e c h t e n Böden verweisen möchte und,
wenn nicht alle nationalen und Kulturinteressen dein Agrarkapitalismus geopfert werden sol-
len – auch m ü ß t e .
Sering (S. 70 a. a. O.) glaubt, beiläufig bemerkt, die geringe Wahrscheinlichkeit, daß eine
erhebliche Fideikommißbildung zu erwarten stehe, durch den Hinweis darauf begründen zu
können, daß in den 4 Nordostprovinzen auf dem Lande nur 923 und nach Abzug von etwa
100 Fabrikanten (?) u. dgl. nur etwa 800 Personen von mehr als 12 500 Mk. Einkommen an-
sässig seien bei einer
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 373
daß
die Fideikommißbehörden bei gewissenhafter Prüfung sich zur Konzessio-
nierung des Fideikommisses entschließen dürften. So kleine Fideikommisse -
ren das Privileg der Besitzer der b e s t e n B ö d e n . Der Entwurf »gestat-
tet« nun, daß ein Fideikommiß auf eine halb so große
1)
Einheit, kombiniert mit
S t r e u besitz, gegründet werde, und die Motive begründen dies charakteristi-
scherweise damit, daß sonst im Westen, da hier Güter größeren Umfanges nicht
sehr häufig seien, z u w e n i g F i d e i k o m m i s s e gegründet werden
würden. Unter einem »wirtschaftlichen Ganzeaber versteht der Entwurf nach
Seite 50 der Motive einen einheitlich geleiteten Großbetrieb, wobei auch ein
Zentralbetrieb mit Vorwerken zusammen als ein Betrieb angesehen werden soll.
N i c h t zulässig ist also z. B. eine Verpachtung dieses Stammgutes an mehre-
re selbständige uerliche Wirtschaftsleiter. Man sieht: H i e r i s t d e r
Z w e c k d e r S c h a f f u n g ö k o n o m i s c h » s t u r m f r e i e r «
E x i s t e n z e n m i t d e r A b s i c h t d e r k ü n s t l i c h e n
S t ü t z u n g d e s G r o ß b e t r i e b e s v e r k o p p e l t . Das Ergebnis
kann im Falle des Erfolges für den Westen, z. B. das Rheinland, nur sein, daß
das Kapital, welches dort im Boden Anlage gesucht hat, um nun auch »fidei-
kommißhig« zu werden, die als Pächter auf dem gekauften Land sitzenden
kleinen Wirtschaften »legen« muß, und daß überall Besitztümer, die für sich al-
lein mit 5000 Mk. Ertrag jedenfalls kaum mehr als eine großbäuerliche Lebens-
haltung gewähren, um die vorgeschriebene Basis der Lebenshaltung eines Fidei-
kommißbesitzers zu bieten, mit einem Strahlenkranz von damit nicht zusam-
mengehörigen Parzellen, die rund umher zugekauft und verpachtet worden sind,
kombiniert werden, und daß die Besitzer sich auf stetigen Zukauf
Anzahl von schon jetzt 216 Fideikommissen. Da sicher die Mehrzahl der 600 hiernach Fidei-
kommißfähigen mit mehr als der Hälfte des Wertes verschuldet seien (? gerade die v e r -
m ö g e n d s t e n Leute?!), so sei eine erhebliche Fideikommißgründung nicht zu erwar-
ten. Gewiß: Nicht die verschuldeten heutigen Landwirte, wohl aber potente K ä u f e r
kommen, wenn der Fideikommißstempel, der das Entscheidende ist, herabgesetzt wird, zwar
nicht in den ersten paar Jahren, wohl aber nach Serings eigenem Vorschlag schon nach 10
Jahren als Reflektanten in Betracht. In Schlesien ferner stehen nach Serings eigener Rechnung
155 Fideikommissen 1079 Personen jener Einkommensklasse gegenüber, und gerade das in-
dustrielle Kapital ist es hier, welches (wie im Saarbezirk) landwirtschaftliche Besitzungen und
Großbetriebe aufsaugt und »nebenamtlich« zu »betreiben« weiß.
1)
In Wahrheit w e n i g e r als halb so große, da die Lastenanrechnung anders geregelt
ist.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 374
weiterer Parzellen hingewiesen sehen. Daß derartige Gebilde unter irgendwel-
chen Gesichtspunkten auch nur im mindesten erfreulicher sein sollten, als ein
Rentenfonds von r e i n e m Streubesitz, leuchtet denn doch wahrlich nicht
ein. Wohl aber sind sie natürlich als B o d e n a n h ä u f u n g s z e n t r e n
höchst wirksam und zugleich ein Mittel, Betrieben, die für sich allein »keine
Herrschaft trage, deren Inhaber vielmehr schlecht und recht als »Klutenpet-
ter« ein bürgerliches Erwerbsleben mit scharfer Mitarbeit in Stall und Feld füh-
ren ßten, die Qualifikation zu verleihen, in Verbindung mit Parzellenpacht-
wucher eine Basis prätenziöser »herrschaftlicher« Existenzen zu werden, die
dann in den Augen der Romantiker als »Rückenbesitzer« glänzen. Der Entwurf
fordert die Erhaltung bzw. Schaffung von B e t r i e b e n bestimmter Mini-
malgröße, anstatt, wenn er Streufideikommisse nicht liebt, Geschlossenheit oder
nachbarliches Zusammenliegen der Fideikommiß b e s i t z u n g e n zu ver-
langen.
Andererseits ist natürlich der Betrag von 10 000 Mk. Nettoeinnahme ganz
und gar unzulänglich, um darauf irgendwelchen »splendor familiae« zu gründen.
Ein Einkommen von 10 000 Mk. bedeutet heute eine einfache bürgerliche Exi-
stenz. Einen Mann mit 10-15 000 Mk. zum Fideikommißbesitzer stempeln, heißt
jemanden, der durch seine Verhältnisse auf bürgerliche Lebenshaltung hinge-
wiesen wäre, mit albernen feudalen Ansprüchen erfüllen, denen er nicht ohne
fortgesetzte Gefahr nachleben kann.
Sollten weiterhin derartig kleine Fideikommisse in erheblicher Anzahl entste-
hen
1)
, so sind, wenn der Umfang klein b l e i b t , und die Besitzer wirklich
l ä n d l i c h e Existenzen sind, diese entweder dem Schwerpunkt nach
Schnapsbrenner, Zuckersieder, Stärke- oder Ziegelfabrikanten und dergleichen,
oder wenn sie dazu zu kapitalschwach bleiben, so entsteht bei irgend erhebliche-
ren pekuniären Extravaganzen eine mir aus der Anwaltspraxis wohl bekannte
chronische Misere, die zu ganz unglaublich wider-
1)
O b dies geschieht, hängt für die Gegenwart noch wesentlich von der Regelung der
S t e m p e l frage ab. Wird der derzeitige Stempel e r h ö h t oder mindestens erhalten, so
ist die Gefahr wenigstens zur Zeit geringer, als die andere, welche durch das Umsichgreifen
der bestehenden Fideikommisse geschaffen wird. Für die Zukunft liegt es m. E. freilich an-
ders. Unsere ganze Wirtschaftspolitik züchtet R e n t n e r , und die Neigung, bürgerlichem
Kapital ein otium cum dignitate durch Anlage in Boden zu verschaffen, wird mit der Sätti-
gung Deutschlands an Kapitalbesitz und der Steigerung des protektionistischen Abschlusses
der Staaten gegeneinander rasch zunehmen.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 375
lichen und namentlich mit den sozialen Ansprüchen übel kontrastierenden Er-
scheinungen führt. Oder aber, das kleine Fideikomm bildet eben als L u -
x u s g u t einen Bestandteil des Vermögens von großindustriellen Familien,
die mit den Interessen des platten Landes nichts zu tun haben. In Schlesien sind
von den Inhabern der Betriebe über 100 ha schon jetzt im Regierungsbezirk
Breslau 11,54 %, im Regierungsbezirk Oppeln 12,06 % in a n d e r n als
landwirtschaftlichen Berufen h a u p t beruflich tätig, im Saargebiet (Regie-
rungsbezirk Trier) 25,0 %". Der Anreiz dazu wird natürlich durch die glich-
keit fideikommissarischer Bindung bedeutend gesteigert. – Wo irgendein kleiner
Fideikommißbesitzer aber ökonomisch bei Kräften ist oder z. B. durch eine rei-
che, wenn auch »unstandesgemäße« Heirat ökonomisch zu Kräften kommt, da
wird er w e n n dem nicht ein absolutes V e r b o t im Wege steht um
sich greifen und B o d e n kaufen, wo immer er zu haben ist, sei es, daß der-
selbe formell zum Fideikommiß geschlagen wird oder daß er formell ungebun-
den bleibt. Die Behörden würden, wie gesagt, wohl nie in die Lage kommen,
den Konsens zur Bindung des Zugekauften zu verweigern, da ja jede Arrondie-
rung hier eine Verbesserung der Existenzchance bedeutet. Die Mehrzahl aller
Fideikommisse strebt normalerweise nach Vergrößerung, für die k l e i n e n
aber ist sie auf die Dauer geradezu Existenzfrage. Sie bilden, wenn sie überhaupt
prosperieren, Bodenaufkaufszentren. Und dies Aufkaufen geschieht, dem
Schwerpunkt nach, n i c h t unter b e t r i e b s technischen Gesichtspunkten,
sondern lediglich unter dem Gesichtspunkt der Verbreiterung der Rentenbasis.
Nur eine wesentlich höhere Mindestgrenze des Ertrages etwa 30 000 Mk.
oder noch besser eine Mindestgrenze des Umfangs, sagen wir 3-4000 ha
1)
ver-
bunden mit der noch zu erörternden Beschränkung auf altadlige oder wenigstens
altansässige Familien und vor allem mit dem V e r b o t , außer etwa in Fällen
nachweislicher g e m e i n wirtschaftlicher Vorteile (Möglichkeit der Urbarma-
chung von Oedland und dergleichen eng zu begrenzende Fälle), überhaupt wei-
teren l a n d w i r t s c h a f t l i c h genutzten Boden (Forsten sind natürlich
anders zu behandeln) zu kaufen, könnte hiergegen schützen. A b e r d a s
P h a n t o m d e s
1)
Natürlich vertrüge sie sich aufs beste mit einer gleichzeitig festzusetzenden M a x i -
m a l flächengrenze (etwa 8000-10 000 ha) und besonders einer Maximal q u o t e der in
den einzelnen Bezirken zu bindenden Fläche.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 376
R ü c k e n b e s i t z e s wenn man darunter ständige eigene Betriebsleitung
versteht – m ü ß t e f r e i l i c h b e i j e n e r M i n d e s t g r e n z e
f a l l e n g e l a s s e n w e r d e n .
Ich vermag, wenn man den Glauben aufgibt, ein moderner Landwirt nne
dauernd dem Typus des altpreußischen Junkers vergangener Zeiten entspre-
chen
1)
, in Uebereinstimmung mit Conrad, k e i n e r l e i ökonomische oder
sozialpolitische Gesichtspunkte zu erkennen, unter denen dies zu bedauern wäre.
Was zunächst die ö k o n o m i s c h e Seite der Sache anlangt, so bieten
gerade die g r o ß e n , zumal die geschlossen zusammenliegenden Fideikom-
mißherrschaften, bei denen der weit überwiegende Teil der landwirtschaftlich
genutzten Fläche verpachtet, ein Teil des Rests administriert wird, eben das,
worauf es den Verfassern des Entwurfes (angeblich, und vielleicht auch ver-
meintlich) ankommt: wirtschaftlich w i r k l i c h »sturmfreie« Existenzen mit
der g e s i c h e r t e n Möglichkeit hoher Lebenshaltung und entwickelter
geistiger und ästhetischer Kulturbedürfnisse, vor allem aber auch mit der g-
lichkeit und dem Anreiz, auf landwirtschaftlichem Gebiet wirklich i n g r o -
ß e m S t i l e ökonomisch zu schalten. Die Elastizität gegeber Krisen, wie
sie die englische Agrarverfassung gezeigt hat, beruht auf der Verteilung des
Stoßes auf zwei starke Schultern. Das »joint business« von Landlord und Päch-
ter, wie es sich in England entwickelte, hatte ebenfalls die bedeutende Größe der
dortigen Fideikommisse und die ökonomische Potenz der Landlords zur Voraus-
setzung. Die ökonomische Aufgabe, den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieb
dem Markt und der Entwicklung der Technik anzupassen, ist bei g e b u n -
d e n e m Boden nur da wirklich s i c h e r realisierbar, wo es dem Grund-
herrn auf l ä n g e r e Zeiträume hinaus gleichgültig sein kann, ob die Rente
des e i n z e l n e n Betriebes unter das Maß dessen sinkt, was für den tradi-
tionellen Unterhalt einer Familie erforderlich ist. Und das gleiche gilt von der
Gestaltung des U m f a n g s der Betriebe: auch sie wird gerade da in produk-
tionstechnisch zweckmäßigster Form erfolgen nnen, wo n i c h t , wie beim
Eigentümerbetrieb und natürlich ganz ebenso beim kleinen Fideikommiß die
Rente eines oder weniger e i n z e l n e r Betriebe gerade das
1)
D a ß man diesen Glauben aufgeben muß, darüber siehe meine Ausführungen in Bd.
55 der Schriften d. V. f. Sozialpolitik, gegen die von keiner Seite etwas Stichhaltiges gesagt
worden ist, soviel ich sehe.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 377
Ausmaß dessen darstellen m u ß , was als Einkommen einer Familie von be-
stimmter Lebenshaltung erfordert wird. Diese Unabhängigkeit des B e -
t r i e b s ausmaßes von dem erforderlichen Ausmaß eines privatwirtschaftlichen
E i n k o m m e n s ist es ja, welche unter der kapitalistischen Wirtschaftsor-
ganisation die Stärke des Fideikommisses darstellt. Das große Fideikommiß
wirkt eben, wenn man es rein technisch betrachtet, wie eine Art Vergesellschaf-
tung des Produktionsmittels Boden, verbunden mit einer monarchischen und
privatwirtschaftlich interessierten und verantwortlichen Spitze. Mit jeder
H e r a b m i n d e r u n g des Ausmaßes des Fideikommisses m i n d e r t
s i c h n a t u r g e m ä ß dies Element der Stärke, und wo das Fideikommiß
mit dem Umfang eines oder zweier Rittergüter zusammenfällt, da ist jener Kon-
flikt, der in der Natur unserer privatwirtschaftlichen Produktionsordnung liegt:
daß t e c h n i s c h zweckmäßiges B e t r i e b s a u s m a ß und s t a n -
d e s g e m ä ß e R e n t e je ihre eigenen Wege gehen, in voller, ja trotz aller
Privilegien des von Erb- und Kaufschulden freien Besitzers in g e s t e i g e r -
t e r Schärfe vorhanden, da ja keine Macht der Welt durch die Generationen
hindurch die Speisung des Eigenbetriebes mit dem, zumal für eine im Sinne
schnelleren Kapitalumschlages intensivere Wirtschaft erforderten, B e -
t r i e b s kapital gewährleisten kann, und da der Uebergang zur Verpachtung, je
kleiner der Besitz, um so weniger sicher gerade jenes Ausmaß von Rente ein-
trägt.
Ganz ähnlich steht es auf sozialpolitischem Gebiet. Der große Fideikomm-
besitzer, je größer je mehr, k a n n seinem Besitz ohne Gefährdung seiner ei-
genen ökonomischen Lebensinteressen in ähnlicher Weise gegenüberstehen, wie
etwa ein Mecklenburger Großherzog seinem Domanium, er kann, wie dieser es
getan hat, »Agrarpolitik« treiben, und ist bei der gren Zahl der von ihm Ab-
hängigen, bei seiner der Oeffentlichkeit und ihrer Meinung immerhin exponier-
ten Stellung, bei seiner relativen Entrücktheit aus den konstanten Spannungen
des wirtschaftlichen Alltagskampfes darauf sogar in gewissem Maße hingewie-
sen. Tut er es nicht, preßt er seine Pächter aus, baut schlechte Arbeiterwohnun-
gen usw., so hat das eben in der Tat vorwiegend p e r s ö n l i c h e , nicht aber
den ganz allgemeinen Grund, der bei den kleinen Grundherren solche sozialpoli-
tische Arbeit großen Stils normalerweise ausschlit: daß sie selbst
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 378
ihre Haut zu Markte tragen und es deshalb Selbstbetrug oder Phrase ist, wenn
man ihnen irgend andere Motive als normalerweise mgebend andichtet, als
diejenigen, die jeden kapitalistischen Unternehmer irgendwelcher Art irgendwo
und irgendwann beseelt haben und beseelen. Ein g r o ß e r Fideikommißbe-
sitzer k a n n z. B., auch in seinem eigenen Interesse, auf die von ihm abhän-
gigen Mittelbetriebe erziehlich wirken und so Vorbilder für kleinere Wirtschaf-
ten schaffen, worauf die Motive solches Gewicht legen. Was die Bauern von ei-
nem durchschnittlichen Rüben- oder Branntweinbaron eigentlich ökonomisch
lernen sollten, leuchtet dagegen nicht ein, und um ihnen d i e technischen
Fortschritte, deren Anwendung ihnen möglich wäre, vor Augen zu führen,
d a z u genügt ein Zehntel der jetzt im Osten vorhandenen Großbetriebe. Ein
Dutzend kleiner Fideikommißbesitzer, etwa von je 400 ha an, an Stelle eines
großen von 4-5000 ha sind selbstverständlich schlechterdings n i c h t in an-
nähernd ähnlichem Maße anpassungsfähig wie dieser es ist. Schlechte Zeiten
werden sie wohl zur Abstoßung von Außenschlägen an kleine Rentengutserwer-
ber oder Parzellenpächter führen beides Formen des Bodenwuchers, die der
Güterschlächterei wesensgleich sind oder der künstlich in der einmal gegebe-
nen Verteilung festgeklammerte Betrieb muß an einen möglichst viel bietenden
Pächter zur Ausraubung vergeben werden. Aber eine planvolle Neugestaltung
der Betriebsgrößen unter umfassenderen technisch-ökonomischen Zweckmäßig-
keitsgesichtspunkten ist ihnen einfach unmöglich
1)
. Ueberhaupt aber ist irgend-
ein spezifisch »weitsichtigeres« Verhalten eines solchen kleinen Fideikommiß-
besitzers gegenüber irgendeinem anderen Betriebsleiter, allgemein gesprochen,
so unwahrscheinlich wie möglich, denn dazu gehört nun einmal ein Besitz mit
nicht nur z e i t l i c h , sondern vor allem auch r ä u m l i c h weiterer Per-
spektive. Die ökonomische Elastizität und Anpassungsfähigkeit gegenüber dem
Stoß der Konjunktur, welche, bei Zusammenfassung des Bodens in e i n e r
ganz großen Fideikommbesitzung mit vielen
1)
Wenn Sering den Fideikommißbesitzern die Abveräußerung auch g r ö ß e r e r Be-
sitzteile gegen Rente wie Kapital gestatten will, so wird man zwar gern zustimmen. Aber daß
bei »Rückenbesitzerdabei etwas Erhebliches und Verständiges (vom a g r a r politischen
Standpunkt aus!) herauskomme, ist ( g e n e r e l l wenigstens) ausgeschlossen, wie ich
schon vor 13 Jahren einmal ausführte. Nur ganz große Grundherren nnen Kolonisationspo-
litik treiben. Andere werden allenfalls Hungerbauern abzweigen.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 379
Einzelbetrieben in Pacht oder Administration, gegenüber der Verteilung des Bo-
dens unter lauter freie Eigentümerbetriebe in der Tat erheblich e r h ö h t sein
k a n n , ist bei der Fesselung des Landes in der Hand vieler einzelner kleiner
Fideikommisse vielmehr v e r r i n g e r t . Zahlreiche kleine Fideikommisse
können hier in den entscheidenden Punkten geradezu entgegengesetzt wirken,
wie einzelne große.
Es ist angesichts alles dessen geradezu ein Unheil, daß die Motive die Fidei-
kommißpolitik unter den Gesichtspunkt der Stützung des Eigentümergroßbetrie-
bes und vollends unter die sattsam bekannte Spießbürgerphrase von der Beför-
derung einer »glücklichen Mischung« der verschiedenen Betriebsgrößen stellen.
Diese Redensart sollte wirklich schon aus dem Grunde endlich aus der Diskus-
sion verschwinden, weil die Frage ja eben ist, w e l c h e Mischung denn nun
die »glückliche« sei, die im Westen vorhandene, die Westfalens oder Hanno-
vers, oder die in Schlesien oder die in Ostpreußen bestehende: denn mit Aus-
nahme ganz weniger Gegenden sind hier, wie überall in Preußen, die Betriebs-
größen irgendwie »gemischt«, und auch mit G r o ß betrieben untermischt
oder welche andere? Nach früheren Aeußerungen von Berliner Agrarpolitikern
durfte man annehmen, daß wohl der deutsche Nordwesten, etwa Hannover, das
gelobte vorbildliche Land sei. Nun: die Provinz Hannover ist diejenige Pro-
vinz, w e l c h e d e r F l ä c h e n a c h i m g a n z e n S t a a t d a s
M i n i m u m v o n F i d e i k o m m i s s e n a u f w e i s t : 2,13 %.
Nimmt man aber vollends an, daß die A u s g l e i c h u n g der vorhandenen
schroffen K o n t r a s t e in der preußischen Agrarverfassung der Sinn jener
Redewendung sei worüber sich ja recht wohl reden ließe –, so muß es gerade-
zu als ungeheuerlich, erscheinen, einem Institut im deutschen Osten irgendwel-
che weitere Ausdehnung zu gestatten, welches ausgesprochenermaßen be-
zweckt, den Großbetrieb, dessen Ueberwiegen dort gerade jenen Kontrast gegen
den Westen hervorruft, zu stützen.
Will man also das Fideikommiß-Institut beibehalten, gleichzeitig aber doch
nicht den Parvenuinteressen die sozialpolitischen, und den Interessen der Groß-
grundbesitzer die populationistischen Interessen, die auf dem Lande, zumal im
Osten, wahrzunehmen sind, in allzu starkem Maße opfern, dann re e t w a
zu fordern:
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 380
1. Beseitigung aller Fideikommisse außer den F o r s t fideikommissen;
eventuell wenn man denn durchaus nicht soweit gehen will unter Gestattung
der Kombination von 20 % landwirtschaftlich nutzbarer Fläche mit 80 % Forst-
fläche, – dabei aber
2. Beschränkung der Bindung l a n d wirtschaftlich nutzbaren Bodens auf
solche Böden, die um – sagen wir: –
1
/
4
u n t e r d e m d u r c h s c h n i t t -
l i c h e n Grundsteuerreinertrag des betreffenden Kreises stehen, und auf
Kreise, in denen mindestens
2
/
3
der wirtschaftlich erwerbstätigen Bevölkerung
hauptberuflich in der Landwirtschaft erwerbstätig sind.
3. Netto-Ertrags m i n i m u m von 30 000 Mk. und Flächen m i n i m u m
von 3000 ha, s o f e r n l a n d w i r t s c h a f t l i c h e r Boden mitgebun-
den werden soll; Flächen m a x i m u m pro Fideikommiß von 8-10 000 ha;
außerdem und vor allem Maximalquote der Bindung l a n d w i r t s c h a f t -
l i c h nutzbaren Bodens in einem und demselben Kreise von 5 % der landwirt-
schaftlich genutzten Kreisfläche außer in Kreisen, mit abnorm u n g ü n s t i -
g e r Durchschnittsbodenqualität: etwa unter
1
/
2
des Durchschnittsreinertrags
des Regierungsbezirks. Aufhebung aller dem nicht entsprechender Fideikom-
misse.
4. Beschränkung der Ausdehnung eines Fideikommisses auf höchstens zwei
unmittelbar benachbarte Kreise
1)
.
5. Beschränkung der Fideikommisse auf Familien, die seit 100 Jahren adlig
und seit ebenso langer Zeit, oder doch seit mehr als 2 Generationen im Besitz
der größeren Hälfte des betreffenden Grundbesitzes oder wenn man selbst das
nicht will wenigstens seit diesem Zeitraum im Kreise als Besitzer landwirt-
schaftlich nutzbaren Bodens von einem erheblichen Umfang ansässig sind.
(Ausnahmen etwa zugunsten verdienter Staatsmänner und Feldherrn durch Spe-
zial g e s e t z . )
6. Erfordernis der Zustimmung des Landtages. V e r b o t , dem Landtage
bzw. demnige – Fideikommißgesuche
1)
Denn was soll es für eine Schranke des »Streubesitzes« sein, wenn man den Fideikom-
missen, wie der Entwurf tut, die Ausdehnung über eine ganze Provinz (!) gestattet. Das ist
auch eine der vielen reinen Attrappen, die der Entwurf enthält. Wie man dabei noch von
»Rückenbesitzern« sprechen kann, ist vollends dunkel. Von positiver ökonomischer Bedeu-
tung im Sinne der früheren Ausführungen ist nur ein g e s c h l o s s e n e s g r o ß e s
Fideikommißareal. Nur ein solches b i n d e t auch die Familie irgendwie an eine bestimm-
te G e g e n d mit ihrem Interesse.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 381
vorzulegen, bei denen die vorstehenden Erfordernisse fehlen und bei denen nicht
außerdem nach dem Ermessen der Generalkommissionen der Nachweis geliefert
ist, daß »gemeinwirtschaftliche« Interessen nicht gefährdet werden.
7. Verbot, selbst oder durch Dritte weiteren Grundbesitz zu erwerben, für den
Fideikommißbesitzer.
8. Beseitigung des Zwanges, eine »wirtschaftliche Einheit«, d. h. einen land-
wirtschaftlichen Großbetrieb aufrecht zu erhalten; Zulassung des Abschlusses
auch langhriger Pachtverträge durch den Besitzer allein.
9. Beseitigung der Beschränkung der zulässigen Abveräußerungen auf »kleine
und mittlere« Stellen, dagegen B e s c h r ä n k u n g auf selbständige,
b ä u e r l i c h e Stellen.
10. 5 % Brutto-Verkehrswert-Stempel (natürlich mit Ausschluß des Erlasses
im Gnadenwege!).
Eine Fideikommißreform, die nicht, wenn auch etwa in anderer Fassung der
Bestimmungen denn auf die Form und die Einzelheiten kommt es nicht an –,
den vorstehenden Bedenken Rechnung trägt, wäre l e d i g l i c h eine erneute
Kapitulation des Staatsinteresses vor dem Agrarkapitalismus, die Hunderttau-
sende von Hektaren deutschen Bodens dem verächtlichen Streben nach Adels-
prädikaten oder einer adelsartigen Position opfert. Allein es liegt im Zuge der
heute in Preußen führenden Staatsweisheit, den bürgerlichen Geldbeutel mit
dem minimalen politischen Einfluß des Bürgertums durch Gewährung einer Art
von »Hoffähigkeit zweiter Klasse« zu versöhnen, und in den dafür empfängli-
chen Kreisen re nichts unpopulärer, als wenn der »Nobilitierung« von Kapita-
lien, die im Handel, in der Industrie, an der Börse erworben sind, durch deren
Metamorphose in die Form des Ritterguts Schwierigkeiten gemacht würden.
Wie wenig Chancen daher heute solche Vorschläge, wie sie vorstehend ge-
macht werden, oder ähnliche, haben, weich natürlich nur zu wohl. Den Urhe-
bern des Entwurfes liegt ja in Wahrheit nichts ferner, als die a g r a r p o l i -
t i s c h e Fürsorge für eine unter welchem Gesichtspunkt immer »gesun-
de« soziale Verfassung des platten Landes. Eingestandenermaßen entscheiden
hier (vermeintliche) politische Tagesinteressen. Da die Motive selbst solche in
den Vordergrund stellen und die Freunde des Entwurfes erst recht, so kann lei-
der auch hier nicht vermieden werden, auch auf diese Seite der Sache noch et-
was einzugehen.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 382
Vorher nur noch eine Bemerkung.
Die Freunde des Fideikommißinstituts wie namentlich Sering beruhigen
sich gern mit der Betrachtung, daß der Entwurf ja doch trotz allem eine E r -
s c h w e r u n g der Fideikommißerrichtung, namentlich immerhin eine E r -
h ö h u n g der Minimalanforderungen in finanzieller Hinsicht, bedeute. Dem-
gegenüber sei zunächst erneut mit allem Nachdruck betont, daß der e n t -
s c h e i d e n d e Punkt in d i e s e r Hinsicht die Frage des Stempels ist. An
seine E r h ö h u n g ist leider kaum zu denken, man muß vielmehr rchten,
daß er nicht einmal in seiner jetzigen Höhe erhalten bleibt. Wird er aber herab-
gesetzt, so gibt das eine Anreizung zur Fideikommißbildung, der gegenüber
a l l e s andere, was der Entwurf verlangt, Nebensache ist. Die Mitglieder des
Herrenhausesssen in d i e s e m Punkt doch wohl sachverständig sein:
n i c h t s als die Stempelfrage hat sie interessiert. Dazu kommt nun aber, daß
die Hereinziehung der p e r s ö n l i c h e n E n t s c h l i e ß u n g d e s
K ö n i g s die Eitelkeit fideikommißfähiger Familien aufs äußerste kitzeln
muß. Der Gedanke, daß die allerhöchste Person sich mit den Verhältnissen und
der »Würdigkeit« der eigenen Familie ganz speziell befaßt, sie in Ordnung be-
funden und danach an dem Stiftungsakt des Familienhauptes sich gutheißend be-
teiligt habe, mein wohltuendes Empfinden für jedes »königstreue« Herz be-
deuten, ein Empfinden, welches eben in v e r m e h r t e r Fideikommißbil-
dung zum Ausdruck kommen wird. Man vergleiche nur, wie oben geschehen,
H a n n o v e r , wo k e i n e nigliche Genehmigung erfordert wird und die
finanziellen Anforderungen die geringsten sind, mit S c h l e s i e n . Und end-
lich sind wir denn doch wohl berechtigt, den Entwurf unter dem Gesichtspunkt
zu betrachten: daß er eine geeignete Grundlage für eine d a u e r n d gültige
Fideikommiß r e f o r m darstellen soll u n d w i l l , und ihn d a r -
n a c h , nicht aber durch Vergleichung mit dem Gegenwartszustand, zu kriti-
sieren.
III.
Die Motive (S. 13) führen aus, es komme darauf an, »Familien zu erhalten,
die dem Staat eine Gewähr dafür bieten, daß sich jederzeit Kräfte finden, die ge-
eignet und bereit sind, die immer steigenden Anforderungen freiwilliger Be-
schäftigung auf politi-
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 383
schem und sozialem Gebiet in s t a a t s e r h a l t e n d e m S i n n e zu er-
füllen«. An einer anderen Stelle (S. 49) wird auf die »Anforderungen des öffent-
lichen Lebens in Gemeinde, Kreis, Provinz und Staat« angespielt. Was heißt das
nun? In der G e m e i n d e ist der Fideikommißbesitzer bekanntlich nicht tä-
tig, er bildet seinen »Gutsbezirk« für sich, überläßt, wie der Großgrundbesitz
überhaupt, den Bauern zum guten Teil die Erziehung seiner Arbeitskräfte in der
Volksschule und möglichst auch deren Unterhalt, im Falle der Verarmung, und
wenn sich z. B. einmal die Bauern über die schweren Mißstände, welche die
ausländischen Saisonarbeiter des Ritterguts für sie mit sich bringen, beklagen, so
erklärt der Vertreter des Landwirtschaftsministers im Herrenhause, daß die »In-
teressen der Gemeinden (lies: der Bauern) hinter den Interessen der Landwirt-
schaft (lies: des Großgrundbesitzes) zurückstehen müßten.« Die Gemeinde hat
also wohl auszuscheiden. Sind nun etwa für die Verwaltung der Kreise und Pro-
vinzen nicht mehr die nötigen Kfte zu finden? Das ßte ja in dem groß-
grundbesitzlosen Westen des Staates verhängnisvoll hervorgetreten sein, Nach-
weisungen oder selbst Andeutungen darüber fehlen aber und würden auch
schwer zu beschaffen sein. Oder sollte es gar an Referendaren mangeln? oder
etwa an Kandidaten für die Wahlen? Oder endlich was das einzig ernst zu
nehmende wäre an Nachwuchs für das Offizierkorps? Auch hierfür fehlt jeder
Anfang eines Nachweises. Die oben von mir g e s p e r r t e n Worte sind
eben wohl die allein aufrichtig gemeinten: es handelt sich um einen Versuch der
Sicherung agrarischer und k o n s e r v a t i v e r P a r t e i h e r r s c h a f t
innerhalb der Lokalverbände und des Beamtentums und um sonst gar nichts.
Das allein bedeuten auch die »hohen Erwartunge, denen gerecht zu werden
»der Großgrundbesitzerstand besonders berufeerscheint eine Bemerkung
übrigens, die vor 2 Jahrzehnten lediglich als eine Dreistigkeit gewirkt hätte und
in einem anderen deutschen Staat (Mecklenburg und Sachsen etwa ausgenom-
men) auch heute nicht, ohne den schärfsten Widerspruch zu finden, gewagt wer-
den könnte.
Sehen wir nun, wie sich diese in ihrer Durchsichtigkeit immerhin verständli-
chen Ziele in den Köpfen der agrarpolitischen Romantiker idealisieren. Sering
singt zunächst das Loblied dessen, der »durch gebundenen Besitz auf alle Zeiten
für sich
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 384
und seine Familie e i n e H e i m a t g e f u n d e n « h a b e . Das Hei-
matsgefühl der 1000 Fideikommißbesitzer ist aber teuer erkauft. Denn wie steht
es dabei mit dem Heimatsgefühl der übrigen Bevölkerungsschichten? Auf dem
Grund und Boden des Fideikommisses werden neben Proletariern nur Pächter
hausen, und soweit der Fideikommiß seinen Zweck, den Großbetrieb künstlich
zu erhalten, erreicht, konserviert es auch alle Folgen, die der Großbetrieb für das
Heimatsgefühl der ländlichen Bevölkerung hat. Welches diese sind, ergibt jede
Nebeneinanderstellung der Durchschnittsgrößen der landwirtschaftlichen Be-
triebe in vergleichbaren Gebieten mit der Quote der Landbevölkerung, die in
dem Kreise, in dem sie gezählt wurde, geboren war. Der Grad, in dem die länd-
liche Bevölkerung sich aus Leuten rekrutiert, denen die Stätte der Arbeit als ihre
H e i m a t gelten kann, ist ceteris paribus Funktion des Grades, in dem diesel-
be am B o d e n b e s i t z bzw. am selbständigen Landwirtschafts b e -
t r i e b beteiligt ist
1)
. Jedes Institut, welches
1)
Ein eingehender Nachweis läßt sich natürlich nur an der Hand der Zahlen für die ein-
zelnen K r e i s e führen, worauf hier verzichtet werden muß. Es ist in dieser Hinsicht vor-
ufig auf einige in den von mir herausgegebenen Arbeiten über die Landarbeiterverhältnisse
(Enquete d. Ev. Soz. Kongresses) gegebenen Zahlen zu verweisen. Einige Angaben mögen
ihnen immerhin beigefügt werden.
Es kamen z. B.
1885
auf 1 landwirtschaftlichen
Betrieb ha landw. Fläche
auf 100 Ortsanwesende
auf dem Lande Kreisgebürtige
im Reg.-Bez. Minden 3,8 90,7
« « Osnabrück 4,1 89,1
« « Hannover 4,6 81,9
« « Münster 5,2 81,8
Also: je größer der Durchschnitt der Betriebe, desto ortsfremder die Bevölkerung.
Diese 4 Regierungsbezirke sind ihrer untereinander nicht grundsätzlich abweichenden
Agrarverfassung wegen gehlt. Die einzelnen agrarischen K r e i s e der R h e i n -
p r o v i n z mit noch k l e i n e r e r Durchschnittsbetriebsfläche bewegen sich in noch
wesentlich höheren Zahlen, hie und da bis dicht an l00 %. Von den rheinischen Regierungs-
bezirken mit stärker agrarischem Charakter hat z. B. Koblenz mit 2,7 ha Durchschnittsfläche
88,7, Trier mit 3,3 % Durchschnittsfläche 86,6 % Kreisgebürtige.
In den Gegenden kapitalistischen Landwirtschaftsbetriebs stellt sich die Sache in einigen
Beispielen folgendermaßen:
Es betrugen 1885 die Kreisgebürtigen in Prozent in den:
rfern Gütern
im Reg.-Bez. Erfurt 89,4 59,8
« « Magdeburg 81,0 65,7
« « Merseburg 62,4 52,9
« « Liegnitz 79,6 55,8
« « Breslau 78,3 60,7
« « Oppeln 85,5 63,0
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 385
durch
künstliche Stützung des Großbesitzes und -Betriebes und seiner Erweite-
rung die Anteilnahme am Boden erschwert, g r ä b t d e m H e i m a t s -
g e f ü h l d e r L a n d b e v ö l k e r u n g d i e W u r z e l a b .
Die Fideikommisse, so meint nun Sering weiter, sollen »Pflegestätten einer
edlen Lebensführung« sein, indem sie »die Tugenden der Voreltern gewisser-
maßen verdinglichen«. Gesetzt, daß hinter diesem Satze irgend erhebliche Reali-
täten des Lebens steckten was dahingestellt bleiben mag –, so ßten die Fi-
deikommisse eben auf altpreußische »historische« Geschlechter und daneben
etwa auf Nachfahren unserer größten Staatsmänner und Feldherren beschränkt
bleiben
1)
. Sering selbst macht freilich wenig glücklich formuliert
2)
einige
Bedenken gegen
In Schlesien ist die Heimatsquote der P o l e n die größte. Die Oppelner Stellenbesitzer
sind ähnlich seßhaft wie die Erfurter Kleinbauern und die westdeutsche Bauernschaft. Dage-
gen stehen die Güter nicht nur überall tief unter den Dörfern, sondern auch tief u n t e r
den industriellen Landbezirken des Westens mit starkem Kleinbesitz es haben sseldorf
75,2 %, Arnsberg 72,4 %, Köln 85,0 %, Aachen 88,8 % Kreisgebürtige und ebenfalls
u n t e r dem Durchschnitt der meisten m i t t l e r e n Industriestädte, sowie wenn
man die Z u w a n d e r u n g s quote in Anrechnung bringt selbst der Großstädte wie z.
B. Berlins. Der l a n d w i r t s c h a f t l i c h e Kapitalismus steht in bezug auf Bevölke-
rungsmobilisierung a l l e n a n d e r e n v o r a n .
Aber auch im »patriarchalischen« Nordosten ist die Erscheinung überall dieselbe.
Die Zahlen waren z. B.
rfer Güter
im Reg.-Bez. Stettin 82,5 % 68,8 % Kreis-
« « Köslin 84,9 % 72,8 % gebürtige
und so fort.
1)
Niemand, der historisch empfindet, wird sich dem Gefühlswert einer »Verdinglichung«
solcher Reminiszenzen verschließen, obwohl ich gerade hier um Beispiele für den Satz, daß
der Apfel unter Umständen oder vielmehr auffallend oft s e h r weit vom Stamme fällt,
nicht verlegen wäre und obwohl es mir wie wohl den meisten nicht fraglich ist, daß z. B.
heute unsere tüchtigsten Offiziere, soweit sie überhaupt dem Adel entstammen, aus dem
Nachwuchs der oft sehr bescheiden bemittelten alten preußischen Offiziersfamilien, nicht aber
der reichen Fideikommißherren, noch weniger freilich aus den Parvenüfideikommißbesitzern
hervorgehen.
2)
Denn was soll es heißen, wenn Sering (S. 68) meint, der Besitzer solle Gelegenheit ge-
habt haben, sich »als guter Arbeitgeber« auszuweisen? Soll etwa ein Plebiszit der Instleute
oder Saisonarbeiter veranstaltet werden? Derartige rein dekorative Aeußerungen fordern doch
den Spott heraus. – Sering weiß übrigens so gut wie ich oder konnte es erfahren, daß z. B. die
Polenimportkonzessionen in den 90er Jahren von den letzten 5-6 Jahren weiß ich nichts
auch g e g e n das Votum der Dezernenten an notorisch » s c h l e c h t e « Arbeitgeber
gegeben wurden, wenn es sich um Leute handelte, die über parlamentarische Patronage oder
gesellschaftlichen Einfl verfügten. Wir haben a l l e Schäden des Parlamentarismus
ohne dessen Lichtseiten. – Und was die »nationale Ge-
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 386
das
Parvenü-Fideikommiß geltend und es entspricht durchaus meiner Ansicht,
wenn er mit energischen Worten eine gewisse Besitz d a u e r als Vorbedin-
gung zur fideikommissarischen Bindung festgelegt haben möchte, in der Tat
die einzig mögliche Schranke gegen das Ueberhandnehmen des Zusammenkaufs
von Boden ad hoc zum Zweck der Fideikommißbildung und späteren Erlangung
des Briefadels. Aber freilich: 10 (!) Jahre als eine solche Frist vorschlagen het
auch hier wieder »den Pelz waschen, ohne ihn naß zu mache. Denn z e h n -
jähriger Bodensitz steht tief unter der heutigen durchschnittlichen Besitzzeit der
von Sering an den Pranger gestellten »Besitzer ad interim«
1)
und selbst u n t e r
der üblichen P a c h t frist. Will man nicht bis auf 100 Jahre gehen, so ßte
doch mindestens Besitz seit mehr als zwei Generationen erfordert werden. Will
man aber jenen Anreiz n i c h t vermindern, dann ist es schon aufrichtiger,
von derartigen ostensiblen und dekorativen Bestimmungen abzusehen.
Aber Serings Schätzung der gewaltigen Bedeutung des Fideikommißinstitutes
erreicht ihren Höhepunkt erst in den nun folgenden Sätzen: »Kurz, die ratio der
Fideikommisse liegt in dem sittlich (!) politischen Wert aristokratischer Ueber-
lieferung und Gesinnung. In letzter Linie ist die Fideikommißgesetzgebung ...
ein Problem der n a t i o n a l e n C h a r a k t e r b i l d u n g « . Ungern
nimmt man in einer Zeitschrift wissenschaftlichen Charakters von solch vagen
Bemerkungen, die sich jeder wissenschaftlichen Diskussion entziehen, Notiz,
aber schließlich ist es nicht zu vermeiden, auch sie auf ihren Gehalt hin zu prü-
fen. Es hat nun zunächst die Meinung etwas Groteskes, dadurch, daß man, sagen
wir: 2000 (zum guten Teil voraussichtlich sehr neugebackene) Grundbesitzer
rücklings an je einige hundert oder tausend Hektar deutsche Erde festklebt, ih-
nen aristokratische Gesinnung und ihren Kindern aristokratische Traditionen
einzuflößen und durch diese 2000 Familien wiederum den »Charakter« der
N a t i o n mit dieser Gesinnung zu durchtränken. Kann man etwa behaupten,
die B a u e r n
sinnung« im Osten betrifft, von der Sering auch spricht (S. 67), so sind gerade die Fideikom-
mißgüter in der Provinz Posen, wie Wegener in seiner Schrift über den »Wirtschaftlichen
Kampf der Deutschen mit den Polenachweist, mit der Polonisierung ihrer Arbeiterschaft
an der Spitze marschiert.
1)
Vgl. den fher zitierten Aufsatz Kühnerts in der Zeitschr. d. Pr. Stat. B. 1902.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 387
des Ostens von den Landarbeitern zu schweigen seien in irgend einem Sinne
»Höhenmenschen?« Doch wohl eher das Gegenteil, verglichen mit anderen Ge-
bieten. Wenn irgendwo, dann ist ein, hier nicht weiter zu analysierendes, Etwas
von einer solchen Art Bauernstolz, wie ihn die agrarpolitischen Romantiker lie-
ben – und wer empfände in diesem Punkte nicht mit ihnen? – in dem früher auch
von ihnen mit so viel Liebe in den Vordergrund gestellten deutschen Nordwe-
sten, also Hannover und Teilen von Westfalen, zu Hause. Nun umfassen aber
gerade hier die Fideikommisse einen so kleinen Bruchteil der Fläche wie sonst
nirgends im preußischen Staate
1)
. Und ist es denn so wunderbar, daß sich ein
ähnlicher Bauernstolz im Osten generell gesprochen nicht resp. so s e h r
viel weniger findet? Wo die mittleren und größeren Bauern nicht nur in allen
Selbstverwaltungskörpern außer dem Dorf, dem der Gutsherr vornehm fern-
bleibt die Hand des Herrn über sich fühlen, wo den dicht gedrängt sitzenden
kleinen Leuten der rfer die breiten Flächen der Güter, durch eine staffellose
Lücke in der sozialen Stufenleiter geschieden, gegenüberstehen, und wir sa-
hen, daß, wie es ja auch selbstverständlich ist, die Fideikommisse diesen Zu-
stand f ö r d e r n , da könnte doch wohl auch nach Serings Ansicht nur ein
Schwätzer von einer »aristokratischen Gesinnung« reden, welche den B a u -
e r n jetzt innewohnte oder künftig, womöglich i n f o l g e der Zunahme der
Fideikommisse, innewohnen werde. Soziales und ökonomisches Gedrücktheits-
und Abhängigkeitsgefühl ist die einem solchen Zustand adäquate, keineswegs
immer klar bewußte, aber auf die D a u e r immer wieder wirksam werdende
Empfindung wobei man sich sehr wohl vor der Illusion hüten möge, daß dies
Gefühl etwa normalerweise und dauernd in p o l i t i s c h e r O b ö -
d i e n z leistung sich äußern werde –, im Gegenteil! Oder ist etwa der könig-
lich sächsische »Volkscharakter« in Stadt und Land durch die Geschlossenheit
der Rittergüter zu einem Vorbild deutschen Unabhängigkeitssinnes oder gar ir-
gendwelchen heroischer Tugenden entwickelt worden? Oder ist Sachsen ein
Vorbild von
1)
Andererseits gibt es dort eine ihrer verschwindend kleinen Fläche wegen sozialpoli-
tisch gänzlich belanglose Anzahl wahrer Karikaturen von Fideikommissen; so im Regie-
rungsbezirk Hildesheim ein Fideikommiß von 1 ha, anderwärts einige Dutzend Bauernfidei-
kommisse von 20-60 ha. Daher die relativ große Z a h l an Fideikommissen in der Provinz
(119) trotz gänzlichen Zurücktretens ihrer Bedeutung.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 388
»Staatsgesinnung« der Massen? Folglich kann es sich in der Tat nur um die
»aristokratische Gesinnung« der Fideikommißbesitzer s e l b s t und etwa ih-
rer Angehörigen handeln. Verweilen wir so trivial solche Erörterungen not-
wendig ausfallen müssen dennoch etwas bei diesem Punkt, da in Serings Be-
merkungen sich ja nur widerspiegelt, was sehr viele andere, und zwar ziemlich
ebenso unklar wie er, empfinden, bei der Frage also: was wird hier unter dem
Wort »aristokratische Gesinnung« an Realitäten des Lebens eigentlich vorge-
stellt?
Zunächst jedenfalls n i c h t ein besonders hoher Standard g e s c h ä f t -
l i c h loyaler und reeller Gesinnung. Den Tanz um das goldene Kalb in den
Gründerjahren haben diejenigen Schichten, welche das Hauptkontingent der Fi-
deikommißbesitzer stellen, in Preußen und Oesterreich weit stärker mitgemacht,
als irgendeine andere Volksklasse. Jeder Geschäftsmann, der mit den östlichen
Gutsbesitzern etwa als Getreidendler dauernd zu schaffen hatte, kann Se-
ring die Nachweise dar liefern, wie unendlich schwer es war und wenigstens
zum Teil bis heute ist, diese Herren zur Reellität im bürgerlichen Sinne zu erzie-
hen. Nicht deshalb weil sie schlechtere Menschen ren, sondern weil das, was
Sering in seiner Art »vornehme Berufsauffassung« nennt eine gewisse Nicht-
achtung strenger und nüchterner bürgerlicher Rechtlichkeit
1)
nun einmal in der
Luft liegt, in der sie leben. Ich persönlich habe zufällig in ziem-
1)
Seine Meinung über das Wesen des H a n d e l s schöpft der in ostelbischen Ein-
drücken aufwachsende junge aktive oder Reserveoffizier zum nicht geringen Teil aus den Er-
fahrungen mit Vieh- und Roß»täuschern« oder, wenn er Kavallerist ist, aus den Erfahrungen
beim Pferdekaufen »unter Kameraden«. Daß bei diesem letzteren, unbeschadet aller sonstigen
gesellschaftlichen Qualitäten der Beteiligten, der Satz »caveat emptor« in des Wortes verwe-
genster Bedeutung gilt, ist bekannt und eine kulturgeschichtlich leicht zu rubrizierende Er-
scheinung. Fürst Bismarck hat, wie bekannt, seine Vorstellung von dem Wesen der Han-
dels p o l i t i k nach Analogie solcher Eindrücke gebildet. Diese Nonchalance tritt auch
außerhalb des rein wirtschaftlichen Verkehrs überall in die Erscheinung. Jedermann weiß
w e n n er es wissen w i l l –, daß Personen, die nach ihren ökonomischen Antezedenzien
von jeder rse mit Protest ausgeschlossen würden, es in den agrarischen Organisationen
s o , w i e s i e h e u t e i n P r e u ß e n s i n d zu Ehren- und Vertrauensstel-
lungen bringen, ja auch in das Herrenhaus einziehen k ö n n e n . Der Agrarkapitalismus
auf dem Boden a l t e r Kulturländer ist eben unter den heutigen Verhältnissen dazu verur-
teilt, eine Mischung »seigneurialer« Prätensionen mit »bourgeois«mäßigem Trieb zum Golde
zu sein. Und in unserer Zeit der »mittleren Linie« findet dies seinen durchaus adäquaten Aus-
druck in einer Fideikommißgesetzgebung, welche diesen b e i d e n Trieben gerecht zu
werden trachtet.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 389
lich ausgedehntem Maße Gelegenheit gehabt, in der gerichtlichen und nament-
lich der hierin weit lehrreicheren Anwaltspraxis mit Fideikommißbesitzern zu
tun zu haben, darunter Namen, deren Klang jedem Kenner der preußischen Ge-
schichte das Herz im Leibe lachen macht. Es wäre gewiß höchst verwerflich, die
zum Teil kaum glaublichen Erfahrungen, die ich wie wohl recht viele, die in
gleicher Lage waren, dabei in immerhin auffallender Häufigkeit zu machen hat-
te, in irgendeinem Sinn zu generalisieren: damit geschähe vielen Hunderten
höchst ehrenhafter Familien ganz ebenso bitteres Unrecht, wie den Bankiers und
Börsenhändlern mit dem so beliebten Hinweis auf die im Gegensatz zu jenen
agrarischen Fäulnisprozessen – im vollen Licht der Oeffentlichkeit katastro-
phenartig sich abspielenden Bankbrüche zu geschehen pflegt. Aber eins steht,
für mich wenigstens, fest: nnte man diese Dinge überhaupt ziffernmäßig
schätzen und von »Durchschnitte reden, so nnte jedenfalls von einem
h ö h e r e n Geschäftsstandard gerade der Fideikommißbesitzer etwa gegen-
über der vielgeschmähten »Börse« in k e i n e m wie immer gedachten Sinn
auch nur im allerentferntesten die Rede sein
1)
.
Etwas anderes ist es, wenn man die ökonomische U n a b h ä n g i g k e i t
der Fideikommißbesitzer als ein Element von politischem Wert anspricht. Man
kann unter den verschiedensten Gesichtspunkten die Teilnahme ökonomisch un-
abhängiger Persönlichkeiten am politischen Parteileben die sozialdemokrati-
sche Partei wäre dabei nicht ausgenommen, vielmehr ein hervorragendes Bei-
spiel als außerordentlich bedeutsam für die Aufrechterhaltung politischer Ue-
berzeugungen gegenüber dem reinen
1)
Es mag überflüssig oder selbst kleinlich erscheinen, dies so ausführlich zu erwähnen.
Allein w i e sich die agrarische Welt in den Köpfen der Romantiker malt, dafür statt vieler
nur ein ergötzliches Beispiel: Der Entwurf bestimmt, in Anwendung bekannter Grundsätze
unseres bürgerlichen Rechts, in § 49: »Hat der Fideikommißbesitzer dem anderen Teile ge-
genüber der Wahrheit zuwider die Genehmigung des Familienrats behauptet, so ist der andere
Teil ... zum Widerruf berechtigtDazu bemerkt entrüstet Herr Dr. Wygodzinski (a. a. O. S.
60): »Den stärksten Ausdruck findet das Mißtrauen, mit dem der Entwurf augenscheinlich (!)
den Fideikommißbesitzer betrachtet, in § 49, wo ausdrücklich (!) der Fall vorgesehen ist, daß
der Fideikommißbesitzer lügtDann wäre es doch wohl an der Zeit, dem Reichsstrafge-
setzbuch, welches allen Reichsangehörigen ohne alle Standesunterschiede mehrere hundert
zum Teil höchst abscheuliche Straftaten zutraut, im Einführungsgesetz einen Artikel voraus-
zuschicken etwa des Inhalts: »Fideikommißbesitzer und andere Personen aristokratischer Ge-
sinnung bleiben von nachstehenden Vorschriften unberührt
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 390
Fraktionsopportunismus ansehen. Daß gerade der Fideikommißbesitz in d i e -
s e m Zusammenhang erheblich mitspiele, ist freilich sehr zu bezweifeln, da in
der konservativen Partei, der dies heute vornehmlich zugute me, gerade er
sich den gesellschaftlichen Einflüssen des Hofes am wenigsten entzieht. Er wür-
de eventuell eher in der staatlichen und militärischen Karriere wirksam werden
können. Um nun die Dinge etwas konkreter zu erörtern, so ist z. B. für jeden, der
die betreffenden Verhältnisse näher kennt möchten auch seine Ueberzeugun-
gen noch so »waschechdemokratische sein es keinem Zweifel unterworfen,
daß ein pekuniär unabhängiger, vermögender Beamter oder Offizier seine gro-
ßen Lichtseiten namentlich vom Standpunkt der ihm Untergebenen aus, also als
Vorgesetzter, hat. Jeder, der weiß, was ein »nervöse und opportunistischer
Oberst für ein Offizierkorps bedeutet, der etwa Gelegenheit hatte zu sehen, wie
außerordentlich diese seit 1888 epidemische »Nervosität« und Aengstlichkeit
bei sonst gleichen Charakterqualitäten naturgemäß durch Vermögenslosigkeit
g e s t e i g e r t wird, muß dies zugeben. Aber auch vom Standpunkt der sach-
lichen Interessen liegt die Sache vielfach ähnlich: selbst in der Tätigkeit etwa
von Fabrikinspektoren ist rücksichtslose Unabhängigkeit billiger für den vermö-
genden Mann. Nur ist wenigstens mir wiederum nichts davon bekannt, daß ge-
rade das F i d e i k o m m i ß hier eine nennenswerte Rolle spielte: die prosai-
schen Konsols taten es, soweit ich sehen konnte, auch, in gewissem Sinn sogar
noch besser. Und vor allem: damit das Fideikommiß diese Rolle spielte, ßten
eben die Fideikommißbesitzer s e l b s t in das Heer oder die höhere Beamten-
schaft eintreten, könnten also unmöglich die Rolle von »Rückenbesitzern« spie-
len wollen, müßten namentlich auch wirklich »sturmfreie« g a n z gre Be-
sitzer sein, die 12 000 Mk. Gehalt leicht verschmerzen nnen. Es men
sonst ja nur die S e i t e n v e r w a n d t e n der Fideikommißbesitzer in Be-
tracht und mit ihnen dürfte die Sache wohl so liegen, daß nicht sowohl der Staat
auf sie, als sie auf den Staat angewiesen sind und schwer ersichtlich ist, woher
bei ihnen ein spezifisches Unabhängigkeitsgefühl kommen sollte. Daß es zahl-
reiche Gesichtspunkte gibt, unter denen die Rekrutierung des Beamtentums aus
einem Nachwuchs, der nicht ausschließlich oder auch nur sehr stark vorwiegend
in s t ä d t i s c h e r Luft aufgewachsen ist, erwünscht erscheinen kann, ist
(m. E.) gänzlich
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 391
unbestreitbar. Aber es wäre wiederum geradezu grotesk, heute eine Gefahr zu
sehen, daß in irgendwelchen noch so großen Zeiträumen jener Zustand eintreten
könnte. Der g e g e n t e i l i g e Zustand eine Beamtenschaft, die den brei-
ten Schichten der modernen bürgerlichen und Arbeiterklassen kenntnis- und
versndnislos und mit nichts als einer unklar empfundenen agrarisch gefärbten
Antipathie gegenübersteht ist doch wohl sehr viel her daran verwirklicht zu
werden. Daß die A n g e h ö r i g e n von Fideikommißbesitzern sich je durch
Entwicklung besonderer Charakterqualitäten ausgezeichnet hätten, ist mir unbe-
kannt. Urteile mit dem Anspruch auf generelle Geltung ren hier ungerecht
gegen die zweifellos zahlreichen vortrefflichen e i n z e l n e n Persönlichkei-
ten dieser Art, aber unter sonst gleichen Verhältnissen ist es an sich wahrschein-
lich und stimmt, soviel mir bekannt, mit zahlreichen Erfahrungen, daß das Be-
wußtsein, bei gleichen oder selbst geringeren Leistungen unbedingt einer b e -
v o r z u g t e n Behandlung in der Beförderung sicher zu sein und daß dem
so ist, wird vielleicht einmal vom Ministertisch, nie aber unter vier Augen
bestritten werden seine Wirkung nicht zu verfehlen pflegt. Eine noch weitere
Steigerung der Schwerkraft der privilegierten Talentlosigkeit in der preußischen
Verwaltung kann heute wahrlich niemand für ein Bedürfnis ansehen. Und von
den alten preußischen »Traditionen« ist heute in Preußen nicht mehr viel übrig
sie leben, wie auch der entschiedenste Feind jedes »Partikularismus« anerken-
nen muß, in manchem kleineren Staat reiner fort als in Preußen und sind etwas
ganz anderes als was h e u t e dort so genannt wird. Vollends die Produkte des
modernen Parvenü-Fideikommisses sind wahrlich nicht ihre Tger. Sie sind
vielmehr wiederum ohne erfreuliche E i n z e l ausnahmen irgendwie zu
bestreiten man kann sagen: notorisch und aus sehr versndlichen Gründen,
dazu prädisponiert, die eifrigsten (aber allerdings nicht die einzigen) Vertreter
jener immer weiter um sich greifenden absolut charakter- und gesinnungslosen
»Schneidigkeit« zu werden, welche ihre »Satisfaktionsfähigkeit« in der Presse
affichiert und dies, verbunden mit dem läppischsten Mandarinenhochmut im
dienstlichen Verkehr nach »unten«, als »preußische Traditiooder, wie man-
che elsässischen Beamten preußischer Provenienz es in den 80er Jahren in stol-
zem Ueberlegenheitsgefühl ihren badischen Kollegen gegenüber taten, als
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 392
»preußische Verwaltungspraxis« auszugeben. Der Fehler liegt eben nicht darin,
daß jene Herren zu »vornehmer« Abkunft wären, sondern darin, daß sie es
n i c h t sind. Die breite Masse der bürgerlichen Beamten sucht ihren bürgerli-
chen Ursprung zu vergessen, ohne es zu können. Das Mittel des Reserveoffiziers
und Korpsstudentenwesens
1)
dient zur Aneignung gewisser äußerer Formen der
Schichten, zu denen man sich gern hlen möchte, ohne doch das Parvenügefühl
ganz zu beseitigen. Je mehr die autoritäre Position, in die sich der moderne
preußische Beamte dieses Schlages den »Untertanen« gegenüber gestellt fühlt,
von diesen letzteren und, im Grunde seines Herzens, auch von ihm selbst, als
Prätension empfunden wird, um so mehr wird sie betont. Vorurteilslose Mitglie-
der des heutigen preischen Beamtentums pflegen die Degeneration der alt-
preußischen Tradition zu jenem charakterlosen, nach unten »schneidigen«, nach
oben geschmeidigen »Assessorismus« der Gegenwart mit seiner überzeugungs-
losen Pflege der rein formalen »Staatserhaltung« ohne alle inhaltlichen Ziele
2)
stets zuzugeben, mit dem
1)
Für viele sind diese studentischen Verbindungen ja keineswegs in erster Linie Pflege-
stätten studentischer Ehre und Sitte, sondern einfach Avancementsversicherungsanstalten. Die
kümmerlichsten Sprößlinge deutscher Geheimrätinnen oder auch Kommerzienrätinnen müs-
sen darin den bei der heutigen Praxis recht bescheidenen »Mut« prästieren, sich durch einige
Narben abstempeln zu lassen, weil mir sind selbst solche Fälle wiederholt von den betref-
fenden besorgten Eltern geklagt worden – es für die »Konnexionen« unentbehrlich ist. – Aber
schlimmer ist, daß dies Treiben nunmehr die T e c h n i k e r und, wie es fast scheint
wenigstens Anfänge dazu sind bemerkbar auch die Zöglinge der Handelshochschulen er-
greift. Die Vermutung, daß mit der Gründung der letzteren zuweilen in e r s t e r Linie
nicht dem W i s s e n s bedürfnis der Kaufleute, sondern ihrem Wunsch, an der p a t e n -
t i e r t e n »akademischeBildung teilzunehmen, dadurch »satisfaktionsfähig« und damit
u. a. auch reserveoffizierfähig zu werden, entgegengekommen werden soll, ist leider recht na-
heliegend. Ich kann mich den vortrefflichen Bemerkungen von W i t t i c h in seinem Auf-
satz »Deutsche und französische Kultur im Elsaß« nur anschließen. Daß wir uns mit einer
E n t w ö h n u n g von der intensiven Arbeit, wie sie dies »akademische« Treiben heute
regelmäßig mit sich bringt, als M a c h t neben den gren Arbeitsvölkern der Erde, spezi-
ell den Amerikanern, auf die Dauer behaupten, ist mehr als fraglich. Feudale Prätensionen er-
setzen den Geist rücksichtsloser bürgerlicher Arbeit nicht. Der Begriff der »Satisfaktionsfä-
higkeit« übrigens, speziell in seiner wechselnden Beziehung zu den in Deutschland k l a s -
s e n bildenden Bildungspatenten (Maturität, Einjährigenzeugnis usw.) wäre seiner ganz er-
heblichen Kulturbedeutung wegen einer historischen Spezialuntersuchung wohl wert.
2)
In »idealtypischer« Reinheit spricht sich dieser Banausenstandpunkt auch in dem fol-
genden schönen Satz der Motive (S. 17) aus: »Denn für ein gesetzgeberisches Vorgehen n-
nen nicht allgemeine philosophische Erwägungen, sondern nur die Rücksichten auf die tat-
sächlichen Verhältnisse maßgebend
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 393
typischen
Zusatz: »Aber die Bürgerlichen sind immer die schlimmsten.« Gewiß:
Bürgerliche mit feudalen Prätensionen, eben solche, wie sie der Fideikomm-
entwurf in Reinkultur massenhaft züchten will.
Es gibt m. E. schlechthin keinen Gesichtspunkt, unter welchem die weitere
Durchsetzung des preußischen Beamtentums mit jenem Typus der »Gernegro-
ße als ein Gewinn erscheinen nnte. Durch die Zulassung zahlreicher
k l e i n e r e r Fideikommgründungen vollends wird nicht »aristokratische
Gesinnung« in irgend einem Sinn des Wortes erzeugt, sondern wie immer
wieder gesagt werden muß es werden Familien, die nach ihren Einkommens-
verhältnissen auf bescheidene bürgerliche Lebensführung hingewiesen ren,
mit feudalen Prätensionen erfüllt. Die Möglichkeit b ü r g e r l i c h e r und
briefadliger Fideikommißgründung überhaupt aber lenkt, indem sie die verächt-
lichste Eitelkeit kitzelt, das bürgerliche deutsche Kapital von dem Wege öko-
nomischer Eroberungen in der weiten Welt in verstärktem Maße auf die Bahn
der Schaffung von R e n t i e r s existenzen, die ohnehin im Zuge unserer pro-
tektionistischen Politik liegt.
Denn R e n t e n schutz ist ja die Signatur unserer Wirtschaftspolitik. Wel-
chen allgemeineren Gesichtspunkten sich die Konsequenzen dieses Systems fü-
gen, ist hier nicht zu erörtern. Nur auf einen Punkt, der auch in unseren Zusam-
menhang gehört, sei hingewiesen. Die Gefahren des sog. »Industriestaates«:
»Abhängigkeit« vom fremden M a r k t bei industriellem Export, von fremder
Zahlungsbereitschaft beim Kapitalexport, von fremden
sein.« Es möchte freilich wenig Erspriliches an den Tag kommen, wenn der Verfasser
dieses Sentiments sich auf das Philosophieren verlegen würde. Aber man möchte gern wissen,
was unter »Rücksichtnahme auf die tatsächlichen Verhältnisse« verstanden ist es sei denn
ganz einfach die Rücksicht auf die im Preußischen Landtag ausschlaggebenden Interessen des
Agrarkapitalismus. Vermutlich liegt die übliche Anspielung auf die »Realpolitik« darin, wie
man sich denn in Deutschland regelmäßig d a n n auf Bismarck zu berufen pflegt, wenn es
sich um ein Feigenblatt für die ödeste Ideal- und Gesinnungslosigkeit handelt. Es mag hier,
am Schluß unserer Betrachtungen, doch dem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben werden,
daß das preußische Landwirtschaftsministerium, welches doch mindestens über e i n e wis-
senschaftlich ausgezeichnet geschulte und verdiente Kraft verfügt, die Abfassung der wirt-
schaftlichen Teile der »Motivdieses Entwurfes offenbar irgendeinem llig unreifen An-
fänger überlassen konnte. Der Kontrast gegen die bei allen auch in dieser Hinsicht beste-
henden Bedenken scharf und gründlich durchdachten, rein juristischen Parteien ist geradezu
blamabel. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, diesen Plattheiten gegenüber überall höflich zu
bleiben.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 394
Getreideüberschüssen bei beiden, da beide den Getreideimport mit sich ziehen
pflegen düster und in den lächerlichsten Uebertreibungen geschildert zu werden.
Unsere Wirtschaftspolitik sperrt das ausländische Korn aus – und läßt das eigene
durch Hunderttausend ausländische M e n s c h e n mitproduzieren, die im-
portiert werden und ohne welche ein großer Bruchteil der Großbetriebe des
Ostens, eben derer, welche die großen Getreideüberschüsse liefern, heute nach
ihrer eigenen Behauptung nicht mehr bestehen können. Ein Federstrich der rus-
sischen Regierung ist also imstande, sie zu Boden zu schleudern, und ich möchte
denn doch eine Form der »Abhängigkeit vom Ausland« kennen lernen, die an
verhängnisvoller Tragweite an diese heranreichte. Eine Politik, welche diese
Großbetriebe k ü n s t l i c h zu stützen sucht, wie der Entwurf es will, ver-
knechtet uns russischer Polizeiwillkür. Daß hier keine Gespenster an die Wand
gemalt werden, haben gewisse, nach meinem Gefühl für uns entwürdigende
Vorgänge, die sich abspielten als ein russisches Sachsengängerverbot zu drohen
schien, jedem, der sehen w i l l , deutlich genug zeigen nnen
1)
. Dem politi-
schen System, unter dem wir zu leben haben: der internationalen Solidarität
der »staatserhaltenden« Interessen, welche uns, durch imaginäre dynastische und
sehr materielle kapitalistische Interessen getragen, zu einem Vasallenstaat ma-
chen w i r d und der Geringschätzung der Welt preisgegeben h a t diesem
System fügten sie sich nur zu gut ein. Wer aber die beneidenswerte Stirn besitzt,
eine solche Politik im Gegensatz zu i r g e n d einer anderen eine » n a t i o -
n a l e « zu nennen, mit dem mag diskutieren, wer Zeit und Lust zu dem Ver-
such hat, die ekelerregende Herrschaft der » k o n s e r v a t i v e n P h r a -
s e « bei Leuten zu bekämpfen, deren materielles Interesse damit verknüpft ist,
daß sie selbst oder daß wenigstens diejenigen, »deren kein Ende ist«, an diese
Phrasen glauben.
Möchten schließlich die politischen Gründe für die Beibehaltung der fidei-
kommissarischen Sicherung eines gewissen Bestandes großgrundbesitzlicher
Familien noch so gewichtige sein
1)
Bei dem heutigen Gang unserer Politik würde es nicht überraschen, wenn man uns – un-
ter Berufung auf den italienisch-französischen Vertrag – unter der Etikette »internationale So-
zialpolitik« ein Abkommen mit Rußland bescherte, durch welches gegen Konzessionen!
die Russen den Gutsbesitzern die vertragsmäßige S i c h e r h e i t geben würden, Polen
zu importieren. – In dieser Hinsicht ist heute schlechthin a l l e s möglich.
Agrastatist. u. sozialpol. Betrachtungen z. Fideikommißfrage in Preußen. 395
und wir haben uns n i c h t davon zu überzeugen vermocht, daß dies unter
den h e u t i g e n Verhältnissen unter i r g e n d welchen Gesichtspunkten
der Fall sei, so würde es dennoch unter a l l e n Umsnden j e t z t hohe
Zeit sein, das »goldene Buc zu s c h l i e ß e n . Mehr als der Flächeninhalt
einer g a n z e n P r o v i n z ist jenen angeblichen Interessen bereits geop-
fert: das m u ß auch dem extremsten Fanatiker für dies Institut genügen. Der
vorgelegte Gesetzentwurf aber, anstatt m a t e r i e l l e Schranken zu schaffen
gegen die Gelüste des Kapitals, Boden als Rentenfonds zu Nobilitierungszwek-
ken aufzuhäufen, frönt in dieser Hinsicht dem gewissenlosesten »Manchester-
tum«, offenbar in der dunklen Vorstellung, durch Bindung des Bodens und No-
bilitierung seiner Besitzer an die Stelle des unbequemen Geschreies agrarischer
Interessenpolitiker von heute bequeme und satte Parvenüs zu setzen, die das Be-
dürfnis haben, sich in der Gnade des Hofes zu sonnen. Ob auch nur d i e s e
natürlich unausgesprochene Hoffnung auf dem betretenen Wege zu erfüllen
wäre, bleibe hier dahingestellt. Es genügt, konstatiert zu haben, daß die Auslie-
ferung der b e s t e n Böden an die Eitelkeits- und Herrschaftsinteressen des
Agrarkapitalismus das Ergebnis der vom Entwurf sanktionierten m a t e r i -
e l l e n Fideikommißgründungsfreiheit einem Lebensinteresse der Nation:
dem an einer z a h l r e i c h e n und k r ä f t i g e n B a u e r n b e v ö l -
k e r u n g , jede Zukunft abgräbt.
396
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins
für Sozialpolitik (1905, 1907, 1909, 1911).
Debatterede zu den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik
in Mannheim 1905 über das Arbeitsverhältnis in den privaten
Riesenbetrieben.
... Der Herr Vorredner
1)
sprach sein Erstaunen darüber aus, daß es nach dem
»sittlichen Standard« der deutschen Arbeiter möglich gewesen sei, daß 195 000
Arbeiter unter Bruch des Kontrakts ohne Kündigung die Arbeit niederlegten
2)
. In
der Tat: eine sehr auffallende Erscheinung! Weit auffallender aber als sie selbst
ist, was nun weiter geschah: der Reichskanzler, die Staatsregierung, die öffentli-
che Meinung, die politischen Parteien ohne Ausnahme – die Konservativen
nicht ausgeschlossen: erst als die Angst ihnen aus den Gliedern genommen war
durch die Wiederaufnahme der Arbeit, besannen sie sich eines anderen haben
sich durch diesen Kontraktbruch nicht gehindert gefühlt, den Versuch zu ma-
chen, einen Druck auf die Arbeitgeber auszuüben, und aus dem Streik nicht die
Konsequenz eines Vorgehens gegen die Arbeiter, sondern eines solchen gegen
die Interessen der Arbeit g e b e r herzuleiten. Es scheint also, daß nach ihrer
Ansicht die Sache so lag: Wenn diese 195 000 Arbeiter unter Bruch der Kündi-
gungsfrist die Arbeit niedergelegt haben, um so schlimmer für die Kündi-
gungsfrist. Es entspricht eben, das scheint mir daraus hervorzugehen, nicht mehr
dem modernen Rechtsbewußtsein, daß ein Vertrag, der ein einseitiger Unterwer-
fungsvertrag ist, durch irgendwelche Kündigungsfrist zugunsten der Exploiteurs,
die sich auf den Machtstandpunkt stellen, rechtlich gesichert wird, und wenn ich
für meine Person daraus eine Konsequenz ziehen soll, so nnte es nur die sein:
daß durch Gesetz die Möglichkeit beseitigt werden sse, den Arbeiter über-
haupt an irgendwelche Kündigungsfristen zu binden, es sei denn, daß der Kon-
trakt auf Grund eines T a r i f vertrags geschlossen wird. Dies ist meine persön-
liche Stellung zu dieser Bemerkung über den sittlichen Standard der Arbeiter.
Nach dem, was hier über die Arbeiter
1)
Alexander Tille, Generalsekretär der Saarindustrie und Vertreter der Arbeitgeberinteres-
sen.
2)
Bergarbeiterstreik in Rheinland und Westfalen.
Ueber das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben. 397
gesagt worden ist, würde ja jedenfalls auch der Herr Reichskanzler nicht mehr
zu den sittlich voll qualifizierten Personen gehören dürfen; denn er hat den Kon-
traktbruch zwar mit Worten, aber worüber der Herr Vorredner selbst gewiß
mit mir der gleichen Meinung ist – nicht mit Taten mißbilligt.
Nun verlasse ich aber den Herrn Vorredner, um zu etwas allgemeineren Be-
trachtungen innerhalb der kurzen Zeit, die ich habe, überzugehen. Wenn man
sich über derartige sozialpolitische Dinge, wie die heute hier zur Debatte ste-
henden, verständigen will, so muß der einzelne vor allen Dingen sich klar sein,
welches denn der entscheidende Wertgesichtspunkt ist, von dem aus er persön-
lich die Erscheinung, um deren gesetzgeberische Behandlung es sich handelt,
betrachtet. Ich konstatiere nun, daß für mich ausschließlich die Frage in Betracht
kommt: Was wird »charakterologisc um das modische Wort zu gebrauchen
aus den Menschen, die in jene rechtlichen und faktischen Existenzbedingun-
gen hineingestellt sind, mit denen wir uns heute beschäftigen? Und diese Seite
der Sache möchte ich durch eine kleine Parallele des heren veranschaulichen.
Während des venezolanischen quasi-Kriegs erschien in einer venezolanischen
Zeitung eine Erklärung einer deutschen Kolonie, welche dem Präsidenten Castro
ihr Vertrauen aussprach und die venezolanische Nation um Verzeihung bat für
die Taktlosigkeit und Gewalttätigkeit, die vermöge seines barbarischen Regimes
von seiten Deutschlands an einem so zivilisierten Volk wie den Venezolanern
verübt worden sei. Kanaillen, werden Sie sagen. Gut; in den Zeitungen des
Saarreviers, im Tätigkeitsbereich also des Herrn Dr. Tille, erscheinen gelegent-
lich der Reichstagswahlen durchaus regelmäßig Annoncen, in welchen sich
Bergleute öffentlich verwahren gegen den Verdacht, für eine bestimmte Partei,
z. B. die Zentrumspartei, gestimmt zu haben. Kanaillen! sage ich, gleichviel um
welche Partei es sich handelt. Ich frage Sie aber: Wer erzieht denn diese Leute
zu Kanaillen? Nicht die ehrenwerten Staatsbürger hier, mit denen wir heute uns
streiten, wohl aber das System, welches sie im Saarrevier und anderwärts vertre-
ten. Ich selbst z. B. kenne das Saarrevier und die Stickluft sehr wohl, welche je-
nes System dort verbreitet nicht für Sie, Herr Dr. Tille, und die Ihrigen, wohl
aber r andere, und zwar nicht nur für Arbeiter, sondern für jeden, der es wagt,
in einer Art politisch tätig zu sein, die diesen Herren mfällt. Bei Gymnasialleh-
rern und Beamten, bei allen, mit denen ich seinerzeit in Berührung kam, stand
fest, daß alles, was Staatsbehörde heißt, bis zum Oberpräsident hinauf, nach der
Pfeife dieser Herren tanzte, jede Selbständigkeit der Ansicht die Gefahr der Ver-
setzung oder Maßreglung brachte. Die einzige Macht, die unter diesen Umstän-
den überhaupt einen Rückhalt bietet, ist die katholische Kirche, vertreten z. B.
durch Leute wie den Kaplan Dasbach, nicht aber der Staat. Der preußische Staat
und das autoritäre System erziehen solche Kanaillen, wie sich damals in Vene-
zuela manifestierten. Und nicht nur dort wirkt dieses System depravierend und
charakterschwächend. Ich
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 398
könnte Ihnen bei genügender Zeit im einzelnen analysieren, nach meinen eige-
nen Eindrücken im Auslande, wie groß die Nachwirkung der Fluch, möchte
ich geradezu sagen des autoritären Empfindens, des Reglementiert-, Kom-
mandiert- und Eingeengtseins, welchen der heutige Staat und das heutige Sy-
stem der Arbeitsverfassung im Deutschen erhält, und wie darin z. B. die Schwä-
che der Deutschen in Amerika, die geringe werbende Kraft unserer reichen Kul-
tur mitbegründet liegt, wie die Verachtung des Deutschen in der ganzen Welt
herrührt von den Charaktereigenschaften, die eine gedrückte Vergangenheit ihm
aufgeprägt hat und der Druck des autoritären Systems in ihm verewigen möchte.
Und warum nun eigentlich? Ich kann das nicht ausführlich erörtern, namentlich
nicht, inwieweit die selbstverständlich bis zu einem gewissen Grade berechtigte
Behauptung der Herren Arbeitgeber zutrifft, daß ihnen die allerverschiedensten
technischen und ökonomischen Schwierigkeiten durch das Vorhandensein von
Gewerkvereinen gemacht würden. Ich kann nur darauf hinweisen, daß die hoch-
stehenden Industrien der Welt in England und Amerika trotz aller Schwierigkei-
ten eben im Erfolge doch damit vorzüglich auskommen. Es liegt das zum guten
Teil nicht in ökonomischen Notwendigkeiten, sondern in unseren deutschen
Traditionen. Meine verehrten Anwesenden! Wer die Wirkung unseres Gebarens
auf die ausländischen Nationen, mit denen wir in der Politik zu rechnen haben,
betrachtet, bemerkt leicht, wie unsere gegenwärtige Politik nicht selten den Ein-
druck erweckt und erwecken muß, daß sie nicht etwa die Macht, sondern vor al-
lem den Schein der Macht, das Aufprotzen mit der Macht sucht. Und wenn die
Welt darin etwas Parvenümäßiges findet parvenus de la gloire, wie die Fran-
zosen nicht ganz mit Unrecht sagen –, so teile ich diese Empfindung und möchte
hinzufügen: So etwas steckt auch unseren Arbeitgebern im Blute, sie kommen
über den Herrenkitzel nicht hinweg, sie wollen nicht bloß die Macht, die gewal-
tige, faktische Verantwortung und Macht, die in der Leitung jedes Großbetriebes
liegt, allein nein, es muß auch äußerlich die Unterwerfung des anderen doku-
mentiert werden. Bitte, sehen Sie sich nur einmal den Dialekt einer deutschen
Arbeitsordnung an! »Wer das und das tut, der wird bestraft«, »wer das und das
tut, bekommt erstmalig einen Verweis, zweitmalig eine Geldstrafe usw.«; man
kann nur sagen: es ist Schutzmannsjargon, der da in einem Kontraktverhältnis,
als welches doch gerade die Herren Arbeitgeber die Beziehungen ansehen, gere-
det wird.
Es könnte auch anders formuliert werden, und es ist anderwärts anders formu-
liert worden. Aber gerade dieser Tonfall ist es ja, der, so scheint es, den eigen-
tümlichen psychischen Reiz bildet. Und wie in diesen, wenn Sie wollen, Klei-
nigkeiten, so im Großen. Diesen Herren steckt eben die Polizei im Leibe, und je
weniger der deutsche Staatsbürger offiziell im Deutschen Reiche politisch zu
sagen hat, je mehr über seinen Kopf hinweg regiert wird, je mehr er Objekt der
Staatskunst ist und nichts anderes, desto mehr will er da, wo er nun einmal pater
familias ist – und das ist er eben auch im Riesen-
Ueber das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben. 399
betriebe –, denjenigen, die unter ihm sind, zeigen, daß er nun auch einmal etwas
zu sagen hat und andere zu parieren haben. Dieser spießbürgerliche Herrenkitzel
hat wieder und wieder die Nation Millionen und Abermillionen gekostet, er ist
es auch, der den Charakter unserer Arbeiterbevölkerung verfälscht, und in diese
Kategorie gehört auch, und damit komme ich zum Thema des heutigen Tages,
unser geltendes Arbeiterrecht. Bei dem Kongreß unseres Vereins in ln hat
jemand, ich glaube Herr Professor Jastrow, gesagt: Wenn heute ein Streikender
zu einem Arbeitswilligen sagt: streikst du nicht mit, so tanzt meine Auguste
nicht mehr mit dir, so macht er sich strafbar. Das ist kein Scherz, sondern wört-
lich geltendes Recht, und ich möchte den Juristen sehen, der es zu bestreiten
vermag. Die Tatsache nun, daß es ein solches Recht in Deutschland gibt, ist
nach meiner subjektiven Empfindung nichts anderes als eine Schande. Es ist ein
Recht für alte Weiber. Es schützt die Feigheit. Denken Sie zum Vergleich an die
Umgrenzung, die das mische Recht, das Recht des männlichsten Volkes der
Erde, der rechtlichen Wirkung der Bedrohung gegeben hatte: metus qui in con-
stantissimum virum cadere potest, Drohungen, die auch den furchtlosesten und
standhaftesten Mann beeinflussen nnen, gelten als rechtlich irrelevant. Es ist
unmöglich, ein solches Recht wie das unsrige in irgendeinem Sinne zu halten,
und ich bin der Meinung, daß etwas Zweifaches unbedingt geschehen muß,
wenn man diesen Paragraphen nicht einfach über Bord werfen und sich auf den
Boden des gemeinen Strafrechts stellen will, welches ja Bedrohung mit einem
Verbrechen und Erpressung ohnehin vollkommen genügend unter Strafe gestellt
hat. Will man darüber hinausgehen, dann kann nur Bedrohung mit einem unmit-
telbar präsenten materiellen Schaden in Frage kommen. Das zweite ist zu mei-
ner Freude ist Herr Geheimrat Brentano bereits darauf eingegangen : die
schneidende Einseitigkeit des heutigen Rechts, daß zwar der sog. Arbeitswillige,
der alle Vorteile des Streiks genießt, aber sie nicht bezahlen, sondern den Kämp-
fern in den Rücken fallen will, den Schutz des Rechts genießt also die Gesin-
nungslosigkeit und der Mangel an kameradschaftlicher Ehre geschätzt wird –,
daß es aber auf der anderen Seite den Arbeitgebern unbenommen bleibt, dem
Arbeiter mit der Kündigung zu drohen, wenn er von seinem Koalitionsrecht Ge-
brauch machen will, ohne daß dieser strafrechtlichen Schutz genösse. Die Forde-
rung einer Strafbestimmung für diesen Fall ist doch eine ganz selbstverständli-
che, solange irgendein Ausnahmerecht zugunsten der Arbeitswilligen besteht.
Nun, verehrte Anwesende, komme ich noch zu den großen Fragen, die Herr
Professor Brentano am Schluß seiner Thesen angeschnitten hat. Ich glaube, daß
diese Zwangsorganisation, wie er sie vorschlägt, nur als ein Wechsel auf eine
ziemlich ferne Zukunft akzeptabel ist. Augenblicklich würde ich sie für recht
bedenklich halten. Denn wenn man sich die Sache praktisch vorstellt, kommt sie
doch darauf hinaus, daß der Staat im Falle des Ausbruchs einer Arbeitsstreitig-
keit zu-
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 400
nächst einmal einfach alle Betriebe sistiert – sonst hat ja die Zwangsorganisation
keinen Sinn. Er verbietet also dann nicht nur allen Arbeitern des Gewerbes, auch
wenn sie weiterarbeiten wollen, die Arbeit fortzusetzen, sondern er verbietet
auch allen Arbeitgebern, welche den Arbeitern entgegenkommen wollen, dies
ohne gemeinsamen Beschluß zu tun. Das letztere ist in gewissen Sinne ja frei-
lich einfach die offizielle Dekretierung dessen, was wir von seiten der Arbeitge-
berverbände annähernd schon jetzt erleben. Der Staat schafft dadurch unzwei-
felhaft sowohl die Arbeitswilligen wie alle übrigen Schwierigkeiten auf sehr ein-
fache Weise aus der Welt und sagt: nun: bitte, jetzt wird einfach gewartet, wer
von beiden es am längsten aushält! Von Herrn Dr. Naumann sind ja nun bereits
die heutigen Chancen des Ausgangs dergestalt staatlich reglementierter Mensu-
ren nach gewissen Richtungen hin indirekt mitkritisiert worden. Mich interes-
siert aber noch etwas weiteres an der Sache: Wie soll man sich eigentlich das
Weiterbestehen der Gewerkvereine bei solchen Zuständen denken? Wozu die-
nen sie noch? Nur dazu etwa, daß die nichtorganisierten Mitglieder des Zwangs-
verbandes es in der Hand haben, zu beschließen: es wird gestreikt, wenn sie se-
hen, daß die Gewerkvereine volle Kassen haben, und diese dann die Kosten be-
zahlen lassen? Es kommt noch etwas anderes hinzu: Wenn wir uns auf den Bo-
den der Zwangsorganisation stellen, dann wird unbedingt eines eintreten: das
Eindringen rein politischer Gesichtspunkte in das Streikwesen. Es ist ja Herrn
Dr. Naumann gewiß zuzugeben, daß wir heute bereits auf dem Wege zum politi-
schen oder doch zum sozialpolitischen Demonstrationsstreik sind. Wir sind aber
noch nicht soweit, daß der politische Streik alleinherrschend oder auch nur
überwiegend ist. Wenn aber eine Zwangsorganisation besteht und sie den Streik
beschließt, so wird dasselbe geschehen, was in den Kommunen und anderen
Zwangskörperschaften auch geschieht: die gewaltige Attraktionskraft der politi-
schen Parteien wird es sein, welches alles andere über den Haufen rennt, und die
Frage, ob gestreikt wird oder nicht, wird aus parteipolitischen Gesichtspunkten
und nicht aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten beantwortet werden. Das Inter-
esse an den Gewerkvereinen aber wird dahin sein: man hat ja nun den
Zwangsverband –, und auch für diesen wird, zumal wenn er Zwangsabgaben
eintreibt, um zu existieren, wenig aktive Begeisterung aufkommen können.
Ich persönlich stehe ganz offen auf dem Standpunkt, daß, gleichviel ob die
Gewerkvereine viel oder wenig faktisch im offenen Kampf erreichen, sie für
mich einen Eigenwert darstellen. Sie sind z. B. und das ist für mich das Ent-
scheidende die einzigen, die innerhalb der sozialdemokratischen Partei, mit
der wir für Generationen als gegeben zu rechnen haben, und die für lange hinaus
allein die Erziehung der Massen in der Hand hat, sich nicht geduckt haben und
die den Idealismus gegenüber dem Parteibanausentum aufrechterhalten. Die
Gewerkschaften werden die Partei nicht sprengen, daran ist nicht zu denken, das
ist eine lächerliche Illusion. Jeder,
Ueber das Verhältnis der Kartelle zum Staat. 401
der mit Arbeitern verkehrt hat, weiß, daß der tägliche Kleinkrieg mit dem preu-
ßischen Staat und seiner Polizei sie zwingt, die Partei hinter sich zu haben, daß
die Partei erfunden werden müßte im Interesse der Gewerkschaften, wenn sie
nicht da re. Aber sie werden hindern, d diese Partei die Wege nimmt, die
das amerikanische Parteileben genommen hat. Der einzige Hort idealistischer
Arbeit und idealistischer Gesinnung innerhalb der sozialdemokratischen Partei
sind und werden, unter unseren deutschen Verhältnissen, sein: die Gewerkschaf-
ten. Darum lehne ich jeden Vorschlag ab, der ihr Wesen bedroht, gleichviel ob
er sich auf materielle Interessen der Arbeiter beruft.
Ebendaselbst zu dem Vortrag G. Schmollers über das Verhältnis
der Kartelle zum Staat.
Ich habe lediglich deshalb das Wort ergriffen denn alles Wesentliche, was
ich sagen wollte, ist gestern gesagt worden –, um noch einige Einwürfe gegen
die Vorschläge zu machen, die unser verehrter Herr Referent gemacht hat. Es ist
sehr viel leichter, meine Herren, das schicke ich voraus, einen einmal vorliegen-
den Vorschlag zu kritisieren, als selbst einen solchen zu machen, und wir alle
ssen dem Herrn Referenten, unserem verehrten Lehrmeister wenn er auch
mir diese Bezeichnung gestatten will, trotzdem ein unmittelbares Lehrverhältnis
nicht bestanden hat –, dafür dankbar sein, daß er sich entschlossen hat, mit ei-
nem positiven Vorschlag, der, wie ich glaube, geeignet ist, gerade prinzipielle
Auseinandersetzungen zu ermöglichen und herbeizuführen, hervorzutreten. Ich
möchte zunächst einige praktische Bedenken gegen einen Hauptpunkt dieser
Vorschläge geltend machen, daß mlich staatlich approbierte Direktoren in die
Aktiengesellschaften mit über 75 Millionen Kapital hineingesetzt werden sollen.
Es ist das ja nicht ein so seltsamer Vorschlag, wie gestern angenommen worden
ist, es ist nicht so gemeint, daß da irgendein Assessor als Kontrolleur hineinge-
setzt werden solle, sondern Herr Professor Schmoller hat sich das offenbar so
gedacht, daß geeignete Kandidaten für Direktorenstellen innerhalb eines gewis-
sen Umfangs staatlicherseits nach der Wahl approbiert oder vor der Wahl als
Kandidaten zugelassen werden sollen. Aber, meine Herren, abgesehen von den
Gründen, die schon geltend gemacht worden sind, scheint mir aus gewissen ein-
fachen politischen Motiven dieser Vorschlag nicht realisierbar. Man stelle sich
vor: Die Deutsche Bank ist eine Aktiengesellschaft mit über 75 Millionen Kapi-
tal. Nun sollen darin staatlich approbierte Direktoren sitzen. Jetzt kommt die
russische Regierung nehmen wir mal an –, und will von der Deutschen Bank
eine Anleihe haben oder eine andere Regierung während des Krieges. Das ist ei-
ne politische Angelegenheit. Ist es diskutabel, unter solchen Verhältnissen die
Regierung in die Verantwortlichkeit hineinzuverwickeln, direkt oder indirekt,
ganz ebenso, wie sie für die Reichsbank verantwortlich gemacht wird? Es ist ja
ganz richtig,
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 402
daß politische Anleihen sich sehr selten ohne direkte oder indirekte, hinter den
Kulissen geübte Einwirkung der Regierung vollziehen. Aber von da bis zu die-
sem formellen Hineinsetzen staatlich approbierter Direktoren in eine Bank und
damit der Uebernahme für das, was die Bank tut und es handelt sich ja nicht
bloß um politische Maßregeln, sondern auch um die Schätzung, die das Publi-
kum dann den Emissionen einer solchen Bank entgegenbringen wird –, ist doch
noch immer ein weiter und sehr gewagter Schritt, an welchem meiner Meinung
nach der Vorschlag in der Form, wie ihn Herr Professor Schmoller gemacht hat,
unbedingt scheitern müßte.
Nun aber entsteht weiter die Frage: gesetzt den Fall, es würde eine solche Ge-
setzesbestimmung gemacht, wer wird dann nun in diese Direktorenstellung kraft
dieses Gesetzes hineinlanziert werden? Herr Professor Schmoller hat in einem
gewissen ästhetischen Widerwillen, den wir gewiß alle mitempfinden, von dem
»Parlamentsgerede« gesprochen. Es ist nun aber heute einmal so, daß die großen
staatsmännischen Taten nicht mehr durch Dreinschlagen mit dem Schwert auf
dem Schlachtfeld geleistet werden, sondern sie nehmen die höchst prosaische
Figur von Tintentropfen und Papier oder von Schallwellen an von Parlaments-
gerede oder Aktenschreiberei. Welches von beiden das ästhetisch Erfreulichere
ist, ist Geschmacksache. Für den vorliegenden Fall aber möchte ich doch sagen:
das politisch Bedenkliche im Parlamentarismus ist nicht das Parlamentsgerede,
sondern die Parlamentspatronage, die sich hinter den Kulissen vollzieht, und die
gerade unserem Scheinkonstitutionalismus so sehr charakteristisch ist. Ich habe
mit vollem Herzen dem zugestimmt, was Herr Professor Schmoller gelegentlich
im Herrenhause darüber gesagt hat. Nun denken Sie aber an die Chancen, die
sich der Parlamentspatronage da effnen würden, wenn der Staat in der Lage
ist, den Herren, die diese Patronage genießen, zu Pfründen in den großen Akti-
engesellschaften zu verhelfen, wenn für allerhand agrarische Politiker will ich
unter den gegenwärtigen Konstellationen einmal sagen –, die da in ihren Kredit-
organisationen usw. im Osten mehr oder auch minder brauchbar gewesen sind,
jetzt die Chance erwüchse, ihre Hand hineinzustecken in die Deutsche Bank
oder in ähnliche Institute. Es mag diese Befürchtung etwas übertrieben klingen,
ich muß aber mit beschränkter Redezeit sprechen und muß deshalb in der Form
etwas übertreiben. Ich sage ganz offen, ich treibe die Dinge auf die Spitze, ich
kann nicht anders. Das oder etwas Aehnliches ist es aber doch, was die Kon-
sequenz eines solchen Vorschlags sein würde.
Denn wir wollen uns doch darüber nicht täuschen: wir haben nach der vor-
handenen Machtlage keinen parlamentarischen Staat, wir haben nicht die Vor-
züge des Parlamentarismus, die andere Länder haben, aber wir haben alle
Nachteile. Wir haben die Parteiherrschaft bei uns ebenso gut wie anderswo. Die-
se Parteiherrschaft vollzieht sich bei uns als ein Wechsel der Hofmoden unter
dem Druck dynastischer und aller möglichen anderen Interessen; aber diese Par-
tei-
Ueber das Verhältnis der Kartelle zum Staat. 403
herrschaft ist hier sogut wie irgendwo auf der Welt. Wer das nicht sieht, ist mei-
ner Meinung nach politisch blind. Ich glaube auch, daß Herr Professor Schmol-
ler wenigstens für die Gegenwart diese Tatsache nicht in Abrede stellen wird. Es
scheint mir danach zweifelhaft, ob die Chance eine große ist, daß in solche Stel-
len derjenige Typus von Menschen hineinkommt, den Herr Professor Schmoller
als Altruisten bezeichnet hat im Gegensatz zu den Geldmachern. Aber meine
Herren, ich knüpfe daran das weitere Bedenken, ob denn dieser Gegensatz in
dieser Art überhaupt aufrecht zu erhalten ist. Es ist das ja schon an sich eine nur
vorläufig gemachte Unterscheidung, die, wie er selber zugeben wird, doch sehr
verschiedene Nuancen gestattet. Ich bestreite aber auch prinzipiell, daß sie in
dieser Art zulässig ist. Es gibt doch auch Eisenbahnminister, die nichts als
Geldmacher dabei aber sicherlich Altruisten sind. Es gibt auch Landwirt-
schaftsminister, die nicht selbst Geldmacher, aber Agenten von Geldmachern
sind, die sich ganz ebenso als Vertreter einer bestimmten Volksgruppe fühlen,
wie etwa ein tschechischer Landsmannminister in Oesterreich, nur daß dieser
ideelle Interessen vertritt und der andere eben Geldinteressen und weiter gar
nichts. Und auf der anderen Seite trifft es nicht zu, daß der amerikanische
Schöpfer eines Trusts als Mensch ein Banause wäre, der nichts weiter als das
Geld um des Geldes willen liebe. Die Psychologie dieser Herren ist denn doch
eine etwas verwickeltere. Ich habe wahrlich keinen Anlaß, mich für sie als Blü-
ten der Menschheit ins Zeug zu legen. Man wird aber wohl sagen müssen, daß
sie Leute sind, die hypnotisiert von dem Ehrgeiz, das Unerhörte möglich zu ma-
chen, den Geldwert als Sport behandeln, daß Männer wie Carnegie, Morgan
weit davon entfernt sind, im einzelnen Fall so sehr auf das Geld, was sie verdie-
nen, zu sehen, wie die große Mehrzahl unserer deutschen Kartellmitglieder es
tut, nicht etwa wegen sittlicher Minderwertigkeit, sondern unter dem Druck der
Notwendigkeit ganz einfach tun muß. Und sie haben den großen Vorzug, daß sie
nicht, wenn man von Arbeiterorganisationen spricht, sich hinstellen und sagen:
»Dann spiele ich nicht mehr mit.« Ich muß also aufs entschiedenste bestreiten,
daß dieser Gegensatz in der Weise formuliert werden kann, wie Schmoller es
tut.
Nun aber komme ich weiterhin noch zu etwas prinzipielleren Gesichtspunk-
ten, bei denen es sich in letzter Linie wieder um Gegensätze der Werturteile
handelt. Ich muß deshalb vorweg meinem verehrten Kollegen Professor Lief-
mann bestreiten, daß das, was er gestern bei seinen Erörterungen über die Auf-
gaben der Jurisprudenz auf dem Gebiete des Kartellwesens gesagt hat, zutref-
fend ist, und in voller Uebereinstimmung mit dem Herrn Vorredner, Herrn Re-
gierungsrat lcker, erklären, es gibt keine Wissenschaft und am wenigsten ist
die Jurisprudenz eine solche, welche das Gelten irgendeines Werturteils und das
Seinsollen irgendeines Rechtssatzes anzudemonstrieren vermag. Diejenigen Ju-
risten, die versucht haben, eine solche Rolle r sich als Juristen in Anspruch zu
nehmen, sind für mich die gottverlassenste Gesellschaft, die es auf der Welt
gibt. Wenn
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 404
irgendjemand nicht geeignet ist, über das Seins o l l e n zu entscheiden, ist es
der Jurist, der, will er ein Mann seiner Wissenschaft sein, Formalist zu sein ver-
pflichtet ist. Ich darf das um so mehr sagen, weil ich selbst das zweifelhafte
Vergnügen gehabt habe, als juristischer Professor Referendare zu examinieren,
und also glaube, über die Eigenart des Juristen und seine Psychologie durch
Selbstbeobachtung einige Erfahrung zu haben. Was man Juristen sagen kann, ist
immer nur das: Wenn ihr das und das wollt, dann gibt es dazu die und die juri-
stisch-technischen Mittel, und auf diese bescheidene Stellung sollte man den Ju-
risten ebenso beschränken, wie wir uns Nationalökonomen, wenn wir als solche
reden, darauf beschränken sollten. Denn, meine Herren, ich müßte mich dagegen
verwahren, daß ich, wenn ich hier rede, in meiner Eigenschaft als Mann der
Wissenschaft spreche. Hier spricht der Mensch und weiter niemand, und was ich
kraft wissenschaftlicher Arbeit weiß, ist Material, das ich lediglich verwende,
um die glichkeit der Durchführbarkeit eines Ideals und die wahrscheinlichen
Folgen seiner Durchführung abzuwägen, aus welchem eben der Wert jenes Ide-
als selbst nie und nimmer eduziert werden kann.
Dies vorausgeschickt, möchte ich also noch zu einigen prinzipiellen Ausein-
andersetzungen kommen mit dem, was Professor Schmoller über seine allge-
meine Stellung zum Staat, über die Chancen, welche der Staat hat, im Verkehr
mit den Kartellen zu Resultaten der von ihm gewünschten Art zu kommen, aus-
geführt hat. Meine Herren! Die großen Arbeiten des Herrn Professor Schmoller
über die Geschichte des preußischen Beamtentums gehören, wie ich wahrlich
nicht erst hier auszusprechen brauche, zu den klassischen Besitztümern unserer
Wissenschaft, sie haben uns beeinflußt und werden uns beeinflussen, solange
wir wissenschaftlich denken. Aber auch hier gilt der Satz Goethes: »Wir alle le-
ben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde.« Es ist aber die
Frage, ob der empirisch gegebene preische Staat, wie er heute ist, wie er aus
der Vergangenheit uns überkommen ist und sich jetzt entwickelt hat und ent-
wickelt, ob der qualifiziert ist, die Aufgaben zu erfüllen, die ihm Herr Professor
Schmoller in vorsichtiger Weise, andere in radikaler Weise, nämlich durch die
Forderung der Verstaatlichung, zuweisen wollen. Meine Herren! Sehen wir uns
den Charakter der heutigen preußischen Staatsleitung doch an. Was für Leute
sitzen denn heute auf den Ministersesseln? Ganz vortreffliche Leute in ihrer Art,
aber diese Art heißt: matter-of-fact-men, business-men. Keiner von den Herren,
die heute auf den Ministersesseln sitzen, wird doch den Anspruch erheben, ein
Staatsmann zu sein. So etwas gibt es doch heute gar nicht mehr. Es sind matter-
of-fact-men, die sich gegebenen Situationen durch dynastische Wünsche und
andere Umsnde anzupassen wissen, anpassen müssen, und es ist charakteri-
stisch genug, daß einer dieser Herren und keiner der übelsten –, nachdem er
zum Minister befördert war, sich darüber beklagte, wie schlimm es sei, daß er
sich bis dahin so häufig in der Oeffentlichkeit über die schwebenden
Ueber das Verhältnis der Kartelle zum Staat. 405
Fragen ausgesprochen habe. Man sollte glauben, das wäre äußerst angenehm,
weil man doch wisse, welches Programm eben nun der Minister vertritt. Aber
Gott bewahre, es ist umgekehrt höchst fatal, daß man weiß, was er gedacht hat;
denn er muß sich ja ganz anderen Anschauungen anbequemen. Es kann aus
Gründen, die in der veränderten Technik und Oekonomik unserer Gesellschaft
und unseres Staates liegen, heute kein anderer als ein business-man, im besten,
ehrlichsten, respektabelsten Sinne des Wortes, aber eben ein business-man, sich
auf dem Ministerposten halten, und unter diesen Umständen halte ich diese In-
teressengemeinschaft des Staates mit den Herren Großindustriellen für äußerst
bedenklich, wie sie nach den Vorschlägen des Herrn Professor Schmoller eintre-
ten würde, der ein starkes Eingreifen des Staates in die Kartelle durch Regle-
mentierung der Kartelle und durch Eintritt in die Kartelle befürwortet. Denn was
wird dabei herauskommen? Ein sehr intelligent geschriebener Artikel meines
Herrn Vorredners
1)
in der Deutschen Wirtschaftszeitung enthält unter anderem
die Sätze: »Der Regierung kann es unmöglich gleichgültig sein, wenn so bedeu-
tende Unternehmerverbände ihr mißtrauisch gegenüberstehen.« Und weiter: »Ih-
re der Regierung Aufgabe muß dahin gerichtet sein, durch politische Ge-
schicklichkeit auf die bedeutenden Männer der Industrie einzuwirken, sie poli-
tisch zu erziehen und sie für ihre weitergehenden Pläne zu gewinnen.« »Es wird
– so heißt es weiter – sehr bedauert in industriellen Kreisen, daß das schöne Ver-
trauensverhältnis, wie es zur Zeit des wirtschaftlichen Ausschusses zwischen
Regierung und Industrie bestand, eine so bedauerliche Abschwächung erfahren
hat.« Ich glaube, die ganze öffentliche Meinung Deutschlands mit Ausnahme
dieser Herren, die dem wirtschaftlichen Ausschuß angehörten, ist der gerade
entgegengesetzten Ansicht und hat es aufatmend begrüßt, als die Liaison hinter
verschlossenen Türen endlich ihr Ende nahm.
Nun aber machen wir uns noch konkreter klar, was denn der Eintritt des Staa-
tes in die Interessengemeinschaft mit den Syndikaten, speziell auf dem Gebiete
des Kohlenbergbaus bedeuten würde! Der Staat hat heute schon Kohlenbesitz in
erheblichem Umfang. Ist es denn etwa so, daß er in irgendeinem ökonomischen
oder sozialen Sinne hier mustergültig vorangegangen wäre? Ist er in der Preispo-
litik etwa mustergültig gewesen für das Syndikat? Er hat es ja eher noch toller
getrieben als irgendein privates Syndikat. Und wie steht es sozialpolitisch? Ich
habe mit der wünschenswerten Deutlichkeit meine diesbezüglichen Werturteile
vorgestern ausgesprochen und möchte nur hinzufügen, daß doch unvergessen
sein wird in der deutschen Sozialgeschichte jene Szene vor einem Gericht des
Saargebiets, wo der als Zeuge aufgerufene Bergmann fragte: »Wissen Sie, ob
ich nicht abgelegt werde, wenn ich hier die Wahrheit sage?«, und wo der dabei
sitzende Herr Oberbergrat Hilger, auf den sich aller Augen wandten schwieg!
Das, meine Herren, läßt wieder darauf schließen, welche Eigenschaften des Cha-
rakters der Staat an den Arbeitern in
1)
Regierungsrat a. D. Völcker.
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 406
seinen Saargruben züchtet. Wir haben nicht das geringste Interesse daran, daß
ein Staat von s o l c h e n Qualitäten heute seinen Bergwerksbesitz erweitert,
womöglich in die Syndikate eintritt, oder überhaupt irgendeinen Einfluß ir-
gendwelcher Art im Wege einer Interessengemeinschaft mit großindustriellen
Verbänden auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse gewinnt. Die sozi-
alpolitischen Ansichten seiner Beamten werden dadurch gewiß nicht gewinnen.
Und wenn er etwas machen kann auf dem Gebiet der Preisfrage, so ist es die ge-
legentliche Konkurrenzierung des Syndikats, und dazu gehört von seiten des
Staates absolute Freiheit von jeder Bindung an irgendwelche Gemeinschaft mit
ihm. Will aber der Staat, um dies letztere besser zu können, seinen Besitz erwei-
tern, dann halte ich schon das für ein öffentliches Skandalon, daß er, um sich ei-
nen Grubenbesitz wie den der Hibernia zu verschaffen, das im Weg der Ver-
handlungen tut und nicht im Weg der Expropriation, daß er nicht entweder ein-
fach die Kabinettsordre dazu extrahiert, um zu expropriieren, oder, wenn er
glaubt, sie nach der Lage unserer Gesetzgebung nicht extrahieren zu nnen,
sich durch Reichsgesetz die Möglichkeit dazu geben läßt, und unter allen Um-
ständen mit den Herren nicht paktiert, die ohnehin einen Staat im Staate bilden.
Und damit, meine Herren, komme ich zum Schluß denn alles Wesentliche ist
im übrigen mir vorweg genommen noch zu einigen kurzen Bemerkungen, die
sich gegen einiges, was diese Herren hier gesagt haben, richten.
Wiederum, wie schon so oft, haben sich die Herren der großen Verbände dem
Staat, mit dem sie, wie wir hörten, so gern ein »Vertrauensverhältnis« haben
möchten, auch als die Retter gegenüber dem Umsturz angetragen. Wie stimmt es
nun aber damit, wenn gestern Herr Geheimrat Kirdorf sagte: lieber als eine
christliche Gewerkschaft ist mir die Sozialdemokratie. Das sind ja eigentümliche
Hüter des Staates gegen den Umsturz. Und doch ist gerade diese Aeußerung,
meine Herren, ganz unbewußt ein höchst bezeichnender Ausdruck der wirkli-
chen Ansichten dieser Herren; denn so liegen doch die Verhältnisse, daß man
fragen muß: Haben denn wirklich die Vertreter der großen Industrie und die mit
ihnen auf sozialpolitischem Gebiet verbündeten agrarischen Parteien ein Interes-
se daran, daß die Sozialdemokratie zurückgedrängt wird? Jeder politisch Den-
kende muß sich doch sagen: Nein, gerade im Gegenteil, jede sozialistische Null
mehr im Reichstag, die auf Kosten sozialreformerischer Parteien hereinkommt,
ist barer Gewinn für sie. Jedes Anschwellen des Radikalismus in der Sozialde-
mokratie, jedes Anschwellen der Sozialdemokratie auf Kosten des Liberalismus,
vollends des sozial gefärbten, bedeutet für sie bares Geld, ganz ebenso wie es
anderseits für die Pfründner in der Sozialdemokratie bares Geld bedeutet, wenn
wir reaktionäre Politik machen. Und anderseits: hat etwa irgendeiner der zahl-
reichen Leute, die pekuniär davon abhängig sind, daß die sozialdemokratische
Partei wächst in ihrer Zahl, daß die Abnehmerkreise der sozialdemokratischen
Zeitungen usw. wachsen, ein Interesse daran, daß der Staat soziale Politik treibt?
Ueber das Verhältnis der Kartelle zum Staat. 407
Je enger er sich mit dem Besitz verbrüdert, je mehr er in Interessengemeinschaft
mit Syndikaten gerät, je reaktionäres seine Politik ist, desto besser für die mate-
riellen Interessen dieser Leute denn auch die Sozialdemokratie wird sich
schließlich gefallen lassen müssen, daß man ihre Vertreter nach ihrem eigenen
sog. materialistischen Deutungsprinzip einmal unter die Lupe nimmt. Reaktionä-
re Politik bedeutet für die Pfründner bares Geld. Es besteht also bei aller öko-
nomischen Spannung zwischen niemand politisch eine größere Interessenge-
meinschaft als zwischen den Vertretern der Interessen des Agrarkapitalismus
und derjenigen der Syndikate, die wir hier gehört haben auf der einen, und den
Vertretern der Sozialdemokratie auf der andern Seite, und es grenzt an Naivität,
wenn ein Diplomat wie Fürst Bülow immer wieder glaubt, auf die konservative
Partei z. B. Eindruck zu machen, wenn er im Reichstag oder sonst ihr zuredet,
ihm doch ja ein gewisses Minimum von Sozialpolitik zu gestatten, damit die So-
zialdemokratie nicht anwüchse. Jedermann kann wissen, daß das gerade die um-
gekehrte Wirkung dessen ausüben muß, was Fürst Bülow mit seinen Aeußerun-
gen bezweckt.
Ich bin damit am Schlusse und möchte mir nur noch erlauben, im Anschluß
an das zuletzt Gesagte mich mit einer kurzen Bemerkung zu wenden gegen das,
was gestern der Herr Kollege Wilbrandt aus Berlin mir in sehr freundlicher
Form entgegengehalten hat bezüglich einiger meiner Aeußerungen von vorge-
stern. Ich habe damals die Vertreter der Gewerkschaften als Tger des Idealis-
mus bezeichnet im Gegensatz zu der Entwicklung, welche die sozialdemokrati-
sche Partei durchmachen werde. Ich betone ausdrücklich, ich habe nicht von der
Gegenwart gesprochen und nicht von den Personen. Ich weiß sehr wohl, daß oh-
ne politisches Arbeiten der bloße business-Gewerkschaftsmann, der matter-of-
fakt-man, den wir in England und Amerika kennen, ein arger Banause ist und
daß ohne alle politische Betätigung der Arbeiterschaft der Schwung des Auf-
wärtsstrebens aus den Massen überhaupt verschwinden würde. Aber ich habe
davon gesprochen, was unter dem Druck zwingender Verhältnisse, unter dem
Druck vor allen Dingen jenes Gefühls völliger Ohnmacht, welches, wie jeder
weiß, der hinter die Kulissen sieht, in den leitenden Kreisen der sozialdemokra-
tischen Partei herrscht ihre Vertreter würden das selbstverständlich bestreiten,
es ist aber doch so, –, aus der Partei werden muß. Es kann nichts anderes daraus
werden als eine Partei amerikanischen Genres, eingeschworen auf einige For-
meln, auf einige wenige Schlagworte, die sie festhält, im übrigen aber eine Par-
tei, die schlechthin um ihrer selbst und ihrer Pfründen willen existiert, und wo
ganz ebenso, wie der Arbeiter in der Fabrik nach der Theorie der Herren vom
Syndikat sich ducken soll, wie diese selbst und wir alle uns im Staate ducken
sollen, sich alles in der Partei vor den faktisch in der Macht sitzenden Parteibos-
sen duckt. Gelernt haben die Leute diese Charakterlosigkeit ja in unserem Staat
wie er ist, in dem Kasernencharakter unserer Fabrikbetriebe. Und angesichts
dieser unvermeidlichen Entwicklung sage ich nun: wie in Amerika heute
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 408
das allmähliche Aufkommen einer sozialdemokratischen Partei den Protest des
vom Idealismus gegen den Nichts-als-business-man des Gewerkschaftlertums
bedeutet, so bedeutet umgekehrt bei uns infolge unserer ganz anderen Verhält-
nisse das Aufkommen und die Stärkung der Gewerkschaften die Gewähr politi-
scher, männlicher, freier Unabhängigkeit i n n e r h a l b der Partei, nicht
wie ich schon vorgestern sagte, außerhalb der Partei. Das allein ist es, was ich
den Gewerkschaften vorgestern habe nachrühmen wollen.
Ebendaselbst.
Ich spreche nicht für mich, sondern ich weiß nicht, ob Sie das zulassen wol-
len als negotiorum gestor für den Pfarrer Naumann. Was mich persönlich an-
langt, so kann ich Herrn Professor Schmoller nur sehr dankbar sein für die sach-
liche Art, mit der er die Einwände, die ich gegen seine wie er ja selbst von
vornherein zugab diskussionsbedürftigen Vorschläge gemacht habe, behandelt
hat. Um so mehr habe ich bedauert, daß er jenes schöne Maß, welches ich um so
mehr an ihm bewundere, als der Himmel in seinem Zorn mir, wie Herr Schmol-
ler ja selbst angedeutet hat, die Gabe einer gewissen Deutlichkeit, die sich
schwer unterdrücken läßt, mit auf den Weg gegeben hat, in seiner persönlichen
Polemik gegen den abwesenden Pfarrer Naumann verlassen hat. Er hat ihm den
Vorwurf des Demagogen nachgeschleudert und hat die Meinung geäußert,
Naumann habe, ohne ihn zu nennen, eine Rede, die er offenbar als verletzend
empfinden hat, gegen ihn gehalten. Ich glaube, beides widerspricht der Psycho-
logie Naumanns. Er spricht nicht zu demagogischen Zwecken, sondern unter
dem Zwang der richtigen idealistischen Leidenschaft, die ihn beseelt, und unter
der Wirkung des Glaubens an eindeutige Entwicklungsgesetze von eherner
Notwendigkeit, die ich so wenig wie Herr Professor Schmoller in diesem Fall
mit ihm teile, und ich glaube ferner, wenn er gegen jemand spricht und vollends
scharf spricht, so sagt er auch, wen er gemeint hat und gegen wen sich sein An-
griff richtet. Ich persönlich meine allen Grund zu haben, anzunehmen, daß diese
Rede Naumanns von ihm nicht als ein Angriff gegen die Person oder Anschau-
ungsweise von Herrn Professor Schmoller aufgefaßt worden ist. Nun, meine
Herren, selbstverständlich aber ist es das Recht von Herrn Professor Schmoller
als Referent gegenüber einem Diskussionsredner, wenn er dessen Ansichten für
verwerflich hält auch ich war nicht mit allem, was Naumann gesagt hat, ein-
verstanden –, das zu sagen. Das eigentliche Bedenken liegt für mich nun aber
darin, daß Herr Professor Schmoller sagte: Der Beifall, den Naumanns Rede
fand, könnte ihn stutzig machen, ob er als Leiter dieses Vereins noch weiter
mitmachen solle. Am heutigen Tage war Herr Professor Schmoller Referent und
also als Partei an der Diskussion beteiligt, und unter diesen Umständen halte ich
ein Hereinziehen seiner Eigenschaft als Ausschußvorsitzender für unzulässig;
für Naumann ist nach einer solchen Aeußerung von
Ueber Verfassung und Verwaltungsorganisation. 409
seiten des Vorsitzenden als solchem die weitere Teilnahme an künftigen Ver-
handlungen des Vereins doch so gut wie ausgeschlossen. Für mich wenigstens
würde sie es sein, wenn mir jemand nicht qua Referent und Diskussionsredner,
sondern qua Vorsitzender des Vereins sagen würde: Sie sind ein Demagoge, mit
Ihnen verhandle ich nicht, und wenn Sie Beifall finden, trete ich zurück. Das ist
es, wogegen ich mich habe wenden wollen.
Diskussionsrede bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik
in Magdeburg 1907 über Verfassung und Verwaltungsorganisation
der Städte.
Ich habe bei Anhören der Ausführungen des Herrn Geheimrat Wagner nichts
anderes als ein Argument gegen das allgemeine Wahlrecht in den Kommunen
herausgehört, als die eine Bemerkung: wir nnten die Kommunen unmöglich
unter den Einfluß der unteren Klassen gelangen lassen. Ja w a r u m denn
eigentlich nicht? Man stelle doch die denkbar größten Anforderungen an Intel-
lekt und Vorbildung in der Qualifikation der zu wählenden Beamten. Aber wie
man unter den heutigen Verhältnissen noch eine allgemein akzeptable Qualifika-
tion innerhalb der W ä h l e r s c h a f t nach formalen Gesichtspunkten he-
rausfinden will, das sehe ich nicht. Das gilt für Stadt wie Staat. Alle Versuche,
die man seinerzeit gemacht hat, das Klassenwahlrecht in Preußen zu reformie-
ren, haben zu nichts weiter geführt, als zu einer fürchterlichen Belastung des
preußischen statistischen Amts, welches bekanntlich im allgemeinen die Aufga-
be hat, dafür zu sorgen, daß diejenigen Zahlen seiner Statistik n i c h t veröf-
fentlicht werden, die zu einem Angriff gegen die Regierung benutzt werden
könnten. Und zwar durch die Aufgabe, mittelst der schwierigsten mathemati-
schen Berechnungen herauszufinden, wie man die Einteilung der Wahlklassen
so verschieben nnte, daß etwas mehr Nationalliberale, Reichsparteiler und
Konservative, nicht zu viel Zentrumsleute und Linksliberale und um Gotteswil-
len keine Sozialdemokraten in das preußische Parlament hineinkämen. Es gibt
nun einmal nicht die glichkeit, auch nicht auf dem Wege des Pluralwahl-
rechts, Merkmale zu finden, welche die Wählerschaft irgendwie so klassifizie-
ren, daß eine Gewähr dafür besteht, daß diejenigen Wähler, die am unbefangen-
sten und am informiertesten den Gegenstand, um den es sich jeweils dreht,
s a c h l i c h zu beurteilen in der Lage und gewillt sind, zu Worte zu kommen
und den Ausfall der Wahlen in erster Linie beeinflussen.
Die Zeit all dieser komplizierten Wahlrechte ist heute vorbei. Jede Reform,
die versucht, halbe Arbeit zu machen, kann nur ein erster Schritt auf dem un-
vermeidlichen weiteren Wege sein, und ich meine, und werde das jetzt kurz
noch weiter auszufahren haben, es besteht
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 410
keinerlei Gefahr, wenn man das Endziel dieses Weges: allgemeine g l e i c h e
Wahl der Stadtbürger, schon heute vorwegnimmt.
Es handelt sich ja heute reden wir offen und nüchtern in praxi einfach
darum, ob wir einer ganz bestimmten Partei: es ist heute die Sozialdemokratie,
für kürzere oder für längere oder r sehr lange Zeit die Führung in denjenigen
zahlreichen großen Kommunen, in denen sie zur Zeit die Mehrheit darstellt, an-
vertrauen nnen und sollen. Nun möchte ich vorweg, mit Rücksicht auf die
Bemerkungen, die Herr Stadtrat Fischbeck hier gemacht hat, doch mit der Be-
merkung nicht zurückhalten: es hat seinerzeit immer tiefen Eindruck auf mich
gemacht, wenn mein Vater, der ganz gewiß kein Liebhaber der Sozialdemokra-
tie war er hatte als Reichstagsabgeordneter hier in Magdeburg mit der Sozial-
demokratie sich herumzuschlagen und nicht minder als Stadtrat in der Berliner
Kommune –, mir dennoch wieder und wieder sagte: daß in letzter Linie in der
Berliner Baudeputation seine s i c h e r s t e Stütze gegen den Ansturm der In-
teressen des Bauspekulantentums der Stadtverordnete Paul Singer sei. Nun wird
mir zwar, gegenüber dieser Bemerkung, Herr Geheimrat Loening vielleicht ein-
werfen, und ich ßte ihm eine gewisse Berechtigung dieses Einwurfs zugeben:
daß das eben eine M i n d e r h e i t s fraktion sei, deren Kritik hier wie sonst
sehr erwünscht sei; wenn dagegen diese Fraktion in eine permanente herrschen-
de Mehrheit sich verwandelte und die Stadtverwaltung in die Hand beme, so
sei das eine andere Sache. Fragen wir also: was würde die Folge davon sein?
Gehen wir da nüchtern und ohne Illusionen zu Werke. Die nächste Konsequenz
würde zweifellos sein: eine schroffe Parteiherrschaft der Sozialdemokraten in
den Gemeinden, wo sie die Macht in den Händen hätten. Und was bedeutet dies
praktisch? Die Sozialdemokratie steht heute ersichtlich im Begriff, sich in eine
gewaltige bureaukratische Maschine zu verwandeln, die ein ungeheures Heer
von Beamten beschäftigt, in einen Staat im Staate. Wie der Staat, so kennt denn
auch sie schon, im Kleinen, den Gegensatz von Ministern, Regierungspräsiden-
ten und Landräten den P a r t e i beamten einerseits, und Bürgermeistern:
den Gewerkschaftsbeamten und Konsumvereinsvorständen, anderseits. Sie
schafft sich jetzt ihre Universitäten mit Professoren, die nun nach Lehrfreiheit
schreien, sie kennt ihre »Reichsfeinde«, ihre gemaßregelten Landräte usw. Sie
hat vor allem, wie der Staat, ein zunehmendes Heer von Leuten, die vor allen
Dingen »Avancementsinteressen« haben. Man fasse das nicht lediglich in üblem
Sinne auf: es handelt sich dabei auch um rein ideale Interessen der Geltendma-
chung der eigenen Weltanschauung in der Partei aber a u ß e r d e m hat
dieses Heer von Beamten und von der Partei abhängenden Existenzen allerdings
auch höchst materielle Versorgungsinteressen. Die Träger dieser Interessen sind
nicht nur die formell Angestellten der Partei, sondern die lokalgebenden Gast-
wirte, die Redakteure von sozialistischen Blättern usw. usw. Für alle diese Leute
eröffnet sich nun eine goldene Zeit, sie werden an der Krippe
Ueber Verfassung und Verwaltungsorganisation. 411
der Kommune versorgt werden, direkt oder indirekt, ganz ebenso wie dies bei
anderen Parteien auch der Fall ist: der Oberbürgermeister Seydel in Berlin, der
mit der damals herrschenden Fraktion in stetem Kampfe lag, schrieb so und so-
oft man nnte es in den Akten noch nachsehen – auf Eingaben von Kollegen,
welche die Anstellung bestimmter Persönlichkeiten befürworteten, an den Rand
der Eingabe vor allem anderen die Frage: aus welchem Wahlkreis stammt der
Mann? Nicht immer, aber doch recht oft mit gutem Grunde. So ähnlich viel-
leicht, wesentlich prononcierter, würde sich diese Parteiherrschaft der Sozialde-
mokratie zweifellos auch gestalten. Keineswegs erfreulich! Es fragt sich nur,
wer a u f d i e D a u e r das mehr zu fürchten hat, die bürgerliche Gesell-
schaft oder die Sozialdemokratie. Ich persönlich bin der Meinung, die letztere,
d. h. d i e j e n i g e n Elemente in ihr, welche Träger r e v o l u t i o n ä -
r e r I d e o l o g i e n sind. Schon heute sind ja gewisse Gegensätze inner-
halb der sozialdemokratischen Bureaukratie für jedermann kenntlich. Und wenn
vollends die Gegensätze der materiellen Versorgungsinteressen der Berufspoli-
tiker einerseits und die revolutionäre Ideologie anderseits sich frei entfalten
könnten, wenn man ferner die Sozialdemokraten nicht mehr, wie jetzt, aus den
Kriegervereinen hinauswerfen wollte, wenn man sie in die Kirchenverwaltungen
hineinläßt, aus denen man sie heute hinauswirft, d a n n erst würden für die
Partei die ernsthaften inneren Probleme anfangen. Dann erst geriete die revolu-
tionäre Virulenz wirklich in ernste Gefahren, und es würde sich dann erst zei-
gen, daß auf diesem Wege auf die Dauer nicht die Sozialdemokratie die Städte
oder den Staat erobert, sondern daß umgekehrt es der Staat ist, der die Partei er-
obert. Und ich sehe nicht ein, wie die bürgerliche Gesellschaft als solche eine
Gefahr darin erblicken soll.
Es sind ja auch in Wahrheit nicht staatliche, sondern d y n a s t i s c h e In-
teressen, die da in Frage kommen, die sich aber gegen j e d e oppositionelle
demokratische Partei ganz ebenso richten. Man hat früher Berliner Stadträte von
der Liste der r den Roten Adlerorden vierter Klasse in Betracht Kommenden
gestrichen, weil sie Anregung gegeben hatten, daß im Verkehrsinteresse die
Durchfahrt durch die Mittelöffnung des Brandenburger Tors nicht mehr das al-
leinige Vorrecht des niglichen Hauses bleiben solle, Bürgermeister nicht be-
stätigt, die ungetaufte Kinder hatten, und die Drohungen gegen das »Rote Haus«
aus den letzten zwei Jahrzehnten sind in aller Erinnerung. Es wird eine etwaige
Herrschaft der Sozialdemokratie im Berliner Rathause einem preußischen Mon-
archen natürlich ebenso fatal sein, wie es dem Könige von Italien im Quirinal fa-
tal ist, daß der Papst im Vatikan sitzt und ihn »nicht anerkennt«. Aber die Frage
ist: was kommt dabei heraus? Was schadet das s a c h l i c h dem italienischen
Staat? Was schadet es s a c h l i c h unserem staatlichen Interesse, wenn Leute
auf dem Rathaus sitzen, die sich so gebärden, wie der Papst es tut? Die sich kin-
discherweise so aufführen, als k ö n n t e n sie den Monarchen, mit dem sie
nun einmal dauernd
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 412
r e c h n e n müssen, »nicht anerkenne, und die der staatlichen Ordnung Ab-
bruch zu tun meinen, wenn sie nicht zu Hofe gehen? Die Lächerlichkeit würde
auch der Sozialdemokratie tödlich sein. Prestige-, und das heißt: Eitelkeitsinter-
essen sind es, die dabei in Frage kommen nicht »nationale« Interessen, son-
dern mißverstandene dynastische Etikettensorgen und vor allen Dingen: dynasti-
sche A e n g s t e bedauerlichster Art. Ich hätte gern unsere deutschen Fürsten
auf dem Mannheimer Parteitage oben auf die Tribüne führen und ihnen zeigen
mögen, wie unten die Versammlung sich ausnahm. Ich hatte den Eindruck, daß
die russischen Sozialisten, die dort als Zuschauer saßen, die nde über dem
Kopfe zusammenschlugen beim Anblick dieser Partei, die sich für revolutionäre
in ihrem ernsthaft gemeinten Sinne hielten, die sie anbeteten als die gewaltigste
Kulturerrungenschaft Deutschlands und als die Trägerin einer ungeheuren revo-
lutionären Zukunft der ganzen Welt und in welcher nun das behäbige Gast-
wirtsgesicht, die kleinbürgerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend
hervortrat: von revolutionärem Enthusiasmus keine Rede, und ein lahmes, phra-
senhaft nörgelndes und klagendes Debattieren und Raisonnieren an Stelle jener
katilinarischen Energie des Glaubens, die sie von ihren Versammlungen ge-
wöhnt waren. Ich glaube: das, was von Angst vor dieser Partei, deren Mangel an
realen Machtmitteln, deren politische O h n m a c h t für jeden, der sehen
will, heute noch klar zutage liegt, noch in einem solchen Fürsten gesteckt hätte,
das re ihm da oben gründlich vergangen. Ein Dominieren in den Gemeinden,
in den öffentlichen Korporationen und Verbänden seitens der Partei hätte, wenn
sie dabei p o l i t i s c h e Machtinteressen verfolgt und dann doch nicht das
allein entscheidende Machtmittel: die Militärgewalt, in die Hand bekommt, um
dadurch den Staat zu überwältigen, nichts weiter zu bedeuten, als daß die politi-
sche Ohnmacht der Partei noch deutlicher zutage träte und daß sie, je mehr sie
rein p a r t e i politisch und je weniger sie s a c h l i c h zu regieren versuch-
te, desto früher sich diskreditierte.
Aber weiter: was würde denn die s a c h l i c h e Konsequenz sein, wenn
die Sozialdemokratie in den Kommunen, die sie beherrscht, ihren Prinzipien
gemäß ö k o n o m i s c h e K l a s s e n p o l i t i k triebe? Wie würde diese
wohl aussehen? Man sagt: man kann unsere Gemeinden unmöglich »den Arbei-
termassen ausliefern«. Dabei schwebt nun die dunkle Vorstellung vor, daß als-
dann eine Art »Erdrosselung« des Besitzes, des Kapitals, stattfinden werde. Es
ist eigentlich unglaublich, daß diese Vorstellung besteht angesichts der Sprache
der Tatsachen: Gehen Sie doch hin nach den Kommunen, wo heute schon die
Sozialdemokraten regieren. Nehmen wir der Einfachheit halber eine klassische
Stätte ihrer Herrschaft: die Stadt Catania in Sizilien. Sie ist eines der blühend-
sten Gemeindewesen Siziliens. Sie wurde es unter der Leitung eines sozialisti-
schen Bürgermeisters, welcher unter Crispi als Revolutionär jahrelang im
Zuchthause gesessen hat. Sie ist sizilianischen Touristen deswegen so llig un-
interessant, weil alle Romantik des Mittelalters hier verschwunden
Ueber Verfassung und Verwaltungsorganisation. 413
ist: sie ist die einzige moderne Stadt der Insel, die einzige Stadt, in der der bür-
gerliche Kapitalismus auf einer respektablen Höhe der Entwicklung steht. Be-
günstigungen aller Art, selbst Prämien, die die sozialistische Verwaltung in die-
ser Kommune für die Anlage von Fabriken gab, halfen dazu. Und das ist ja auch
im höchsten Maße begreiflich: jede Arbeiterschaft, die eine Gemeinde in der
Hand hat und ihre ökonomischen Interessen pflegt, wird eben m e r k a n t i -
l i s t i s c h e Politik treiben. Sicherlich hat dieser Gemeindemerkantilismus
seine Bedenken. Aber es ist nichts Neues. Denn weit gefehlt, daß etwa eine der-
artige Politik innerhalb bürgerlich regierter Gemeinden unmöglich wäre, sie ist
auch dort durchaus gang und gäbe. Meinen westfälischen Verwandten sind gro-
ße Grundkomplexe von kleinen stagnierenden westfälischen Gemeinden u m -
s o n s t angeboten worden, wenn sie darauf nur Fabriken bauen wollten, einer-
lei, was für Fabriken, nur soviel wie möglich Fabriken, mit einem Schornstein,
der tüchtig raucht. Es ist und bleibt typisch und, wie Sie wissen, ist es öffentlich
erörtert worden, daß derartige merkantilistische Politik von zahlreichen Ge-
meinden getrieben wird. Auch darin bietet also die sozialdemokratische Verwal-
tung nichts Neues. Der ganze Unterschied liegt in den Motiven: darin, daß die
heutigen, bürgerlich regierten Gemeinden diese Politik treiben deswegen, weil
die Bürger, die ja keineswegs gern Steuern zahlen, annehmen: je mehr Fabriken
in der Stadt bestehen, desto mehr verteilt sich die Steuer und: desto stärker
schwillt die Grundrente, hrend sozialistische Gemeindebehörden genau die-
selbe merkantilistische Politik treiben werden aus dem Grunde, um Beschäfti-
gung für die Arbeiter und günstigere Lohnchancen zu schaffen. Dies ist der ein-
zige Unterschied, sonst bezweifle ich, ob auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik
auf die Dauer ein prinzipieller Unterschied zwischen sozialistischer und bürger-
licher Stadtverwaltung sich fühlbar machen wird, sicher aber kein solcher, der
zur Erdrosselung des Kapitals oder zur Brandschatzung des Vermögens der Be-
sitzenden führen wird. Ich sehe durchaus keine Gefahr r die bürgerliche Ge-
sellschaft in der Auslieferung unserer Städte an irgendeine, auch nicht an die so-
zialdemokratische Partei, und überdies glaube ich, daß eine solche Auslieferung
keine dauernde sein würde. Der Versuch der Kommunalisierung des Bäckerei-
gewerbes in Catania endete mit dem Fallissement der Gemeindebäckerei und der
Diskreditierung der sozialistischen Verwaltung – nicht ohne daß jedoch die Bür-
ger von Catania gutes und billiges Brot erhalten tten und der moderne Groß-
betrieb in der Bäckerei durchgeführt worden re. Nichts würde sich auch bei
uns schwerer rächen, als der Versuch, auf dem Boden unserer heutigen Wirt-
schafts- und Gesellschaftsordnung sozialistische Zukunftspolitik treiben zu wol-
len; die ersten, die die Partei dabei in hellen Haufen verlassen würden, wären
deren Anhänger, die Arbeiter. Es sind im wesentlichen ich wiederhole es
nicht sachliche und auch nicht staatspolitische Gründe, sondern dynastische
Aengste und Befürchtungen, welche sich dieser Entwicklung in den Weg stellen.
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 414
Nun hat Herr Professor Wagner, und das ist die Aeußerung, die mich am mei-
sten in Erstaunen gesetzt hat, auf Rland hingewiesen. Rußland war aber doch
das ideale Land der autokratischen Staatspolizei, der Staat war ja derjenige, der
dort die Polizei ausübte, eine Polizei, die nicht nur Streiks, sondern nach Bedarf
auch Attentate und Revolutionen anzettelte, um sich in der Macht zu halten. Ge-
rade dieses System, dem jede Mitwirkung der Autonomie der bürgerlichen Ge-
sellschaft verdächtig war, ist es doch gewesen, welches den Zusammenbruch des
alten Regimes herbeigeführt hat, und wenn unsere dynastischen Interessen wirk-
lich dauernd verknüpft wären mit einem Polizeisystem nach russischem Muster
nun dann hätten sie ihre Zeit gehabt. Ich behandle diese Fragen, Herr Ge-
heimrat Wagner wird mir das zugestehen, hier in letzter Linie unter rein natio-
nalpolitischen Gesichtspunkten, unter dem Gesichtspunkt unserer Machtgeltung
und unserer Kulturbedeutung innerhalb der lker der Erde. Nichts aber steht
zur Zeit gerade unserer Machtgeltung und Kulturbedeutung mehr im Wege, als
wenn wir dauernd, wie es jetzt geschieht, dasjenige Maß von Freiheit in unserem
Innern ausschließen, was andere Nationen sich errungen haben. Nichts macht
uns so bündnisunfähig als dieser Umstand, als die Verknüpfung unserer sozialen
und politischen Entwicklung mit dem in seiner Orientierung beständig wech-
selnden Einfluß einzelner regierender dynastischer Personen. Das ist es, was un-
sere Politik in den letzten Jahren hat scheitern lassen, was die Achtung des Aus-
landes vor uns als Welt- und Kulturmacht von Stufe zu Stufe heruntergesetzt hat
in einem Maße, welches heute bereits für unsere Sicherheit gefährlich zu werden
beginnt. Jeder Schritt, den wir und sei es auch unter Opfern, sei es auch unter
Inkaufnahme der Chance, daß hier und da eine frischbackene sozialistische
Stadtverwaltung geradezu eine Mißwirtschaft treibt – auf dem Wege zur Beteili-
gung der breiten Massen am Gemeindeleben tun, ist eine Chance zur Wiederer-
oberung der Stellung in der Welt, die wir in den letzten Jahren verloren haben.
Debattereden auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien
1909 zu den Verhandlungen über »Die wirtschaftlichen
Unternehmungen der Gemeinden«.
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich noch einmal auf jene allgemeinen Ge-
sichtspunkte zurückgreife, die nun einmal in die Debatte hineingetragen sind,
und anknüpfe an das, was unser verehrter Meister, Herr Geheimrat Wagner, heu-
te morgen gesagt hat. Einiges davon habe ich nur mit Erstaunen hören können,
insbesondere die Behauptung, daß die Eisenbahnüberschüsse in Preußen den
unbemittelten Klassen zugute men. Meines Wissens s t a m m e n sie vor-
wiegend aus den Taschen der unbemittelten Klassen, und sie dienen in erster Li-
nie dazu, den Großgrundbesitzern das Steuerzahlen zu ersparen.
Ueber »die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinde«. 415
Vielleicht ist diese Ansicht, die ich absichtlich pointiere, ebenso einseitig wie
die von Herrn Geheimrat Wagner, aber das, was er gesagt hat, ohne Wider-
spruch zu lassen, war unmöglich.
Dann knüpfe ich an einige Ausführungen meines Bruders an. Wenn wir auch
in manchen Dingen verschiedener Meinung sind, in diesem Punkte kann ich nur
sagen, ist die Uebereinstimmung vollkommen. Mein Bruder ist sicherlich eben-
so wie Herr Geheimrat Wagner und ebenso wie ich überzeugt von der Unauf-
haltsamkeit des Fortschritts der bureaukratischen Mechanisierung. In der Tat: Es
gibt nichts in der Welt, keine Maschinerie der Welt, die so präzis arbeitet, wie
diese Menschenmaschine es tut – und dazu noch: so billig! Es ist z. B. notorisch
ein Unsinn, zu sagen: die Selbstverwaltung sse doch billiger sein, weil sie im
Ehrenamt erledigt werde. Wenn man in einer rein technisch tadellosen Verwal-
tung, in einer präzisen und genauen Erledigung sachlicher Aufgaben das höchste
und einzige Ideal sieht ja, von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen:
Zum Teufel mit allem anderen, und nichts als eine Beamtenhierarchie hinge-
setzt, die diese Dinge sachlich, präzis, »seelenlos« erledigt, wie jede Maschine.
Die technische Ueberlegenheit des bureaukratischen Mechanismus steht felsen-
fest, so gut wie die technische Ueberlegenheit der Arbeitsmaschinen gegenüber
der Handarbeit. Aber als der Verein für Sozialpolitik gegründet wurde, war es
die Generation, der Herr Geheimrat Wagner angehört, die damals ebenso ver-
schwindend an Zahl war, wie wir anders Denkenden heute es Ihnen gegenüber
sind, welche nach anderen als solchen rein technischen Mstäben rief. Sie,
meine Herren, haben damals gegen jene Beifallssalve für die rein technologi-
schen Leistungen der industriellen Mechanisierung, wie sie die Manchesterlehre
damals darstellte, zu kämpfen gehabt. Mir scheint, Sie sind heute in Gefahr, sich
selbst in eine ebensolche Beifallssalve für das Maschinenwesen auf dem Gebiete
der Verwaltung und Politik zu verwandeln. Denn was ist es letztlich anders, was
wir von Ihnen gehört haben? Stellen Sie sich die Konsequenz jener umfassenden
Bureaukratisierung und Nationalisierung vor, die wir bereits heute im Anzuge
sehen. In den Privatbetrieben der Großindustrie sowohl, wie in allen modern or-
ganisierten Wirtschaftsbetrieben überhaupt reicht die »Rechenhaftigkeit«, der
rationale Kalkül, heute schon bis auf den Boden herunter. Es wird von ihm jeder
einzelne Arbeiter zu einem Rädchen in dieser Maschine und innerlich zuneh-
mend darauf abgestimmt, sich als ein solches zu fühlen und sich nur zu fragen,
ob er nicht von diesem kleinen Rädchen zu einem größeren werden kann. Neh-
men Sie als Spitze die autoritäre Gewalt des Staats oder der Gemeinde in einem
m o n a r c h i s c h e n Staatswesen, dann erinnert das lebhaft an das Aegyp-
tertum der Antike, das von diesem Geist des »Pöstchens« durchtränkt war von
oben bis unten. Es hat nie eine Bureaukratie gegeben, bis heute nicht, die an die
ägyptische Bureaukratie herangereicht hätte. Das steht r jeden fest, der ägypti-
sche Verwaltungsgeschichte kennt und es steht ebenfalls felsenfest, daß wir heu-
te unaufhaltsam einer
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 416
Entwicklung entgegeneilen, die recht genau diesem Vorbilde, nur auf anderer
Grundlage, auf technisch verbesserter, rationalisierter, also noch weit stärker
mechanisierter Grundlage folgt. Die Frage, die uns beschäftigt, ist nun nicht:
Wie kann man an dieser Entwicklung etwas ändern? – Denn das kann man nicht.
Sondern: Was folgt aus ihr? Wir erkennen ja sehr gern an, daß oben an der Spit-
ze unseres Beamtentums ehrenhafte und begabte Leute stehen, daß trotz aller
Ausnahmen auch solche Leute Chance haben, in der Hierarchie des Beamten-
tums emporzukommen, ganz ebenso, wie z. B. die Universitäten für sich in An-
spruch nehmen, daß trotz aller Ausnahmen sie eine Chance, eine Auslese für die
Begabten bilden. Aber so fürchterlich der Gedanke erscheint, daß die Welt ein-
mal etwa von nichts als Professoren voll wäre wir würden ja in die Wüste ent-
laufen, wenn so etwas einträte –, noch rchterlicher ist der Gedanke, daß die
Welt mit nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angefüllt sein soll,
die an einem kleinen Pöstchen kleben und nach einem etwas größeren Pöstchen
streben ein Zustand, den Sie, wie in den Papyri, so zunehmend im Geiste des
heutigen Beamtentums und vor allem seines N a c h w u c h s e s , unseren
heutigen Studenten, wiederfinden. Diese Leidenschaft für die Bureaukratisie-
rung, wie wir sie sich hier äußern hörten, ist zum Verzweifeln. Es ist, als wenn
in der Politik der Scheuerteufel, mit dessen Horizont der Deutsche ohnehin
schon am besten auszukommen versteht, ganz allein das Ruder führen dürfte, als
ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden s o l l t e n , die »Ordnung«
brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ord-
nung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen
Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden. Daß die Welt nichts
weiter als solche Ordnungsmenschen kennt in dieser Entwicklung sind wir oh-
nedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter
fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie e n t g e -
g e n z u s e t z e n haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von
dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Le-
bensideale. Die Antwort auf diese Frage gehört freilich heute nicht hierher.
Wir wollen vielmehr uns nun auch einmal fragen, wie die s o z i a l p o l i -
t i s c h e n Chancen liegen bei dieser fortschreitenden Bureaukratisierung, die
Sie so leidenschaftlich preisen. Meine Herren! Ich mußte den Kopf schütteln bei
der Idee, die Sie fast alle hier ergriffen zu haben scheint, daß, wenn man den
privaten Arbeitgeber in möglichst großem Umfange ersetzt durch einen staatli-
chen oder städtischen Beamten, daß dann etwas anderes eintreten könne, als daß
die Staatsmacht nun erfüllt wird von A r b e i t g e b e r e m p f i n d u n -
g e n . Die Beamten haben ja doch denselben Aerger und Kleinkrieg, den der
Privatindustrielle mit seinen Arbeitern glich zu durchmpfen hat, nun ihrer-
seits am Halse, und man wird doch nicht glauben wollen, daß das der Sozialpoli-
tik zugute kommen nnte. Es sind ja doch, immer die Angestellten, die Beam-
ten, auch in der Privatindustrie,
Ueber »die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinde«. 417
die päpstlicher sind als der Papst, mit denen für unsereinen viel weniger zu ver-
handeln ist als mit den Fabrikanten selbst. Wie soll es denn werden, wenn die
Beamten des Staates und der Gemeinden immer breitere Schichten von Arbei-
tern unter sich haben? Werden sie mehr sozialpolitische Gesinnung bekommen
bei den fortgesetzten unvermeidlichen Reibungen mit den Arbeiterorganisatio-
nen? Man hat ja sogar geglaubt, daß indem er Zechen übernimmt und ins Koh-
lensyndikat hineingeht, dies Kartell mit sozialpolitischen Gesichtspunkten erfüllt
werden müßte; ja, was glaubt man denn, wenn diese Umarmung stattfinden
würde, was für einem Schicksal dabei der Staat entgegenginge? Er würde nicht
die Rolle Siegfrieds, sondern diejenige König Gunthers mit Brunhilde spielen.
Bekanntlich sind die Verhältnisse der staatlichen Gruben das Uebelste, was es
überhaupt an Sozialpolitik gibt. Sie nnen es auch von keinem Menschen an-
ders verlangen. Würde ich an die Stelle gesetzt, ich nnte auf die Dauer auch
nicht verhindern, wenn ich glich die Reibungen mit den Arbeitern, mit den
einzelnen und mit den Organisationen habe, daß mir der Zorn über diese ewigen
Hemmungen meiner so sorgsam ausgeklügelten Ordnungen aufstiege und daß
ich wünschen würde, diese Leute zum Teufel schicken zu können, denn ich
würde ja als Bureaukrat glauben, mich selbst zu niedrig einzuschätzen, wenn ich
nicht beanspruchte, ihr eigenes Wohl viel besser zu kennen als diese »Dumm-
köpfe« selbst. Die öffentlichen Beamten, die sich doch mit Recht für viel intelli-
genter als ihre Arbeiter einschätzen, deren Psyche wird bei Konflikten genau so
klingen wie das, was ich eben gesagt habe. Die Herren mögen so tüchtig und
weitsichtig sein wie sie wollen, sie werden aber mürbe in dem täglichen Interes-
senkampf, ich würde auch mürbe werden und dieselben Konsequenzen ziehen,
wie ich sie ihnen unterstelle. Nur ein von Arbeitgebergesinnung f r e i e s
Gemeinwesen kann auf die Dauer »Sozialpolitik« treiben. Welche Konsequen-
zen daraus zu ziehen sind das erörtere ich heute nicht. Nur der kritiklosen
Verherrlichung der Bureaukratisierung wollte ich entgegentreten.
Die Idee der immer weiter um sich greifenden Verstaatlichung und Kommu-
nalisierung ist ja innerhalb des Vereins für Sozialpolitik mit sehr verschiedener
Intensit vom Anfang seiner Geschichte an vertreten worden. Einen solchen
universalen Verstaatlicher, wie Herrn Geheimrat Wagner, haben wir allerdings
wohl nur als Einspänner, ich möchte beinahe sagen: als Rarität innerhalb unseres
Vereins gehabt. Ich weiß, daß es auch andere gegeben hat. Ich weiß, daß einer
von diesen auch unser verehrter Lehrer Herr Professor von Schmoller war, wenn
er auch sehr viel vorsichtiger war und, woran er mich vorhin erinnerte, die Ei-
senbahnverstaatlichung in Frankreich z. B. mit sehr skeptischen Augen angese-
hen hat. Wie dem sei, ein wesentliches Agens dieser in verschiedenem Grade
unter uns verbreiteten Vorliebe für die Bureaukratisierung ist ein rein m o r a -
l i s t i s c h e s Empfinden: der Glaube an die Allmacht des von niemand be-
zweifelten hohen m o r a l i s c h e n Standards gerade
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 418
unseres deutschen Beamtentums. Ich persönlich betrachte solche Fragen
a u c h unter dem Gesichtspunkt der internationalen Machtstellung und Kultur-
entwicklung eines Landes. Da spielt nun die »ethische« Qualität der Maschine
heute eine entschieden a b nehmende Rolle. Gewiß: soweit sie die Präzision des
Funktionierens der Maschine fördert, ist die »Ethik« wertvoll für den Mecha-
nismus als solchen. Ich habe aber den Eindruck: Ja, diese »korrupte« Beamten-
schaft Frankreichs, diese korrupte Beamtenschaft Amerikas, diese so viel ge-
schmähte Nachtwächterregierung Englands usw. – wie fahren denn diese Länder
eigentlich dabei? wie fahren sie z. B. auf dem Gebiet der auswärtigen Politik?
Sind w i r es denn, die vorwärts gekommen sind auf diesem Gebiete oder wer
ist es? Demokratisch regierte Länder mit einem zum Teil zweifellos korrupten
Beamtentum haben sehr viel mehr Erfolge in der Welt erzielt, als unsere hoch-
moralische Bureaukratie, und wenn man rein »realpolitiscurteilen soll und
wenn ferner es sich letztlich um die Machtgeltung der Nationen in der Welt
handelt und viele von uns stehen doch auf dem Standpunkt, daß das der letzte,
endgültige Wert sei –, d a n n frage ich: welche Art der Organisation: pri-
vatkapitalistische Expansion, verbunden mit einem reinen business-
Beamtentum, welches der Korruption leichter ausgesetzt ist, oder staatliche
Lenkung durch das hochmoralische, autoritär verklärte deutsche Beamtentum ,
welche Art der Organisation hat h e u t e die größte »efficiency«? um einen
englischen Ausdruck zu gebrauchen –, und dann kann ich vorläufig nicht aner-
kennen, bei aller tiefen Verbeugung vor dem ethisch korrekten Mechanismus
der deutschen Bureaukratie, daß sie heute noch sich fähig zeige, auch nur so viel
zu leisten für die Größe unserer Nation, wie das moralisch vielleicht tief unter
ihr stehende ausländische, seines göttlichen Nimbus entkleidete Beamtentum,
verbunden mit dem nach Ansicht vieler von uns so höchst verwerflichen Ge-
winnstreben des privaten Kapitals.
Ebendaselbst zu den Verhandlungen über die Produktivität
der Volkswirtschaft.
In dem Begriff des »Volkswohlstandes« steckt offensichtlich alle Ethik der
Welt, die es gibt. Man operiert nun, um das auszuschalten, mit dem Gedanken,
daß »Volkswohlstand« identisch sei mit einem möglichst großen Einkommen al-
ler einzelnen Teilhaber einer Wirtschaftsgruppe. Demgegenüber möchte ich Sie
doch im Anschluß an Sombarts schönes Buch hinweisen auf die mische Kam-
pagna. Sie ist im Besitz einer Handvoll riesig reicher Grundbesitzer. Diesen ste-
hen gegenüber eine Handvoll riesig reicher Pächter. Ihnen gegenüber stehen
mit etwas Uebertreibung einige Händevoll Hirten, die mit Leichtigkeit von
diesen Geldmächten so bezahlt werden k ö n n t e n , daß sie nicht zu stehlen
und zu hungern brauchten, daß auch sie »zufriede ren. Diese dünne Men-
schengruppe, welche diese »Wüste« bevölkert, k ö n n t e bei diesem Zustand
ein
Ueber die Produktivität der Volkswirtschaft. 419
Maß von privatwirtschaftlichem Wohlstand haben, welches allen von ihr selbst
gestellten Anforderungen entspricht. Wenn Sie, meine Herren, sich nun aber auf
einen Bewertungsstandpunkt, welcher Art er immer sei, stellen wollen, der sich
n i c h t absolut mit dem egoistischen Interesse dieser paar Leute, mit deren
rein p r i v a t wirtschaftlichen Rentabilitätsinteressen deckt, dann frage ich Sie:
Sind Sie mit diesem Zustand zufrieden, entspricht er Ihrem »Produktivitäts«-
Ideal angesichts des Umstandes, daß von anderen Gesichtspunkten zu schwei-
gen auf diesen gewaltigen Ländereien Massen von Bauern Platz hätten mit
Geldeinkommen, deren Summen außerordentlich viel größer sein nnten, als
die Summe der Einkommen, die jetzt aus jener Wüste kommen? Kritisiert man
aber den heutigen Zustand von irgendwelchen derartigen Gesichtspunkten aus,
so ist sofort ein a n d e r e r als der uns hier entwickelte Begriff von
»Wohlstand« vorausgesetzt. Ich glaube also, auch in demjenigen Begriff von
Volkswohlstand, welchen Herr Kollege Liefmann eben hier entwickelt hat,
steckt ganz dasselbe darin, was wir ablehnen, nur mit ein bißchen anderen Wor-
ten, wie sich gerade an jenem Beispiel, an der Vernichtung der Korinthen und
des Reises demonstrieren ließe. Den Unternehmern, sagt Liefmann, sei klar ge-
worden, daß sie ihr Kapital und ihre Arbeitskraft entsprechend einschränken
ßten, damit ihr privates Einkommen sich in angemessenen Grenzen halte. Ja
schön, aber die Vernichtung des Reises war doch eine Schädigung bestimmter,
zweifelsohne vorhandener Interessen derjenigen Volksschichten nämlich, wel-
che sehr glücklich gewesen wären, wenn sie die Korinthen oder den Reis mög-
lichst billig zum Essen bekommen hätten und deren privater »Wohlstand« durch
die Vernichtung geschädigt wurde. Es sind ausschließlich Unternehmerinteres-
sen, die hier zugrunde gelegt wurden.
Ich bin mit Professor Sombart einig, das Hineinmengen eines Seinsollens in
wissenschaftliche Fragen ist eine Sache des Teufels, die der Verein für Sozialpo-
litik allerdings recht oft in ausgiebiger Weise besorgt hat.
Damit komme ich zu dem eigentlichen Problem. Gewiß, es ist wahr, eine em-
pirische Wissenschaft gibt es nicht anders als auf dem Boden des Seins, und sie
besagt n i c h t s über das Sollen. Freilich möchte ich das wird Sombart si-
cherlich selbst zugeben damit nicht gesagt haben, es könne gar keine wissen-
schaftliche Diskussion geben, welche das Gebiet des Seinsollens berührt. Es
fragt sich nur, in welchem Sinne. Zunächst: Ich kann jemandem, der mir mit ei-
nem bestimmten Werturteil entgegentritt, sagen: mein Lieber, du irrst dich ja
über das, was du selbst eigentlich w i l l s t . Sieh: ich nehme dein Werturteil
und zergliedere es dir dialektisch, mit den Mitteln der L o g i k , um es auf sei-
ne letzten Axiome zurückzuführen, um dir zu zeigen, daß darin die und die
»letzten« m ö g l i c h e n Werturteile stecken, die du gar nicht gesehen hast,
die vielleicht sich untereinander gar nicht oder nicht ohne Kompromisse vertra-
gen und zwischen denen du also w ä h l e n mußt. Das ist nicht empirische,
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 420
1 o g i s c h e Gedankenarbeit. Nun aber kann ich ferner sagen: wenn du ge-
mäß diesem bestimmten, wirklich eindeutigen Werturteil im Interesse eines be-
stimmten Sollens handeln willst, d a n n mußt du, nach wissenschaftlicher Er-
fahrung, die und die M i t t e l anwenden, um deinen, jenem Wertaxiom ent-
sprechenden, Zweck zu erreichen. Passen diese Mittel dir nicht, so mußt du
wählen zwischen Mitteln und Zweck. Und endlich kann ich ihm sagen: du mußt
bedenken, daß du, nach wissenschaftlicher Erfahrung, mit den für die Realisie-
rung deines Werturteils unentbehrlichen Mitteln noch andere, unbeabsichtigte
N e b e n e r f o l g e erzielst. Sind dir diese Nebenerfolge auch erwünscht; ja
oder nein? Bis an die Grenze dieses »Ja« oder »Nein« kann die Wissenschaft
den Mann führen denn alles, was diesseits liegt, sind Fragen, auf welche eine
empirische Disziplin oder aber: die Logik, Auskunft geben kann also rein wis-
senschaftliche Fragen. Dieses »Ja« oder »Nein« s e l b s t aber ist k e i n e
Frage der Wissenschaft mehr, sondern eine solche des Gewissens oder des sub-
jektiven Geschmacks jedenfalls eine solche, deren Beantwortung in einer an-
deren Ebene des Geistes liegt. Es ist deshalb allerdings nicht schon an sich eine
Sache absoluten Unsinns, wenn man auch in einem w i s s e n s c h a f t l i -
c h e n Verein über praktische Fragen diskutiert sofern man sich nur darüber
klar ist, daß man sich letztlich dabei nur fragen kann: welche Mittel und welche
Nebenerfolge ssen in Kauf genommen werden, wenn nach diesem oder wenn
nach jenem anderen Grundsatz gehandelt wird das sind Fragen der empiri-
schen Wissenschaft –, und ferner: was für l e t z t e Positionen stecken in den
sich bekämpfenden Werturteilen das ist eine logische, also ebenfalls jedem
theoretisch denkenden Menschen aufzwingbare wissenschaftliche Erörterung.
Der Sündenfall beginnt erst bei der Vermengung dieser rein empirischen oder
rein logischen Gedankenreihen mit subjektiven praktischen Werturteilen. Dar-
über wird Sombart mit mir einig sein, denke ich.
Nun ist uns heute ein Begriff vorgeführt worden, der in dieser Hinsicht zu den
allerschlimmsten hlt, die es gibt, und anstatt diesen Begriff in den Orkus zu
werfen, wohin er gehörte, hat man versucht, ihn zu retten. Gewiß, es wurde sehr
schön zu analysieren versucht, um welche Fülle von ganz differenten »Proble-
mees sich bei dem Begriff der volkswirtschaftlichen Produktivität, mit dem
sich heute jeder Demagoge schmückt, handelte. Das Ende aber war, daß man
doch wieder auf »Durchschnittsurteile« herauskam, welche als Mstäbe zu gel-
ten hätten. In dieser Form ist selbst von einem so ungewöhnlich systematisch
veranlagten Kopf, wie unser verehrter Kollege von Philippovich es ist, ja selbst,
wenn auch nur in einer leisen Anspielung von einem reinen Theoretiker, wie
Herrn von Wieser, dieser Begriff dann doch schließlich akzeptiert worden. Da
muß ich allerdings sagen, da kann ich nicht mitmachen. Hoffentlich kann nie-
mand das auf die Dauer mitmachen, und ich bedaure eigentlich, daß eine
t h e o r e t i s c h e Frage hier in dieser Art diskutiert wird. Welche
Ueber die Produktivität der Volkswirtschaft. 421
Widersprüche! Da steht so außerordentlich richtig in dem vorzüglichen, durch-
sichtigen und klaren, schriftlichen Referat von Herrn von Philippovich: » W i r
h a b e n k e i n einheitliches Werturteil.« Kaum aber ist dies gesagt, so
taucht doch wieder die »Produktivität« auf und es heißt nun: es bilden sich über-
all »Durchschnittsurteile« über das, was geschehen soll. Ja eben diese Durch-
schnittsurteile zu kritisieren und zu zeigen, was dahinter für Probleme stecken,
d a s wäre doch die Aufgabe der Wissenschaft und nichts anderes. Der Grund,
weshalb ich so außerordentlich scharf bei jeder Gelegenheit, mit einer gewissen
Pedanterie meinetwegen, mich wende gegen die Verquickung des Seinsollens
mit dem Seienden, ist nicht der, daß ich die Fragen des Sollens unterschätze,
sondern gerade umgekehrt: weil ich es nicht ertragen kann, wenn Probleme von
weltbewegender Bedeutung, von größter ideeller Tragweite, in gewissem Sinne
höchste Probleme, die eine Menschenbrust bewegen können, hier in eine tech-
nisch-ökonomische »Produktivitäts-«Frage verwandelt und zu einem Gegen-
stand der Diskussion einer F a c h disziplin, wie es die Nationalökonomie ist,
gemacht werden. Fragen wir uns, warum immer wieder gegen jene so einfachen
Grundsätze gesündigt wird, speziell auch von Mitgliedern unseres Vereins: In
der historischen Situation, in der der Verein für Sozialpolitik als eine p r a k -
t i s c h e , und nicht als eine wissenschaftliche Vereinigung ins Leben trat, da
verstand es sich für ihn, der eine kleine Kampfpartei gegenüber mächtigen Geg-
nern war, von selbst, daß er vor allen Dingen mit der Zerstörung von allerhand
Interessentengerede, welches sich als Wissenschaft gebärdete, zu beginnen hat-
te. Er sti dabei auf das Vorurteil w i s s e n s c h a f t l i c h e r Kreise: daß
eine Wissenschaft, die sich mit dem Streben nach Geldverdienst als causa mo-
vens des sozialen Lebens zu befassen hat, d e s h a l b auch jenes Streben als
einzigen Maßstab der Bewertung von Menschen oder Dingen oder Vorgängen
zu betrachten habe. Im Kampf gegen diese Vermengung von Wissenschaft und
Werturteil aber widerfuhr es unseren Lehrmeistern, daß sie ganz dieselbe Sünde,
nur mit anderen Vorzeichen, begingen. Um die Alleingültigkeit jenes
W e r t m a ß s t a b e s zu entkräften, suchten sie neben dem individuellen
Streben nach Geldverdienst a n d e r e Ursachen im Handeln der Menschen
als wirtschaftlich relevant zu erweisen – natürlich mit vollem Recht! –, a b e r :
mit dem Ergebnis, daß nun wissenschaftliche Untersuchung und Werturteil
e r s t r e c h t in engster Umschlingung verquickt blieben, auch jetzt durch
Feststellung von Tatsachen und ihren Zusammenhängen Urteile über das Sein -
s o l l e n d e zu stützen versucht wurden. Es war eine außerordentlich erklärli-
che Sünde, eine »läßliche«, fast unvermeidliche, von uns allen und erst recht
von allen unseren Gegnern immer wieder begangene Sünde. Wenn nun aber aus
dieser häufigen Gelegenheitssünde eine Denkgewohnheit und gar eine Tugend
gemacht worden ist, so müssen wir dagegen protestieren, zumal wir manche un-
angenehmen Konsequenzen wieder und wiedergesehen haben. Immer wieder
geschah es, daß man ge-
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 422
glaubt hat, ein Mensch sei deshalb w i s s e n s c h a f t l i c h erledigt, weil er
unsere e t h i s c h e n Urteile nicht teilt. Das ist unmöglich, das nnen wir
bei allem Respekt für die Generation, die die großen mpfe der Vergangenheit
geführt hat und deren Epigonen wir heute sind, und ohne deren mächtigen Un-
terbau unsere Arbeiten gar nicht möglich wären, nicht mitmachen. Das ist der
Punkt, wo wir den Versuch machen müssen, auf einen anderen Boden zu kom-
men, und ich stimme mit Professor Sombart vollkommen darin überein, daß wir
sowohl der Wissenschaft wie auch g e r a d e dem p r a k t i s c h e n Wol-
len nur einen Dienst erweisen, wenn wir beides reinlich scheiden. Und wenn wir
mit einem gewissen Bedauern feststellen müssen, daß heute eine stärkere Diffe-
renzierung der Werturteile auch in unserer Mitte eingetreten ist als früher, so
gebietet uns die Ehrlichkeit, das offen zu konstatieren. Wir kennen keine wis-
senschaftlich beweisbaren Ideale. Gew: die Arbeit ist nun härter, sie aus der
eigenen Brust holen zu sollen in einer Zeit ohnehin subjektivistischer Kultur. Al-
lein wir haben eben überhaupt kein Schlaraffenland und keine gepflasterte Stra-
ße dahin zu versprechen, weder im Diesseits noch im Jenseits, weder im Denken
noch im Handeln; und es ist das Stigma unserer Menschenwürde, daß der Friede
unserer Seele nicht so groß sein kann als der Friede derjenigen, der von solchem
Schlaraffenland träumt.
* * *
Ich habe nochmals ums Wort gebeten, um einige Bemerkungen zu dem zu
machen, was Herr Dr. Goldscheid gesagt hat. Er hat zwei Fälle aufzuzeigen
gesucht, in denen Wertprobleme in der empirischen Wissenschaft drinlägen. Be-
züglich des einen Falles gebe ich zu, daß das zutrifft – ich beanspruche sogar für
mich, daß ich seit Jahren das gleiche gesagt habe. Die Frage, w e l c h e Pro-
bleme wir uns stellen sollen, r was wir uns also interessieren sollen, was wis-
sens w e r t sei, ist eine Wertfrage und kann nur von subjektiven Wertungen
aus entschieden werden. Aber selbstredend hat das nichts zu schaffen mit der
Frage, ob wir die Probleme, für die wir uns interessieren, so zu behandeln ha-
ben, daß wir von der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Erörterung alle und jede
B e u r t e i l u n g als in einer anderen Ebene des Geistes liegend fernhal-
ten. Darum allein handelt es sich. Etwas anders steht es mit dem zweiten
Punkt, den er erörterte. Er hat der Nationalökonomie empfohlen, doch, was all-
seitig anerkannt sei, auch ihrerseits anzuerkennen und also die anerkannteste
von allen Wissenschaften, die Naturwissenschaft, als Wegweiser zu nehmen,
und zwar gerade auch für das Sein s o l l e n d e . Nun, ich gestehe zunächst,
was bisher an solchen angeblich »naturwissenschaftlicbegründeten Wegwei-
sern vorliegt, ist m. E. keinen Schuß Pulver wert. Ich darf mir erlauben, dabei
auch anzuknüpfen an eine Bemerkung des Herrn Kollegen Zwiedineck, der
mich erinnert an die neueste Form der zu allen Zeiten so verbreitet gewesenen
Liebhaberei, aus naturwissenschaftlichen Entdeckungen, heutzutage aus den Ge-
Ueber die Produktivität der Volkswirtschaft. 423
setzen der Energieumwandlung, aus der Entropielehre, aus dem steten Streben
der freien Energie, sich in ruhende zu verwandeln, Urteile über das Sollen abzu-
leiten. Es ist sogar versucht worden, von diesem Standpunkt aus zu beurteilen,
womit sich die Malerei zu beschäftigen habe u. dgl. m. Ich bin der Meinung, daß
ein echter Naturforscher von einem wahren Schauder erft werden müßte,
wenn ihm zugemutet wird, derartig praktische Werturteile in seine Arbeit hi-
neinzutragen oder als deren Resultat auszugeben. Gerade von der Naturwissen-
schaft hofften wir bei dem Gedanken: Umkehr und Einkehr zu halten bei uns,
Unterstützung zu finden, statt daß sie unsere schlimmsten Sünden zu überbieten
für ihre Aufgabe ansieht.
Da ich nun aber einmal an diese technologisch orientierten »Ideale« ange-
knüpft habe, so möchte ich gern noch einiges mehr Positive zu unserem heuti-
gen Problem der Brauchbarkeit des Produktivitätsbegriffs für unsere Disziplin
sagen. Wo hat dieser Begriff eigentlich heute im praktischen Wirtschaftsleben
seinen Sitz? In der privaten Buchführung unserer kapitalistischen Betriebe. Da
wird unterschieden zwischen »produktiven« Ausgaben und zwischen »unpro-
duktiven«, und zu diesen letzteren wird z. B. bei einer besonders häufigen Art
der Kalkulation alles gerechnet, was nicht als Lohnkosten eines Akkordarbei-
ters, der an einer Maschine steht und bestimmte Arbeit verrichtet, verrechnet
werden kann. Alle anderen sog. » u n p r o d u k t i v e n « Ausgaben, zu denen
neben den Kosten der Betriebskraft, der Werkstätte und Werkzeuge auch alle
Löhne und Gelter für Hilfsarbeit, für Meister, für die Kontoristen und die
mtlichen Bureaus des Betriebs und für die Betriebsleitung selbst, also: auch al-
le Kosten der eigentlichen Unternehmerleitung selbst, gehören – man glaubt sich
zuweilen in eine marxistische Welt versetzt, wenn man diese Art von Berech-
nung zu lesen bekommt –, werden als Zuschläge zu den »produktiven« hnen
verrechnet. Es wird also nur die körperliche Arbeit bestimmter Arbeiter als
»produktiv« bezeichnet und rechnerisch behandelt. Warum? Weil nur so die Ko-
sten mit jenem relativen wie Herr Kollege Herkner sehr richtig hervorgehoben
hat: ziemlich bescheidenen Maximum von Exaktheit überhaupt berechenbar
werden, die im Interesse des Betriebs erstrebt wird, Wenn wir nun einen »Pro-
duktivitäts«begriff von hier aus überhaupt übernehmen wollen in unsere Art von
Betrachtung, d a n n hätte er seine Stelle eben auch da zu finden, wo in der
Privatwirtschaft mit solchen Posten gerechnet wird. Wir hätten etwa zu erwä-
gen: ist es möglich und nützlich, in irgendeiner Weise auch bei unseren Betrach-
tungen in der Zurechnung der Kosten mit »Lohnzuschlägen« zu operieren, also
etwa ein bestimmtes Produktionsgebiet mit der darauf in einer bestimmten Pro-
duktionsrichtung arbeitenden Bevölkerung als eine Einheit zu behandeln und
nun zu fragen: was ßte dem Lohn eines Arbeiters als durch die geographi-
schen, politischen und ähnliche Bedingungen des Standortes entstehende
»Unkostezugeschlagen werden, um die Selbstkosten zu erhalten? Wie setzt
sich dieser Zuschlag zusammen? Wie hoch ist er im Vergleich
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 424
damit a n a n d e r e n S t a n d o r t e n ? Ob der Versuch einer solchen
Rechnung heute irgendeinen wissenschaftlich erheblichen Zweck hätte, möchte
ich hier ganz dahingestellt sein lassen. W e n n man aber mit einem »Produk-
tivitätsbegriff« operieren will, so gehört er hierher: in die Lehre von den
»volkswirtschaftlichen Unkosten«, genau an dieselbe Stelle also, wo er in der
Privatwirtschaft steht, und nicht in eine Lehre von dem politischen oder sozialen
»Werte« der Klassen oder in die Wertung der »Bedeutung« irgendeines konkre-
ten Erwerbszweigs für die Interessen der »Allgemeinheit« oder in was weich
alles r nicht hierher gehörige Fragen.
Damit ein »Produktivitäts«begriff von d e r Art, wie er im Gegensatz dazu
hier vorgetragen wurde, wirklich brauchbar sei, ßte gefordert werden, daß in
irgendeinem Sinn, wenigstens dem Prinzip nach, die ihm zugrunde liegende Re-
lation zwischen Aufwand und Ertrag empirisch e i n d e u t i g , für jeden Be-
trachter gleichmäßig, berechenbar oder doch abschätzbar, wie gesagt: »Dem
Prinzip nach«. Als in diesem Sinne »im Prinzip« berechenbar haben wir auf dem
Boden der Wirtschaft nur drei Beziehungen, bei denen die Verwendung eines
Produktivitsbegriffs der heute hier erörterten Art in Frage steht. Erstens: wenn
wir uns auf rein physikalischen Boden stellen, so nnen wir bei einem be-
stimmten Produktionsvorgang fragen: welche Energiemengen sind damit umge-
setzt, und in welchem »Güteverhältnis« steht die erzielte Energie, die chemische
Energie eines produzierten Nahrungsmittels z. B. zu dem Aufwand von Energi-
en – wohlgemerkt: bezahlten u n d u n bezahlten Energien, die dabei ver-
braucht worden sind? Das ist nun für uns nur eine theoretische Spielerei. Wenn
jemand sie machen will, wenn z. B. Ostwald und seine Anhänger sie machen, so
lassen wir ihnen das Vergnügen. Erstaunliche Unkenntnis verrät es nur, wenn
sie glauben, hinter den Preisen des Alltagslebens verbergen sich diese energeti-
schen Beziehungen, und das, was man technischen Fortschritt nennt, wäre ein-
fach identisch mit der Verbesserung des »Güteverhältnisses«, der Relation der
verbrauchten zu der erzielten Energiemenge. Erinnern sie sich nur daran, daß ja
gerade der menschliche Muskel eine natürliche Maschine darstellt, deren »Güte-
verhältnis« von schlechterdings keiner künstlichen Maschine erreicht wird, eine
Maschine, die 40 % von den ihr zugeführten Stoffen zu verwerten vermag, und
Sie werden geradezu sagen müssen: jeder technische Fortschritt, der den
menschlichen Muskel durch eine künstliche Maschine ersetzt, ist, in rein physi-
kalischem Sinne, eine V e r s c h l e c h t e r u n g des energetischen Güte-
verhältnisses.
Nun kommt die zweite Relation, eine ökonomische: die Beziehung nämlich
zwischen der Menge der unter gegebenen geographischen, sozialen, technischen
und anderen Bedingungen aufgewendeten m e n s c h l i c h e n » A r -
b e i t « zu einer Produktenmenge, die »erzeugt« wird. Man wird zwar sagen:
das sei eine rein t e c h n o l o g i s c h e Beziehung. Aber in Wirklichkeit ist
die Technologie ja nichts weiter als eine nach bestimmten Fragestellungen ge-
wendete Oeko-
Ueber die Produktivität der Volkswirtschaft. 425
nomik; denn auch jeder Techniker fragt letztlich: was k o s t e t die Sache?
Diese Relation kehrt in vielen für uns wichtigen Fragestellungen wieder, z. B.:
was leistet eine bestimmte Gruppe von Arbeitern, wenn ich sie ein und dieselbe
Arbeit verrichten lasse unter dem heißen Himmel Afrikas oder am Nordpol oder
unter unserem Klima. Aber ihr Vergleichbarkeitswert ist ersichtlich ein geringer;
Schon die Frage, die Kollege Sombart angeschnitten hat: »dieselbe« Menge Ar-
beit, wenn ich einzelne arbeiten lasse, jeden Arbeiter also, nach dem Smithschen
Beispiel, Stecknadeln von A bis Z herstellen lasse, oder wenn ich sie nun ar-
beitsteilig zusammennehme schon da fehlt die Vergleichbarkeit des Teilarbei-
ters mit dem Vollarbeiter, weil ihre Arbeit nicht mehr »dieselbe« ist: Es ist eine
andere physische und erst recht psychische Leistung, Vollarbeiter zu sein, als
Teilarbeiter, und wir müssen uns hüten, zu glauben, daß beides quantitativ wirk-
lich exakt in Beziehung zu setzen sei.
Endlich letztlich: die Rentabilität. Die kann man aus den Büchern des Unter-
nehmers »messen«, aber auch mit einem Vorbehalt. Ich stimme mit Herrn
Herkner überein, daß jede Rentabilitätsberechnung an Exaktheit so ziemlich al-
les zu wünschen übrig läßt; es sind zuweilen recht hohe und willkürliche »Prin-
zipien«, nach denen zur Berechnung der Selbstkosten bald auf hne und Mate-
rial, bald auf die Löhne allein 30-40 oder 100 % draufgeschlagen werden. – Was
man neuerdings uns an »Unexaktheit« in unseren volkswirtschaftlichen Arbeiten
vorwirft, das kann sich daneben immer noch sehen lassen. Und vor allem: diese
Buchführungen und Bilanzen sind »objektiv« ja nur insofern, als sie Produkte
des Ausgleichs bestimmter I n t e r e s s e n sind, auch beim Einzelunterneh-
mer. Wer will einen »objektiven«, allgemeingültigen Maßstab r »Abschrei-
bungen« und derartiges geben?
Immerhin: in d i e s e n Fällen ist die »Berechenbarkeit« wenigstens »im
Prinzip« vorhanden. Dagegen bei den, auch wenn sie »Durchschnittsurteile«
sind, dennoch stets r e i n s u b j e k t i v e n Ansichten über das s i t t -
l i c h Erlaubte oder das dem » A l l g e m e i n wohl Dienliche« ist sie es eben
gerade i m P r i n z i p n i c h t . Zum Schluß, da ich soeben Herrn Kolle-
gen Herkner zitierte, noch eine Bemerkung: Durchaus nicht nur die Grubenar-
beiter, sondern z. B. auch die Textilarbeiter empfinden mit steigendem Alter den
Druck der Arbeit schwerer. Und ferner finden wir, wenn wir die Arbeiter, wel-
che in der von Herrn Herkner erwähnten Erhebung befragt wurden, nach Lohn-
klassen einteilen und durchrechnen, oft das für den Sozialpolitiker, der die Be-
förderung des Menschen g l ü c k s als letzten Mstab nimmt, niederschmet-
ternde Resultat: daß jede steigende Lohnklasse einen geringeren Prozentsatz von
Arbeitern, die mit ihrer Berufsarbeit zufrieden sind, aufweist. In der Textilarbei-
terschaft kann, wenn ich mich nicht irre, dieser Prozentsatz je nach dem Gebiet
der Provenienz, einfach auf Null sinken. Mir schien der Eindruck Herkners über
das Maß der vorhandenen »Arbeitsfreude« und deren Chancen zu optimistisch.
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 426
A n h a n g .
Diskussionsrede auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in
Nürnberg 1911 zum Thema: Probleme der Arbeiterpsychologie
unter besonderer cksichtnahme auf Methode und Ergebnisse
der Vereinserhebungen.
Es ist von großen »Ergebnissedieser Untersuchungen gesprochen worden,
von glänzenden Arbeiten, die vorliegen. Es re ein schweres Mißverständnis,
wenn der Umstand, daß heute Herr Professor Herkner in seine persönlichen, von
ihm selbst erarbeiteten allgemeinen Gesichtspunkte über die Arbeiterpsycholo-
gie das, was bisher an diskutablen Ergebnissen unserer Enquete herausgekom-
men ist, eingeordnet hat, uns zu dem Schlusse verleiten würde, wir nnten
überhaupt schon von eigentlichen Ergebnissen reden. Herausgekommen, meine
Herren, ist bisher an endgültigen Resultaten noch g a r n i c h t s , nichts an-
deres wenigstens als einige Zahlen, die geeignet sind, einige Hypothesen zu
stützen, andere Hypothesen neu aufzustellen, die Fragestellung zu korrigieren
und und dies ist das bei weitem Wichtigste zu b e w e i s e n , daß an dem
Material, das hier in Angriff genommen worden ist, und mit Hilfe des weiter zu
gewinnenden ähnlichen Materials sich im Laufe der Zeit, und zwar einer sehr
langen Zeit mit s e h r h o h e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t wertvolle
und durchschlagende Ergebnisse werden gewinnen lassen.
Wir wollen uns doch erinnern, daß manche von uns hofften, auf dem Wege
solcher Untersuchungen z. B. den Problemen der V e r e r b u n g der Berufs-
qualitäten näher zu kommen.
Meine Herren! Der Schöpfer der psychologischen Methodik der Arbeitsunter-
suchung, Professor Kräpelin-München, sagte mir gelegentlich einer Rückspra-
che einmal: Herr Kollege, die ersten wirklich exakten Untersuchungen auf die-
sem Gebiete (der Vererbung solcher Qualitäten) werden wir beide nicht mehr er-
leben, das sind Dinge, die in Jahrzehnten vielleicht möglich sind, heute noch
nicht. Ich kann das heute nur unterschreiben. Nicht so, aber doch verwandt, liegt
es auf den sonst von uns behandelten Problemgebieten. Nur wer die Selbstentsa-
gung besitzt, seine eigene mühevolle Arbeit vorläufig als »Materiafür andere
Leute einfach in den Boden gestampft zu sehen für zukünftige Arbeiter, die nun
mit Hilfe dessen, was er an Hypothesen dabei herausgebracht hat, weiter arbei-
ten, seine eigenen »Resultate« aber vielleicht völlig umstürzen – nur den können
wir als Mitarbeiter wünschen. Meine Damen und Herren, mit dem größten
Nachdruck sei es gesagt: der Verein steht mit dieser Erhebung heute a m
A n f a n g dessen, was er will, und nicht am Ende, und er wird Jahrzehnte an
dieser Sache langsam und ruhig weiterzuarbeiten haben. Das ist keine einfache
Sache. Glänzende und bequeme Themata für Doktorarbeiten sind Dinge nicht,
bei denen man unter Umständen, wie auch ich es getan habe, zirka 30 000 Re-
chenexempel
Ueber Probleme der Arbeiterpsychologie. 427
bei einigen Mitarbeitern werden es 100 000 gewesen sein im Kopfe zu ma-
chen hat, um dann vielleicht zu finden, daß bei neun Zehntel von ihnen
n i c h t s herauskam. Wir hoffen auf eine Elite von Ideologen als Mitarbeiter,
die diese schwere Last einer rein mechanischen und auf keine Weise auf bezahl-
te Kräfte abzuwälzenden Arbeit auf sich nehmen wollen nicht abwälzbar auf
bezahlte Kräfte deshalb, weil n u r w ä h r e n d der eigenen persönlichen
Rechenarbeit –, darin unterscheidet sich diese statistische Arbeit von der Art ei-
nes Produzierens, wie es im allgemeinen bei der offiziellen Statistik der Fall ist
–, weil, sage ich, nur hrend des eigenen persönlichen fortwährenden Errech-
nens von Zahlen dem Bearbeiter die Einfälle kommen, die er braucht, um diese
Zahlen zu deuten und neue Fragestellungen zu finden.
Meine Damen und Herren! Wenn ich gesagt habe, es sei bei diesen Untersu-
chungen nichts herausgekommen, so ist das ja gewiß etwas zuviel gesagt. Es ist
schließlich eins dabei herausgekommen, eine Anregung auf Kreise, die sich von
uns sehr ungern anregen lassen. Wissenschaftlich aber auch »praktisch« an ei-
nem uns d i r e k t gar nichts angehenden Punkte. Ein Teil der Untersuchun-
gen ich erinnere z. B. an das, was in der Arbeit des Herrn Dr. Sorer zu lesen
ist, aber auch in anderen hat dazu geführt, daß Großbetriebe ad hoc Kalkula-
tionen angestellt haben, die sie bisher unterließen, weil sie den Eindruck gewan-
nen, daß, was wir für unsere Zwecke erfragen wollten, möglicherweise auch r
den Betriebsleiter selbst und seine Kostenkalkulation, also für die privatwirt-
schaftlich richtige Führung seines Betriebs von Wert sein könnte. Ich gebe mich
der Hoffnung hin, daß sich dieser Glaube langsam mit dem Weiterfortschreiten
dieser Untersuchungen in den Kreisen der Unternehmerschaft verbreiten wird.
Denn, meine Damen und Herren, kalkuliert wird heute auch in der Industrie nur
soweit, als es der Unternehmer für notwendig hält, und das hängt teils von äuße-
ren Situationen, teils von Traditionen ab. Wie sah es denn mit der Kostenkalku-
lation unserer deutschen Industrie noch vor 15, 20 Jahren in breiten Schichten
aus! Ungefähr folgendermaßen. Ein Betrieb, der auf irgendeinem Gebiete sa-
gen wir des Textilgewerbes der stärkste war, kalkulierte wirklich seine Kosten
für mtliche Warengattungen sorgfältig bis aufs letzte, machte daraufhin seine
Preislisten und gab sie seinen Abnehmern. Die anderen Betriebe suchten sich
auf mehr oder minder gewundenem Wege diese Preislisten zu verschaffen und
gaben dann schleunigst ein Plagiat davon als eigene »Preisliste« heraus, wobei
sie ihre Originalität nur dadurch wahrten, daß sie bei einigen Artikeln ein paar
Pfennig unter dem Preise des anderen auszeichneten. Das nannte man damals
»Kalkulation«. Das ist unter den Verhältnissen der immer schärfer werdenden
Konkurrenz schon heute sehr anders geworden, und es würde für unsere Unter-
suchungen natürlich wünschenswert sein, daß es immer weiter anders würde;
denn darauf, daß solche Kostenkalkulationen und Nachkalkulationen überhaupt
gemacht werden, daß auch der arbeitende
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 428
Mensch auf seine »Rentabilität« hin ebenso sorgfältig kalkuliert wird wie das
Rohmaterial oder wie die Kohle, auf seine Brauchbarkeit für den Betrieb, beruht
ein erheblicher Teil der Hoffnungen, die wir überhaupt für das Fortschreiten die-
ser Arbeiten haben können. Ich bemerke nebenbei, daß es eine ganze Anzahl
Kräfte gibt, die diesem Fortschreiten des Kalkulierens auch entgegenwirken.
Dazu gehört z. B. zuweilen die Kartellbildung. Wenn ich in einem Kartell sitze,
warum soll ich da eigentlich noch die Kosten kalkulieren? wird sich ein erhebli-
cher Teil der kartellierten Unternehmungen fragen. Es handelt sich also um ein
Fortschreiten des Kalkulationsbedürfnisses auf der einen Seite und um ein Er-
schlaffen und Nachlassen, unter ganz bestimmten wirtschaftlichen Entwick-
lungstendenzen, auf der anderen Seite. Aber ungestraft unterläßt man die genaue
Kalkulation auch im Kartell nicht. Wenn unsere Untersuchungen dazu beitragen,
innerhalb des Unternehmertums den Horizont für die Möglichkeiten exakter
Kalkulation zu verbreitern, dann halte ich das r einen angenehmen und nützli-
chen N e b e n e r f o l g der Untersuchung.
Nun zu den wenigen sachlichen Bemerkungen, die ich in der gegebenen be-
schränkten Redezeit zu machen habe. Herr Dr. v. Bortkiewicz hat zunächst ge-
sagt, man hätte absehen sollen von tabellarischer Wiedergabe von allem mögli-
chen erfragten Material, das zum Teil seiner Natur nach, wie z. B. die Frage
nach den künftigen Lebenszielen, zu einer tabellarischen Darstellung überhaupt
nicht geeignet sei. Ich muß dazu sagen: hier befanden sich die Mitarbeiter in ei-
ner gewissen Zwangslage. Es war nun einmal ihre Pflicht, da sie nicht abschlie-
ßende Resultate auf dem untersuchten Gebiete zu bieten hatten, sondern sich mit
der bescheideneren Rolle zu begnügen hatten, Halbfabrikate, teilweise Rohmate-
rial zu liefern, möglichst alles wiederzugeben, was sie erfragt hatten. Wenn da
nun in tabellarischer Form wiedergegeben steht: soviel Leute haben geantwortet:
ich bin aus eigener Neigung in den Beruf gegangen, oder weil die Eltern es
wollten, oder aus Not, so bin ich natürlich mit ihm ganz darüber einverstanden,
daß das keine Feststellung ist, die einen Wert für die Frage hat: aus welchen
Gründen sind die Leute w i r k l i c h in den Beruf hineingegangen? M ö g -
l i c h e r w e i s e bleiben die so erhaltenen Antworten g a n z wertlos. Für
m ö g l i c h halte ich es aber, daß sie ein Interesse unter dem Gesichtspunkt
gewinnen nnen: was antworten die Leute eigentlich auf eine solche meinet-
wegen dumme Frage? Man bekommt mitunter auf dumme Fragen ganz wert-
volle Antworten. Herr v. Bortkiewicz hat weiter gesagt: für Schlüsse aus ir-
gendwelchen Zahlen müsse die Bekanntschaft und die richtige Verwendung des
Gesetzes der großen Zahl verlangt werden, und das sei von seiten der Bearbeiter
nicht immer berücksichtigt worden. Ich gebe auch da zu, daß man vom streng
statistischen Gesichtspunkt aus
3
/
4
-
4
/
5
oder noch mehr der Zahlen, die da abge-
druckt sind, einfach wird streichen nnen. Es ist aber eben auch da zunächst
die Pflicht der Bearbeiter gewesen, wiederzugeben, was an Zahlen da war, in der
Hoffnung, daß künftig viele kleine Zahlen einige hinläng-
Ueber Probleme der Arbeiterpsychologie. 429
lich große geben werden. Dem durften sie sich nicht entziehen. So schlecht steht
es übrigens mit der Nichtberücksichtigung des Gesetzes der großen Zahl in den
Untersuchungen wohl auch nach Ansicht des Herrn Kollegen v. Bortkiewicz
nicht, daß nicht ein guter Teil der Zahlen, die da erzielt sind, für den betreffen-
den Betrieb zum mindesten tatsächlich schon der Wirkung dieses Gesetzes un-
terstünden. Z. B. ist es klar, daß die 260 Arbeitswochen, mit denen Fräulein Dr.
Bernays operiert hat und aus denen sie die Wochenkurve der Arbeitsleistung
herausgerechnet hat, an sich gegen die Hunderttausende von Arbeitswochen, die
man theoretisch heranziehen k ö n n t e , eine ganz winzig kleine Zahl sind.
Aber um zu prüfen und das muß in jedem einzelnen Falle nachgeprüft werden
–, in welchem Stadium das Gesetz der großen Zahl, die Eliminierung des »Zu-
falls« also beginnt; um das zu prüfen, dazu dient u. a. auch die Zerlegung dieser
260 Arbeitswochen in noch kleinere Gruppen. Ergeben diese noch kleineren
Gruppen, daß bereits bei Zahlen von 50, 100 Arbeitswochen ein ähnlicher Ver-
lauf der Kurve zu beobachten ist, oder lassen sich, wo dabei der Verlauf der
Kurve ein evident abweichender ist, für diese Abweichung ebenso evidente
Gründe glaubhaft machen – und so s c h e i n t es wenigstens, bestimmter
möchte ich mich nicht ausdrücken –, d a n n ist es wahrscheinlich, daß selbst
mit diesen 260 Arbeitswochen, die an sich sehr klein erscheinen, bereits mit ei-
nem Grade von Genauigkeit, der allerdings sehr fraglich ist, sich immerhin die
ungefähre T e n d e n z widerspiegelt, die man, wenn man statt der
260 100 000 Arbeitswochen hätte rechnen nnen (was über Menschenkraft
geht), wahrscheinlich herausfinden würde. Dem wird Herr v. Bortkiewicz wohl
im Prinzip zustimmen.
Anderseits ist richtig, daß man aus dem, was ein einzelner Betrieb ergibt, un-
ter keinen Umständen generelle Schlüsse für ganz große, Deutschland umspan-
nende Industrien ziehen darf. Wenn wir aber bei dem Beispiel der Wochenkurve
bleiben und finden, daß bei den Untersuchungen, die ich seinerzeit angestellt
hatte, die Wochenkurve ganz ähnlich verlief wie nach der Arbeit des Dr. Sorer
in Wien und ebenfalls wieder ähnlich, wie bei Herrn Dr.-Ing. Bienkowsky, und
daß, soweit Abweichungen vorhanden sind, sich vorläufig durchaus plausible
Gründe angeben lassen, die diese Abweichungen, wiederum natürlich vorerst
nur m ö g l i c h e r weise erklären, so wird man soviel zugeben müssen, daß es
jedenfalls n a c h w e i s l i c h lohnt, die Zahl der Einzelbetriebe und nur an
Einzelbetrieben, auf k e i n e andere Weise als an den einzelnen Betrieben
können die Dinge, die wir da untersuchen, errechnet werden –, daß es, sage ich,
lohnt, auf diesem Wege weiterzugehen und die hypothetisch gefundenen Resul-
tate stets neu zu verifizieren, aber z u n ä c h s t einmal mit der H y p o -
t h e s e zu rechnen, daß sie in irgendeiner Weise, vielleicht einem gewissen
Typus des Sichverhaltens der Arbeiterschaft und ihrer Arbeitsintensität hrend
der Woche nahekommen. Das wird dann eben weiter zu prüfen sein. Es soll also
nichts weiter sein, als ein heuristisches Mittel mit dem Zweck: wenn uns neue,
ganz
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 430
andersartige Wochenkurven entgegentreten, zunächst einmal zu fragen: ist hier
irgendein konkreter G r u n d vorhanden, der diese Abweichung erklärt, und
nach solchen Gründen zu suchen. Auch dies wie jedes Verfahren birgt seine Ge-
fahren. Aber für den Anfang sehe ich keine andere Möglichkeit. Wir werden da-
durch gewiß v o r l ä u f i g immer wieder in eine neue Reihe von Hypothesen
verstrickt. Aber ich wenicht, wie wir auf diesem Gebiete weiter kommen sol-
len ohne solche Hypothesen, die sorgfältig als solche bezeichnet werden s-
sen. Und ich möchte darauf aufmerksam machen, daß, wenn gesagt worden ist
übrigens in einer sonst wohlwollenden Kritik einer der Arbeiten, von der ich
hier spreche: es sei mit zu großer Bestimmtheit behauptet worden, bei ganz klei-
nen Zahlen: das ist so, dann möchte ich demgegenüber konstatieren, daß in den
Arbeiten, auch der in Rede stehenden, i m m e r w i e d e r gesagt worden
ist, weiteres als solche Hypothesen, die als heuristische Prinzipien dienen n-
nen, können wir in absehbarer Zeit ü b e r h a u p t nicht zutage fördern.
Nun zu einigen anderen Punkten, wo m. E. ein gewisses Mißverständnis des
Zweckes dieser Erhebungen auf seiten des Herrn Kollegen v. Bortkiewicz vor-
liegt. Er hat mit Recht gesagt: was kann die Feststellung, daß in den Familien
soundso viel Kinder gestorben sind, in anderen soundso viel, angesichts der of-
fiziellen Kindersterblichkeitsstatistik für die Frage der Kindersterblichkeit aus-
machen? Was für die Frage der Zusammensetzung der Arbeiterschaft von Wien,
daß in einer Fabrik ein halbes Dutzend Tschechen, Ungarn usw. darin sind? Was
kann es ausmachen, wenn festgestellt wird, von der Arbeiterschaft eines Be-
triebs stammen soundso viel Prozent aus Orten von der und der Größe usw.? wo
wir das ja alles mit Hilfe der allgemeinen offiziellen Statistik doch viel beque-
mer machen nnen, da wir durch diese feststellen nnen, wie es mit der Pro-
venienz der g e s a m t e n Industriearbeiterschaft steht. Und endlich hat er ge-
fragt, was es ausmache, wenn für ein paar Dutzend Leute festgestellt wird, so-
viel von den Großvätern waren Bauern, Handwerker usw.? Das nnen wir aus
der allgemeinen Berufsstatistik viel besser feststellen. Das ist alles richtig. Aber
der Zweck der Feststellung der Zahlen war auch in gar keiner Weise, irgendwel-
ches Material zur Korrektur der Ergebnisse der allgemeinen Statistik zu liefern,
sondern die Zahlen wurden zu dem Zweck erhoben: einmal um etwaige auffal-
lende S o n d e r eigentümlichkeiten der Arbeiterschaft dieses konkreten Be-
triebes sofort hervortreten zu lassen, dann aber, um weiter zu untersuchen: un-
terscheiden sich diejenigen Leute, deren Großväter Bauern waren, in der Lei-
stungsfähigkeit, die wir mit Hilfe z. B. der Stuhluhren am Webstuhl errechnen,
von den Leistungen der Leute, deren Väter oder Großväter selbst schon Textil-
arbeiter waren? Unterscheiden sich die Tschechen in ihrer industriellen Lei-
stungsfähigkeit, zunächst natürlich in dem betreffenden Betrieb das muß an
soundso vielen anderen Betrieben verifiziert werden –, von den Deutschen? und
z. B. die Arbeit Dr. Sorers
Ueber Probleme der Arbeiterpsychologie. 431
hat ergeben, d a ß sie sich zu ihren Gunsten, in dem betreffenden Betriebe
vielleicht aus ganz individuellen Gründen, von anderen Nationalitäten unter-
scheiden. Ebenso ist es mit dem Unterschied der Konfessionen. Wir werden
doch keine Konfessionsstatistik auf diesem Wege bringen wollen. Ebenso end-
lich mit der Ortsgrößenprovenienz, die sehr bedeutende Unterschiede der Lei-
stungsfähigkeit zu ergeben scheint. Alle diese Dinge haben wir ausschließlich zu
dem Zweck erhoben, zunächst einmal zu wissen: so setzt sich die Fabrik zu-
sammen nach der Provenienz, der Konfession, der Muttersprache, nach dem Be-
rufsschicksal der Vorfahren und dem eigenen Berufsschicksal, um nun weiter zu
fragen: wie, je nach der verschiedenen Konfession, Provenienz, Ortsgröße usw.,
Beruf der Vorfahren, u n t e r s c h e i d e n sich die Leistungen unter sonst
gleichen Verhältnissen? Dabei mögen im einzelnen das will ich gern zugeben
wieder soundso viel Zahlenfehler passiert sein. Das ist möglich, das wäre zu
untersuchen. Herr v. Bortkiewicz gehört meinem Eindruck nach zu den wenigen
Leuten, die diese Untersuchungen wirklich so gelesen haben, wie sie gelesen
werden sollen. Das ist keine Kleinigkeit. Er wird uns hoffentlich noch weiter
durch seine Kritik fördern. Aber ich möchte ihn bitten, nur den Maßstab anzule-
gen, den wir ausgesprochenermaßen allein angelegt zu sehen wünschen. Ich
möchte nun aber ausdrücklich hervorheben, daß er jedenfalls in zwei Punkten
recht hat. Er hat erstens recht mit dem Wunsche, es möge der Vergleichbarkeit
der einzelnen Arbeiten halber ein Schema aufgestellt werden. Er wird Nachsicht
üben müssen, daß das nicht gleich geschehen ist; denn man mußte in der Tat erst
einmal abwarten, bis eine Anzahl Arbeiten vorlag, um zu fragen, welches Sche-
ma sollen wir auch nur einer so einfachen Sache wie der Altersgliederung
zugrunde legen? Ich würde heute z. B. Fräulein Dr. Bernays vorschlagen, eine
andere, detailliertere Art der Altersgliederung vorzunehmen auf Grund der ge-
machten Erfahrungen, und so wird es auch sonst stehen. Ferner ist die Kritik
richtig, die er an der Mobilitätsstatistik von Fräulein Dr. Bernays geübt hat. Hier
ist in der Tat unterlassen worden und das muß gebessert werden –, diejenige
Methode, die allein ein exaktes Bild der Mobilität geben kann, anzuwenden,
nämlich die Vergleiche der Ein- und Austritte mit dem durchschnittlichen Be-
schäftigungsmaß der Fabrik. Das ist ein Punkt, in dem ein positiver methodi-
scher Fehler vorliegt.
Im übrigen möchte ich manches, was ich zu sagen hätte, mit Rücksicht auf die
Zeit unterdrücken und nur noch gegenüber manchen Bemerkungen, die inner-
halb und außerhalb dieses Saales gefallen sind, folgendes sagen: Es ist immer
wieder gesagt worden, hier würde mit einer neuen Methode gearbeitet. Es ist so-
gar gesagt worden, ich hätte diese Methode erfunden. Das ist ein absoluter fun-
damentaler Irrtum. Davon ist keine Rede. Die gleiche Methode hat bereits Abbe
in seinen Arbeiten angewandt. Es ist davon, daß da irgendetwas zu erfinden ge-
wesen wäre, gar keine Rede, und ich möchte dringend davor warnen, daß wir
damit groß tun und sagen: wir haben
Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik. 432
ganz neue Methoden erfunden, nach dem Muster gewisser Reklamenationalöko-
nomen, die seit Jahren mit ähnlichen, absolut unrichtigen Behauptungen hausie-
ren gehen. Das ist nicht wahr. Die Sache ist ganz einfach. Wir sind gelegentlich
dieser Enquete darauf geführt worden, einmal ein M a t e r i a l , das zufällig
für die Zwecke der Enquete besonders nützlich war, daraufhin anzusehen, ob es
mit Hilfe einer längst von anderen geübten Methode behandelt werden nnte,
und wir stehen noch heute vor der Frage, inwieweit nun diese Behandlung end-
gültige, generalisierbare Aufschlüsse ergibt. Das, was diese Untersuchung bean-
spruchen darf, ist, bewiesen zu haben, daß Leute, die arbeitswillig sind auf gei-
stigem Gebiete, mit Hilfe bekannter Methoden und ihrer Anwendung auf ein
teilweise bisher nicht überall zugängliches Material w a h r s c h e i n l i c h
sehr nützliche Ergebnisse erzielen können. Aber weiteres nnen wir für uns
schon aus dem Grunde nicht beanspruchen, w e i l wir die lächerliche Anma-
ßung, mit der, im Gegensatz zum Verein für Sozialpolitik, gewisse angebliche
Schöpfer von angeblich neuen Methoden der Nationalökonomie sich breit ma-
chen, als das zu brandmarken gesonnen sind, was sie ist: G e s c h ä f t s r e -
k l a m e und weiter nichts.
433
Geschäftsbericht und Diskussionsreden auf den deutschen
soziologischen Tagungen (1910, 1912).
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt
1910.
Der Geschäftsbericht unserer Gesellschaft, den ich zu erstatten den Auftrag
habe, hat sich wesentlich zu erstrecken 1. auf die Verfassungsänderungen, wel-
che im Laufe des verflossenen Jahres die Gesellschaft vorgenommen hat, und 2.
auf die konkreten wissenschaftlichen Aufgaben, die sich die Gesellschaft für die
nächste Zukunft gestellt hat. Denn bei dem schwankenden Inhalt des Begriffes
»Soziologie« tut eine Gesellschaft mit diesem bei uns unpopulären Namen gut,
das was sie sein möchte, tunlichst durch ganz konkrete Angaben über ihre der-
zeitige Konstitution und ihre derzeitigen nächsten Aufgaben erkennbar zu ma-
chen.
Was nun das Erste anlangt, so sind folgende Grundsätze, die ich ganz kurz re-
gistriere, erst im Laufe des letzten Jahres in unseren Statuten zum Ausdruck ge-
langt: Erstens ein Prinzip, über welches ja schon mein verehrter Herr Vorred-
ner gesprochen hat –: daß die Gesellschaft jede Propaganda p r a k t i s c h e r
Ideen in ihrer Mitte grundsätzlich und definitiv ablehnt. Die Gesellschaft ist
nicht etwa »unparteiiscnur in dem Sinne, daß sie jedem gerecht zu werden,
jeden zu verstehen oder daß sie die beliebte, »Mittellinie« zu ziehen suchen
möchte zwischen Parteiauffassungen, zwischen politischen, sozialpolitischen,
ethischen oder ästhetischen oder andern Wertungen irgend welcher Art, sondern
daß sie mit diesen Stellungnahmen überhaupt nichts zu tun hat, daß sie auf allen
Gebieten schlechthin p a r t e i e n l o s ist. Es kann also das Bestehen, die Ei-
genart, die Forderungen und die Erfolge von politischen, ästhetischen, literari-
schen, religiösen und anderen Parteimeinungen selbstverständlich sehr wohl
Gegenstand einer auf die T a t s a c h e i h r e r E x i s t e n z , auf die ver-
meintlichen und wirklichen Gründe derselben, auf ihre Erfolge und Erfolgs-
chancen, auf ihre »prinzipiellen« und »praktischeKonsequenzen gerichteten
und diese durch rein objektive, von aller eigenen Bewertung frei, ermittelnden
A n a l y s e werden. Aber niemals, das besagt der jetzige § 1 unseres Statuts,
kann in unserer Gesellschaft das Für und Wider, der Wert oder Unwert einer
solchen Mei-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 434
nung Gegenstand der Erörterung werden. Wenn z. B. die Gesellschaft eine En-
quete über das Zeitungswesen veranstaltet ich werde davon zu sprechen haben
–, so ist damit nach unseren Grundsätzen gesagt: daß sie nicht im entferntesten
daran denkt, zu Gericht sitzen zu wollen über den faktischen Zustand, von dem
sie zu sprechen hat, daß sie nicht fragen wird: ob dieser Zustand erwünscht oder
unerwünscht ist, daß sie nichts weiteres tut, als feststellen: Was besteht? Warum
besteht es gerade so, wie es besteht? Aus welchen historischen und sozialen
Gründen?
Der zweite Grundsatz, den wir festgelegt haben, ist der, daß die Gesellschaft
keinen »Akademismus« treibt. Die Gesellschaft ist keine Notabilitätsgesell-
schaft, sie ist das gerade Gegenteil von irgend etwas wie eine Akademie; es
kann z. B. keine Geknktheit geben von Leuten, die etwa zufällig einem Aus-
schuß der Gesellschaft nicht angehören, es soll keine »Ehre« sein das klingt ja
etwas paradox –, diesem Ausschuß der Gesellschaft anzugehören; denn diese
Zugehörigkeit besagt nur: daß augenblicklich der Aufgabenkreis der Gesell-
schaft so gestaltet ist, daß die Herren, die in diesen Ausschuß eingetreten sind,
teils weil sie aus eigener Initiative uns ihre Neigung dazu kundgegeben haben,
teils weil wir sie von uns aus darum gebeten haben, für d i e s e konkreten
Aufgaben zweckmäßige Mitarbeiter sind, und daß sie die eine einzige allgemei-
ne Voraussetzung der Zuwahl erfüllen: daß sie mlich durch rein wissenschaft-
liche, also nicht praktische, sondern rein soziologische Leistungen bereits be-
kannt sind und auf diesem von jedem Parteistreit entfernten Boden mit uns zu-
sammenarbeiten wollen. Die Gesellschaft ist eine Arbeitsgemeinschaft, aber
nicht ich wiederhole es irgend etwas einer »Akademie« Aehnliches. Wer
immer bei uns in unserem Sinn mittun will, der mag es sagen: er ist herzlich
willkommen.
Drittens haben wir den Grundsatz festgelegt, daß die Gesellschaft keinen
»Ressortpatriotismus« treibt, daß sie nicht sich selbst als Selbstzweck ansieht,
nicht versucht, Aufgaben für sich zu konfiszieren und anderen wegzunehmen,
daß sie deshalb auch bei sich selbst dem Grundsatz der Dezentralisation der wis-
senschaftlichen Arbeit in weitgehendem Me huldigt.
Das kommt in unserer Verfassung darin zum Ausdruck, daß 1. der Schwer-
punkt der gesamten Arbeit der Gesellschaft nicht in Versammlungen der Mit-
glieder als solcher, sondern in den von der Gesellschaft für jede konkrete Ar-
beitsaufgabe einzusetzenden Ausschüssen liegt. Diese Ausschüsse, für die die
Gesellschaft nur den Vorsitzenden und eventuell einige Mitglieder möglichst
wenige hlt, sind jeder auf seinem Gebiet völlig souverän, insbesondere in
der Kooptation anderer, und zwar auch außerhalb der Gesellschaft stehender
Mitarbeiter. Insbesondere die Herren Praktiker, beispielsweise also auf dem Ge-
biete des Zeitungswesens die Zeitungsverleger und die Vertreter des Journalis-
mus, ohne die wir ja gar nicht arbeiten nnen, gehören in unsere Ausschüsse
hinein, wo wir mit ihnen mit vollem, gleichem Stimmrecht, in jeder Hinsicht
gleichberechtigt, zusammen-
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 435
arbeiten wollen, und wo wir von ihnen die direkten Anregungen für unsere Ar-
beiten zu finden hoffen.
Zweitens drückt sich der gleiche Grundsatz der Dezentralisation darin aus,
daß voraussichtlich die soziologische Gesellschaft nie wieder in der Form wie
heute und in den nächsten Tagen vor die Oeffentlichkeit treten wird, als eine un-
gegliederte Einheit, die eine ganze Reihe einzelner Themata nacheinander in
Vorträgen und Diskussionen behandelt. Es besteht vielmehr die Absicht, Abtei-
lungen sich bilden zu lassen. Die Bildung einer Abteilung für Statistik ist bereits
aus den Kreisen der Herren Statistiker angeregt worden, und die Gesellschaft hat
den Grundsatz, nun nicht schematisch die Bildung von Abteilungen ihrerseits
schematisch zu oktroyieren, sondern umgekehrt: den Interessenten in ihrer Mitte
es zu überlassen, sich zu Fachabteilungen zusammenzuschließen; – der Vorstand
wird dann mit diesen Abteilungen darüber verhandeln, welche Stellung inner-
halb der Gesellschaft ihnen einzuräumen ist, und zwar in dem Sinne, daß sie auf
ihren Gebieten so llig selbständig gestellt werden, wie es überhaupt denkbar
ist, daß es ihnen z. B. überlassen ist, ihrerseits die Fachmänner, und n u r die
Fachmänner, des betreffenden Gebietes heranzuziehen, unter Ausschluß aller
derjenigen, die nicht als solche zu betrachten sind; daß sie selbst zu beschlien
haben, welche Arbeiten sie vornehmen wollen und in welcher Weise. Wir wer-
den daher bei künftigen Soziologentagen sagen wir einmal nach zwei Jahren
oder eineinhalb Jahren – voraussichtlich, da auch von anderen Interessenten
ähnliche Anregungen zu gewärtigen sind, sehen, daß einerseits mehrere Abtei-
lungen nebeneinander tagen; vielleicht eine Abteilung für theoretische National-
ökonomie, innerhalb deren sich die Theoretiker und niemand anders über
theoretische Probleme unterhalten; eine Abteilung für Statistik, innerhalb deren
sich die Statistiker, die Fachstatistiker und niemand anders über ihre Probleme
unterhalten, natürlich nach ihrem eigenen Belieben auch unter Zuziehung
anderer, die sich dafür interessieren, aber, wenn sie es wollen, unter
Beschränkung der aktiven Teilnahme an der Auseinandersetzung auf die, die
etwas von den Dingen wirklich fachmännisch verstehen, und daß daneben die
Muttergesellschaft ihre Versammlungen in der Art lt, wie diesmal, aber wohl
möglichst unter Beschränkung auf einige wenige große, wenn möglich, durch
Publikationen und Arbeiten der Gesellschaft vorbereitete Themata. Denn die
Gesellschaft wird den Hauptnachdruck ihrer Tätigkeit zu verlegen haben auf die
Seite der P u b l i k a t i o n e n .
Ich habe nunmehr davon zu sprechen, was für Arbeiten die Gesellschaft in
dieser Art in Angriff nehmen will durch fachmännisch geleitete und durch einen
möglichst großen Kreis von Mitarbeitern, unter Beteiligung eines jeden, der mit
uns zusammenarbeiten will, der sich mit uns in den Dienst der Sache stellen
will, bearbeitete Publikationen. Es versteht sich, daß diese Ausführungen hier
nur einen ganz grob skizzenhaften, wenn sie wollen: feuilletonistischen Charak-
ter haben können. Denn, meine Herren, gerade die Formu-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 436
lierung der eigentlichen, von uns zu bearbeitenden F r a g e s t e l l u n g e n
ist ja die entscheidende wissenschaftliche Aufgabe.
Meine Herren, das erste Thema, welches die Gesellschaft als geeignet zu ei-
ner rein wissenschaftlichen Behandlung befunden hat, ist eine S o z i o l o -
g i e d e s Z e i t u n g s w e s e n s . Ein ungeheures Thema, wie wir uns
nicht verhehlen, ein Thema, welches nicht nur sehr bedeutende materielle Mittel
für die Vorarbeiten erfordern wird, sondern welches unmöglich sachgemäß zu
behandeln ist, wenn nicht die fahrenden Kreise der Interessenten des Zeitungs-
wesens mit großem Vertrauen und Wohlwollen in unsere Sachlichkeit dieser
Angelegenheit entgegenkommen. Es ist ausgeschlossen, daß, wenn wir auf sei-
ten der Vertreter des Zeitungsverlages oder auf seiten der Journalisten dem Miß-
trauen begegnen, daß die Gesellschaft irgendwelche Zwecke moralisierender
Kritik an den bestehenden Zuständen verfolge es ist ausgeschlossen, sage ich,
daß wir dann unsern Zweck erreichen, denn es ist ausgeschlossen, daß wir ihn
erreichen, wenn wir nicht im weitestgehenden Me von eben dieser Seite mit
Material versorgt werden nnen. Es wird in der nächsten Zeit das Bemühen des
Ausschusses, der dafür zusammenzusetzen ist, sein, nun die Fachmänner des
Pressewesens, einerseits die Theoretiker des Pressewesens, die heute bereits sehr
zahlreich existieren wir haben bekanntlich bereits glänzende theoretische Pu-
blikationen auf diesem Gebiete (lassen Sie mich im Augenblick nur an das Buch
von Löbl erinnern, deshalb, weil gerade dies auffallenderweise viel weniger ge-
kannt ist, als es verdient) und ebenso die Praktiker des Pressewesens zur Mit-
arbeit zu gewinnen. Es ist nach den vorläufig gepflogenen Verhandlungen Hoff-
nung vorhanden, daß wenn wir, wie es geschehen wird, in der allernächsten Zeit
uns sowohl an die großen Presseunternehmungen wie an die Verbände der Zei-
tungsverleger und Zeitungsredakteure wenden, dieses Wohlwollen uns entge-
gengebracht werden wird. Geschieht es nicht, so wird die Gesellschaft von einer
Publikation eher absehen, als eine solche zu veranstalten, bei der voraussichtlich
nichts herauskommt.
Meine Herren, über die Größe der allgemeinen Bedeutung der Presse hier et-
was zu sagen, hat ja keinen Zweck. Ich me in den Verdacht der Schmeichelei
gegenüber den Herren Pressevertretern, um so mehr, als das, was darüber von
hochstehenden Seiten schon gesagt worden ist, ja unüberbietbar ist. Wenn die
Presse mit kommandierenden Generalen verglichen worden ist es ist ja aller-
dings nur von der ausländischen Presse gesagt worden –, so wejeder Mensch:
darüber gibt es bei uns nichts rein Irdisches mehr, und es wäre nötig, in das Ge-
biet des Ueberirdischen zu greifen, um Vergleiche zu finden. Ich erinnere Sie
einfach daran: Denken Sie sich die Presse einmal fort, was dann das moderne
Leben wäre, ohne diejenige Art der Publizität, die die Presse schafft. Das antike
Leben, verehrte Anwesende, hatte auch seine Publizität. Mit Grausen stand Ja-
kob Burkhardt der Oeffentlichkeit des hellenischen Lebens, die die gesamte Exi-
stenz des athenischen Bürgers bis in die intimsten
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 437
Phasen hinein umfaßte, gegenüber. Diese Publizität besteht so heute nicht mehr,
und es ist nun schon interessant, einmal zu fragen: Wie sieht denn eigentlich die
heutige Publizit aus und wie wird diejenige der Zukunft aussehen, was wird al-
les durch die Zeitung publik gemacht u n d w a s n i c h t ? Wenn das engli-
sche Parlament vor 150 Jahren Journalisten zu kniefälliger Abbitte wegen
breach of privilege vor den Parlamentsschranken zwang, wenn sie über seine
Verhandlungen berichteten, und wenn heute die Presse durch die bloße Dro-
hung, die Reden der Abgeordneten nicht abzudrucken, die Parlamente auf die
Knie zwingt, so hat sich offenbar ebenso der Sinn des Parlamentarismus wie die
Stellung der Presse geändert. Und dabei ssen auch l o k a l e Differenzen
bestehen, wenn z. B. noch bis in die Gegenwart es amerikanische Börsen gab,
welche ihre Fenster mit Milchglas versahen, damit die Kursbewegungen auch
nicht durch Signale nach außen gemeldet werden könnten, und wenn wir auf der
anderen Seite doch sehen, daß fast alle wesentlichen Eigentümlichkeiten in der
Art der Zeitungszusammenstellung durch die Notwendigkeit, auf die Börsenpu-
blikationen Rücksicht zu nehmen, mitbeeinflußt werden. Wir fragen nun, wohl
gemerkt, nicht, was s o l l publik gemacht werden? Darüber gehen die Ansich-
ten weit auseinander, wie jedermann weiß. Es ist natürlich interessant, auch fest-
zustellen: w e l c h e Ansichten darüber heute bestehen und früher bestanden
und bei wem? Auch das fällt in unseren Arbeitskreis; aber nichts weiter als diese
faktische Feststellung. Jedermann wez. B., daß darüber in England andere
Ansichten bestehen als bei uns, daß man erlebt, daß wenn etwa ein englischer
Lord eine Amerikanerin heiratet, in der amerikanischen Presse ein Steckbrief
über Physis und Psyche dieser Amerikanerin mit allem, was dazu gehört, ein-
schließlich der Mitgift natürlich, zu finden ist, hrend nach den bei uns herr-
schenden Auffassungen wenigstens eine Zeitung, die etwas auf sich hält, in
Deutschland das verschmähen müßte. Woher diese Differenz? Wenn wir für
Deutschland festzustellen haben, daß heute das ernstliche Bemühen gerade bei
den ernsten Vertretern des Pressegeschäftes dahin gerichtet ist, rein persönliche
Dinge aus der Zeitungspublizität auszuschließen – aus welchen Gründen und mit
welchen Ergebnissen? so werden wir auch konstatieren müssen, daß auf der
anderen Seite ein sozialistischer Publizist wie Anton Menger der Meinung war:
umgekehrt im Zukunftsstaat würde die Presse gerade die Aufgabe haben, Dinge,
die man nicht dem Strafgericht unterstellen kann, vor ihr Forum zu führen, die
antike Zensorrolle zu übernehmen. Es lohnt sich festzustellen: w e l c h e letz-
ten Weltanschauungen der einen und der andern Tendenz zugrunde liegen.
N u r d i e s freilich, nicht eine Stellungnahme dazu, wäre unsere Aufgabe.
Wir werden unsererseits vor allem die M a c h t verhältnisse zu untersuchen
haben, welche die spezifische Zeitungspublizität schafft. Sie hat z. B. für wis-
senschaftliche Leistungen eine andere, wesentlich geringere Bedeutung, als etwa
für solche, die, wie eine schauspiele-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 438
rische oder Dirigentenleistung, mit dem Tage vergehen, und sie ist bei allem,
was unter dem Striche besprochen wird, überhaupt besonders groß: in gewissem
Sinn ist der Theater- und auch der Literaturrezensent derjenige Mann in der Zei-
tung, welcher am leichtesten Existenzen schaffen und vernichten kann. Für je-
den Teil der Zeitung, vom politischen angefangen, ist aber dies Machtverhältnis
äußerst verschieden. Die Beziehungen der Zeitung zu den Parteien bei uns und
anderswo, ihre Beziehungen zur Geschäftswelt, zu all den zahllosen, die Oef-
fentlichkeit beeinflussenden und von ihr beeinflußten Gruppen und Interessen-
ten, das ist ein ungeheures, heute erst in den Elementen bebautes Gebiet sozio-
logischer Arbeit. Aber kommen wir zu dem eigentlichen Ausgangspunkt der
Untersuchung.
Treten wir der Presse soziologisch näher, so ist fundamental für alle Erörte-
rungen die Tatsache, daß die Presse heute notwendig ein kapitalistisches, priva-
tes Geschäftsunternehmen ist, daß aber die Presse dabei eine vollständig eigen-
artige Stellung schon insofern einnimmt, als sie im Gegensatz zu jedem anderen
Geschäft zwei ganz verschiedene Arten von »Kundehat: die einen sind die
Käufer der Zeitung und diese wieder entweder der Masse nach Abonnenten oder
aber der Masse nach Einzelufer ein Unterschied, dessen Konsequenzen der
Presse ganzer Kulturländer entscheidend verschiedene Züge aufpgt –; die an-
deren sind die Inserenten, und zwischen diesen Kundenkreisen bestehen die ei-
gentümlichsten Wechselbeziehungen. Es ist z. B. ja gewiß für die Frage, ob eine
Zeitung viel Inserenten haben wird, wichtig, ob sie viel Abonnenten hat und, in
begrenzterem Me, auch umgekehrt. Aber nicht nur ist die Rolle, die die Inse-
renten im Budget der Presse spielen, bekanntlich eine sehr viel ausschlaggeben-
dere als die der Abonnenten, sondern man kann es geradezu so formulieren: eine
Zeitung kann nie zuviel Inserenten haben, aber und das im Gegensatz zu je-
dem anderen Warenverkäufer zuviel Käufer, dann nämlich, wenn sie nicht in
der Lage ist, den Insertionspreis so zu steigern, daß er die Kosten der immer
weiter sich ausdehnenden Auflage deckt. Das ist ein für manche Arten von Blät-
tern durchaus ernsthaftes Problem und hat ganz allgemein die Folge, daß von ei-
ner bestimmten Auflageziffer ab das Interesse der Zeitungen nach weiterer
Vermehrung nicht mehr steigt – wenigstens k a n n es so kommen, wenn unter
gegebenen Voraussetzungen eine weitere Erhöhung der Inseratenpreise auf
Schwierigkeiten stößt. Das ist eine Eigentümlichkeit nur der Presse, die rein ge-
schäftlicher Art ist, die aber natürlich ihre mannigfachen Konsequenzen hat.
Nun ist bei internationaler Vergleichung das Maß und die Art des Zusammen-
hanges zwischen der Presse, welche doch das Publikum politisch und auf ande-
ren Gebieten belehren und sachlich informieren will, und dem in dem Inseraten-
tum sich äußernden Reklamebedürfnis der Geschäftswelt ein höchst verschiede-
nes, namentlich wenn man Frankreich zum Vergleich heranzieht. Warum? mit
welchen allgemeinen Konsequenzen? das sind die Fragen, die wir, so oft dar-
über schon geschrieben wurde, doch wieder
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 439
aufnehmen müssen, da eine Uebereinstimmung der Ansichten nur teilweise be-
steht.
Nun aber gehen wir weiter: Ein Charakteristikum ist heute vor allem das
Wachsen des Kapital b e d a r f s für die Preßunternehmungen. Die Frage ist,
und diese Frage ist heute noch nicht entschieden, die best unterrichteten Fach-
männer streiten darüber: in welchem M dieser wachsende Kapitalbedarf
wachsendes Monopol der einmal bestehenden Unternehmungen bedeutet. Das
könnte vielleicht nach den Umständen verschieden liegen. Denn auch abgesehen
von der Einwirkung des steigenden Kapitalbedarfs ist die Monopolstellung der
schon bestehenden Zeitungen wohl verschieden stark, je nachdem die Presse re-
gelmäßig auf Abonnements beruht oder auf Einzelverkauf, wie im Ausland, wo
der einzelne jeden Tag die Wahl hat, ein anderes Blatt zu kaufen, als er am Tag
vorher gekauft hatte, und also so scheint es wenigstens auf den ersten Blick
das Aufkommen neuer Blätter vielleicht erleichtert ist. V i e l l e i c h t es
ist etwas, was untersucht und mit dem der wachsende Kapitalbedarf als solchem
in seiner Wirkung bei der Betrachtung kombiniert werden müßte für die Beant-
wortung der Frage: Bedeutet dieses wachsende stehende Kapital auch steigende
Macht, nach eigenem Ermessen die öffentliche Meinung zu pgen? Oder um-
gekehrt wie es behauptet, aber doch noch nicht eindeutig bewiesen worden ist
wachsende Empfindlichkeit des einzelnen Unternehmens gegenüber den
Schwankungen der öffentlichen Meinung? Man hat gesagt, der augenfällige
Meinungswechsel gewisser französischer Blätter man pflegt z. B. an den »Fi-
garo« gelegentlich der Dreyfußaffäre zu erinnern sei einfach daraus zu erklä-
ren, daß das so große in diesen modernen Zeitungsunternehmungen fest inve-
stierte Kapital gegen irgendwelche Mißstimmungen des Publikums, welche sich
in Abbestellungen äußern, in solchem Maße zunehmend nervös und dadurch
vom Publikum abhängig werde, weil es sie geschäftlich nicht ertragen nne
wobei freilich die in Frankreich bei herrschendem Einzelverkauf so große Leich-
tigkeit des Wechsels natürlich mit ins Gewicht fallen würde. Das hieße also, daß
steigende Abhängigkeit von den jeweiligen Tagesströmungen die Konsequenz
des wachsenden Kapitalbedarfs sei. Ist das wahr? Das ist eine Frage, die wir zu
stellen haben. Es ist von Preßfachmännern ich bin kein solcher behauptet, es
ist von anderen Seiten bestritten worden.
Ferner: Stehen wir im Gefolge der Zunahme des stehenden Zeitungskapitals
vielleicht, wie oft bei wachsendem Kapitalbedarf, vor einer Vertrustung des Zei-
tungswesens? Wie liegt die Möglichkeit einer solchen? Meine Herren, das ist
bestritten worden, auf das allerenergischste von Fachmännern der Presse allerer-
sten Ranges, von Theoretikern sowohl wie von Praktikern. Allerdings, der
hauptsächlichste Vertreter dieser Ansicht, Lord Northcliffe, nnte es vielleicht
besser wissen, denn er ist einer der größten Trustmagnaten auf dem Gebiete des
Zeitungswesens, die es überhaupt gibt. Welches aber würde die Folge für den
Charakter der Zeitungen sein, wenn
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 440
das geschähe? Denn daß die Zeitungen der großen, schon heute bestehenden
Konzerne einen vielfach anderen Charakter tragen als andere, lehrt der Augen-
schein. Genug ich führte diese Beispiele ja nur als solche an, die zeigen, wie
sehr der geschäftliche Charakter der Presseunternehmungen in Betracht zu zie-
hen ist –, wir müssen uns fragen: was bedeutet die kapitalistische Entwicklung
i n n e r h a l b des Pressewesens für die soziologische Position der Presse im
allgemeinen, für ihre Rolle innerhalb der Entstehung der öffentlichen Meinung?
Ein anderes Problem: Der »Institutions«charakter der modernen Presse findet
bei uns in Deutschland seinen spezifischen Ausdruck in der Anonymität dessen,
was in der Presse erscheint. Unendlich viel ist gesagt worden »für« und »wider«
die Anonymität der Presse. Wir ergreifen da keine Partei, sondern fragen: w i e
k o m m t e s , daß diese Erscheinung sich z. B. in Deutschland findet, h-
rend im Ausland teilweise andere Zustände bestehen, in Frankreich z. B., h-
rend England darin uns näher steht. In Frankreich ist heute eigentlich nur eine
einzige Zeitung vorhanden, die strikt auf dem Boden der Anonymität steht: der
»Temps«. In England haben dagegen Zeitungen, wie die »Times« auf das
strengste an der Anonymität festgehalten. Das kann nun ganz verschiedene
Gründe haben. Es kann sein – wie es z. B. bei der Times der Fall zu sein scheint
–, daß die Persönlichkeiten, von denen die Zeitung ihre Informationen hat, viel-
fach so hoch gestellt sind, daß es für sie nicht möglich wäre, öffentlich unter ih-
rem Namen Information zu geben. Die Anonymität kann aber in andern Fällen
auch den gerade umgekehrten Grund haben. Denn es kommt darauf an: Wie
stellt sich diese Frage vom Standpunkt der Interessenkonflikte aus, die nun ein-
mal darüber kommt man nicht hinweg bestehen zwischen dem Interesse des
einzelnen Journalisten daran, möglichst bekannt zu werden, und dem Interesse
der Zeitung daran, nicht in Abhängigkeit von der Mitarbeit dieses einzelnen
Journalisten zu geraten. Natürlich liegt auch so etwas geschäftlich sehr ver-
schieden, je nachdem ob Einzelverkauf vorherrscht oder nicht. Und vor allem
spielt dabei natürlich auch mit die politische Volkseigenart, je nachdem z. B., ob
eine Nation, wie es die deutsche tut, dazu neigt, sich von institutionellen Mäch-
ten, von einer als ein »überindividuelles« Etwas sich gebärdenden »Zeitung«,
sich mehr imponieren zu lassen, als von der Meinung eines einzelnen oder ob
sie von dieser Art von Metaphysik frei ist. Das sind schon Fragen, die dann
hinüberführen in das Gebiet des Gelegenheitsjournalismus, auf dem es in
Deutschland ganz anders aussieht, als beispielsweise in Frankreich, wo der Ge-
legenheitsjournalist eine allgemeine Erscheinung ist, und auch als in England.
Und da würde man sich die Frage vorzulegen haben: wer denn eigentlich über-
haupt von außen her heute noch in die Zeitung schreibt und was? und wer und
was nicht? und warum nicht? Das führt nun weiter zu der allgemeinen Frage:
wie beschafft sich die Presse überhaupt das Material, das sie dem Publikum bie-
tet? Und was bietet
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 441
sie ihm denn eigentlich, alles in allem? Ist das bei uns stetige Wachstum der Be-
deutung des reinen T a t s a c h e n referats eine allgemeine Erscheinung? Auf
englischem, amerikanischem und deutschem Boden ist es der Fall, dagegen
nicht so ganz auf französischem: der Franzose will in erster Linie ein Ten-
denzblatt. Warum aber? Denn z. B. der Amerikaner will von seinem Blatt nichts
als Fakta. Was an Ansichten über diese Fakta in der Presse publiziert wird, das
hält er überhaupt nicht der Mühe für wert zu lesen, denn als Demokrat ist er
überzeugt, daß er im Prinzip das ebensogut, wenn nicht besser versteht, als der-
jenige, der die Zeitung schreibt. Aber der Franzose will doch auch ein Demokrat
sein. Woher also der Unterschied? Jedenfalls aber: In beiden llen ist die ge-
sellschaftliche Funktion der Zeitung eine ganz verschiedene.
Da aber der Nachrichtendienst der Presse trotz dieser Differenzen doch in al-
len Ländern der Erde nicht nur das Budget der Presse steigend belastet, sondern
auch an sich immer stärker in den Vordergrund tritt – so fragt es sich weiter: wer
denn nun eigentlich letztlich die Quellen dieser Nachrichten sind: das Problem
der Stellung der großen Nachrichtenbureaus und ihrer internationalen Beziehun-
gen untereinander. Wichtige Arbeiten sind darüber zu machen, sind teilweise in
den Anfängen schon vorhanden. Die Behauptungen, die über die Verhältnisse
auf diesem Gebiet vorgetragen werden, standen bisher teilweise im Widerspruch
miteinander, und es wird die Frage sein, ob es nicht möglich ist, rein objektiv
darüber mehr Material zu erhalten, als heute zu erlangen ist.
Soweit nun aber der Inhalt der Zeitung weder aus Nachrichten noch, anderer-
seits, aus Produkten eines Klischeegewerbes es gibt bekanntlich Massenpro-
duktionen von Preßinhalten, von der Sport und Rätselecke bis zum Roman, von
allem glichen, in eigenen Großunternehmungen –, ich sage, soweit weder
Klischees noch reine Nachrichten die Presse anfüllen, bleibt übrig die Produkti-
on dessen, was an eigentlich journalistischen Leistungen in der Presse heute ge-
boten wird und was bei uns in Deutschland wenigstens, im Gegensatz zu man-
chen nicht deutschen Ländern, noch von fundamentaler Bedeutung für die Be-
wertung der einzelnen Zeitung ist. Da können wir uns nun nicht mit der Betrach-
tung des vorliegenden Produktes begnügen, sondern müssen seine Produzenten
würdigen und nach dem Schicksal und der Situation des Journalistenstandes fra-
gen. Da ist nun das Schicksal z. B. des deutschen Journalisten ganz heterogen
von dem im Ausland. In England sind unter Umständen sowohl Journalisten wie
Zeitungsgeschäftsleute ins Oberhaus gekommen, Männer, die zuweilen gar kein
anderes Verdienst hatten, als daß sie als businessmen für ihre Partei ein glän-
zendes, alles andere unterbietendes darf man in diesem Falle nur sagen: nicht
überbietendes? – Blatt geschäftlich geschaffen hatten. Journalisten sind Minister
geworden in Frankreich, massenhaft sogar. In Deutschland dagegen dürfte das
eine sehr seltene Ausnahme sein. Und auch ganz von diesen hervorstechenden
Aeußerlichkeiten abgesehen – werden wir
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 442
zu fragen haben: wie sich die Verhältnisse der Berufsjournalisten in der letzten
Vergangenheit in den einzelnen Ländern verschoben haben.
Welches ist die Herkunft, der Bildungsgang und was sind die Anforderungen
an einen modernen Journalisten in beruflicher Hinsicht? Und welches ist das
innerberufliche Schicksal des deutschen und im Vergleich mit ihm des ausländi-
schen Journalisten? Welches endlich sind seine möglicherweise außerberuf-
lichen Lebenschancen überhaupt heute bei uns und anderwärts? Die allgemei-
ne Lage der Journalisten ist, von anderem abgesehen, auch nach Parteien, nach
dem Charakter des Blattes usw. sehr verschieden, wie jedermann weiß. Die so-
zialistische Presse z. B. ist eine Sondererscheinung, die ganz besonders behan-
delt werden muß, und die Stellung der sozialistischen Redakteure ebenso; die
katholische Presse und ihre Redakteure erst recht.
Schließlich: was b e w i r k t denn eigentlich dieses auf den von uns zu un-
tersuchenden Wegen geschaffene Produkt, welches die fertige Zeitung darstellt?
Darüber existiert eine ungeheure Literatur, die zum Teil sehr wertvoll ist, die
aber ebenfalls, auch soweit sie von hervorragenden Fachleuten herrührt, sich oft
auf das allerschärfste widerspricht. Meine Herren, man hat ja bekanntlich direkt
versucht, die Wirkung des Zeitungswesens auf das Gehirn zu untersuchen, die
Frage, was die Konsequenzen des Umstandes sind, daß der moderne Mensch
sich daran gewöhnt hat, ehe er an seine Tagesarbeit geht, ein Ragout zu sich zu
nehmen, welches ihm eine Art von Chassieren durch alle Gebiete des Kulturle-
bens, von der Politik angefangen bis zum Theater und allen möglichen anderen
Dingen, aufzwingt. Daß das nicht gleichgültig ist, das liegt auf der Hand. Es läßt
sich auch sehr wohl und leicht einiges Allgemeine darüber sagen, inwieweit sich
das mit gewissen anderen Einflüssen zusammenfügt, denen der moderne
Mensch ausgesetzt ist. Aber so ganz einfach ist das Problem doch nicht über die
allereinfachsten Stadien hinauszubringen.
Man wird ja wohl von der Frage auszugehen haben: Welche Art von Lesen
gewöhnt die Zeitung dem modernen Menschen an? Darüber hat man alle mögli-
chen Theorien aufgestellt. Man hat behauptet, das Buch werde verdrängt durch
die Zeitung. Es ist möglich; die deutsche Bücherproduktion zwar steht quantita-
tiv in unerhörter »Bte«, so wie in keinem andern Land der Welt; nirgends
werden soviel Bücher auf den Markt geworfen wie bei uns. Die Absatzziffern
dieser selben Bücher dagegen stehen im umgekehrten Verhältnis dazu. Rußland
hatte, und zwar vor der Einführung der Preßfreiheit, Auflagen von 20 000 bis
30 000 Exemplaren für solche bei aller Hochachtung vor Anton Mengers Cha-
rakter unglaubliche Bücher wie seine »Neue Sittenlehre«. Es hatte sehr gele-
sene Zeitschriften, die durchweg eine »letzte« philosophische Fundamentierung
ihrer Eigenart versuchten. Das wäre in Deutschland unmöglich, und wird in
Rußland unter dem Einfluß der wenigstens relativen Preßfreiheit unmöglich
werden, die Anfänge zeigen sich schon. Es sind unzweifelhaft gewaltige Ver-
schiebungen, die die Presse da in den Lesegewohn-
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 443
heiten vornimmt, und damit gewaltige Verschiebungen der Prägung, der ganzen
Art, wie der moderne Mensch von außen her rezipiert. Der fortwährende Wan-
del und die Kenntnisnahme von den massenhaften Wandlungen der öffentlichen
Meinung, von all den universellen und unerschöpflichen glichkeiten der
Standpunkte und Interessen lastet mit ungeheurem Gewicht auf der Eigenart des
modernen Menschen. Wie aber? Das werden wir zu untersuchen haben. Ich darf
mich darüber nicht ausführlich fassen und schließe mit der Bemerkung:
Wir haben die Presse letztlich zu untersuchen einmal dahin: Was trägt sie zur
Prägung des modernen Menschen bei? Zweitens: Wie werden die objektiven
überindividuellen Kulturter beeinflußt, was wird an ihnen verschoben, was
wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen,
an »Lebensgefühle wie man heute sagt –, an möglicher Stellungnahme für
immer vernichtet und neu geschaffen? Das sind die letzten Fragen, die wir zu
stellen haben, und Sie sehen sofort, verehrte Anwesende, daß der Weg bis zu
den Antworten auf solche Fragen außerordentlich weit ist.
Sie werden nun fragen: Wo ist das Material für die Inangriffnahme solcher
Arbeiten? Dies Material sind ja die Zeitungen selbst, und wir werden nun, deut-
lich gesprochen, ganz banausisch anzufangen haben damit, zu messen, mit der
Schere und mit dem Zirkel, wie sich denn der Inhalt der Zeitungen in quantitati-
ver Hinsicht verschoben hat im Lauf der letzten Generation, nicht am letzten im
Inseratenteil, im Feuilleton, zwischen Feuilleton und Leitartikel, zwischen Leit-
artikel und Nachricht, zwischen dem, was überhaupt an Nachrichten gebracht
wird und was heute nicht mehr gebracht wird. Denn da haben sich die Verhält-
nisse außerordentlich geändert. Es sind die ersten Anfänge von solchen Untersu-
chungen vorhanden, die das zu konstatieren suchen, aber nur die ersten Anfänge.
Und von diesen quantitativen Bestimmungen aus werden wir dann zu den quali-
tativen übergehen. Wir werden die Art der Stilisierung der Zeitung, die Art, wie
die gleichen Probleme innerhalb und außerhalb der Zeitungen erörtert werden,
die scheinbare Zurückdrängung des Emotionalen in der Zeitung, welches doch
immer wieder die Grundlage ihrer eigenen Existenzfähigkeit bildet, und ähnli-
che Dinge zu verfolgen haben und darnach schließlich in sehr weiter Annähe-
rung die Hoffnung haben dürfen, der weittragenden Frage langsam näherzu-
kommen, welche wir zu beantworten uns als Ziel stecken.
Meine Herren, ich mmich nun noch wesentlich kürzer und skizzenhafter
fassen über die zwei anderen Problemgebiete, die die Gesellschaft außerdem be-
absichtigt in Angriff zu nehmen.
Das zweite Thema muß ich zunächst notgedrungen sehr weit dahin formulie-
ren, daß es eine fundamentale Aufgabe einer jeden Gesellschaft für Soziologie
ist, diejenigen Gebilde zum Gegenstand ihrer Arbeiten zu machen, welche man
konventionell als »gesellschaftliche« bezeichnet, d. h. alles das, was zwischen
den politisch organisierten oder anerkannten Gewalten Staat, Gemeinde und
offizielle Kirche auf der einen Seite und der naturgewachsenen Gemeinschaft
der
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 444
Familie auf der anderen Seite in der Mitte liegt. Also vor allem: eine S o z i o -
l o g i e d e s V e r e i n s w e s e n s im weitesten Sinne des Wortes, vom
Kegelklub sagen wir es ganz drastisch! angefangen bis zur politischen Partei
und zur religiösen oder künstlerischen oder literarischen Sekte.
Meine Herren, auch ein solches ungeheures Thema ist unter den allerver-
schiedensten Gesichtspunkten in die allerverschiedensten Fragestellungen zu
zerlegen: wenigstens einige wenige davon will ich ganz kurz andeuten.
Der heutige Mensch ist ja unzweifelhaft neben vielem anderen ein Vereins-
mensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Maße. Man muß ja glauben: das
ist nicht mehr zu überbieten, seitdem sich auch »Vereins-Enthebungs«-
Organisationen gebildet haben. Deutschland steht in dieser Hinsicht auf einem
sehr hohen Standard. Es läßt sich aus einem beliebigen Adreßbuch feststellen
wenn es wirklich die Vereine auch nur annähernd vollständig enthält, was meist
nicht der Fall ist, in Wirklichkeit vielleicht niemals, in Berlin beispielsweise
ganz unvollständig, dagegen in kleinen Städten zuweilen besser –, daß bei-
spielsweise in einzelnen Städten von 30 000 Einwohnern 300 verschiedene Ver-
eine bestehen; also auf 100 Einwohner, d. h. auf 20 Familienväter, ein Verein.
Meine Herren, mit der quantitativen Verbreitung geht die qualitative Bedeut-
samkeit des Vereinswesens nicht immer Hand in Hand. Welches ist, qualitativ
betrachtet, das Vereinsland par excellence? Zweifelsohne Amerika und zwar
aus dem Grund, weil dort die Zugehörigkeit zu irgendeinem Verein für den Mit-
telstand direkt zur Legitimation als Gentleman gehört richtiger: gehörte, denn
jetzt europäisiert sich das alles. Ein paar drastische Beispiele! Mir erzählte ein
deutscher Nasenspezialist, daß sein erster Kunde in Cincinnati vor Beginn der
Behandlung ihm sagte: »Ich gehöre der first Baptistchurch in der soundsovielten
street an.« Was das mit dem Nasenleiden zu tun habe, konnte der betreffende
Arzt nun nicht einsehen. Es bedeutete aber gar nichts anderes als: Ich bin ein pa-
tentierter gentleman und zahle gut und prompt. Der zweite, der zu ihm kam,
zeigte ihm als erstes eine Art von Ehrenlegionsrosette im Knopfloch. Der Arzt
erkundigte sich und erfuhr, daß das ein bestimmter Klub sei, in den man nach
sorgsamen Recherchen über die Persönlichkeit hineinballotiert würde; wenn
man dem nun angehörte, so war man eben als »gentlemalegitimiert. Massen-
haft finden sich diese Art von Klubs oder Vereinen aller Art im Bürgertum ver-
breitet. Heute sind sie zunehmend weltlichen Charakters. Aber der Urtypus alles
Vereinswesens ist das kann man gerade in Amerika studieren die S e k t e
im spezifischen Sinne des Wortes. Ob rein historisch, ist hier gleichgültig – aber
prinzipiell. Deshalb, weil die Sekte ihrem Sinn nach ein Zusammenschluß von
spezifisch qualifizierten Menschen ist und nicht eine »Anstalt«, weil sie nach ih-
rem soziologischen Strukturprinzip die Sanktion der autoritären Zwangsverbän-
de – Staat, Kirche – ablehnt und »Verein« sein m u ß . In Amerika spielt sie
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 445
deshalb vielfach noch heute die Rolle, sozusagen das ethische Qualifikationsat-
test r den Geschäftsmann auszustellen. Ehe z. B. die Baptisten jemand auf-
nehmen, unterwerfen sie ihn einer Prüfung, die an unsere Reserveoffizierprü-
fung erinnert und die sich auf seine ganze Vergangenheit erstreckt: Wirtshaus-
besuch, Beziehungen zu Damen, Kartenspiel, Schecks und alle nicht bezahlten
Dinge des persönlichen »Wandels« werden herausgesucht, ehe er die Taufe er-
reichen kann. Wer dann getauft ist der ist als unbedingt kreditwürdig legiti-
miert und macht gute Geschäfte. Nicht ganz so streng, aber ähnlich machen es
andere traditionelle amerikanische Vereine, und mit ähnlichen Konsequenzen.
Ganz ähnlich funktionierte das Freimaurertum, auch bei uns, wie man sich aus
Freimaurerakten leicht überzeugen kann aber erst recht in Amerika. Wie mir
dort einmal ein Herr, der es sehr beklagte, daß er aus äußeren Gründen nicht die
Stellung als Meister am Stuhl habe erlangen können, auf meine Frage: warum
ihm das wichtig sei? sagte: Wenn ich Meister am Stuhl bin und auf meinen Ge-
schäftsreisen als solcher mit dem Geheimzeichen auftreten kann, so bekomme
ich alle Kunden, ich schlage jede Ware los, da von jedermann vorausgesetzt
wird, ich liefere nur reelle Ware zu reellem Preise; denn wenn ich das jemals
nachweislich nicht getan hätte, so würden mich die Freimaurer in ihrer Mitte
nicht dulden. So ist es im gesellschaftlichen Leben in Amerika überhaupt. Wer
da nicht hineinkommt und beispielsweise der Deutschamerikaner hat selten
das Glück hineinzukommen –, der kommt nicht in die he. Die Demokratie in
Amerika ist kein Sandhaufen, sondern ein Gewirr exklusiver Sekten, Vereine
und Klubs. Diese stützen die Auslese der an das amerikanische Leben überhaupt
Angepaßten, stützen sie, indem sie ihnen zur geschäftlichen, zur politischen, zu
jeder Art von Herrschaft im sozialen Leben verhelfen. Wie steht es damit bei
uns? Finden sich und in welcher Art und welchem Umfang dazu Analogien?
Wo? Mit welchen Konsequenzen? Wo nicht? Warum nicht? Das ist die eine,
nach außen gewandte Seite der Sache.
Eine zweite Frage ist: Wie wirkt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art
von Verband nach innen? auf die Persönlichkeit als solche? Man kann allgemein
sagen: Wer einem Verband angehört, sei es z. B. einer Couleur in Deutschland,
sei es einer Greek Letter Society oder anderem studentischen Klub in Amerika,
der m sich in der Mitte seiner Verbandsgenossen im äußerlichen und im
innerlichen Sinn des Worts » b e h a u p t e n « . Und die Frage ist: Wodurch er
sich behauptet? Im vorliegenden Beispiel hängt das z. B. davon ab: Welches
spezifische Ideal von »Männlichkeit«, bewußt und absichtsvoll oder auch unbe-
wußt und traditionell innerhalb einer deutschen Couleur einerseits und eines
englischen Sportklubs oder eines amerikanischen Studentenvereins andererseits
gepflegt wird. Die Bedingungen, sich die A c h t u n g der Genossen zu er-
werben, sind dabei natürlich grundverschieden. Sie sind es ganz allgemein, nicht
nur je nach den Nationen, sondern auch nach den verschiedenen Schichten und
den Kategorien von Vereinen. Der einzelne aber wird
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 446
nach diesem Ideal bewußt oder unbewußt ausgelesen und dann geprägt. Und es
handelt sich dann ja weiter nicht nur um die Frage, ob er sich die äußere Ach-
tung der Genossen erwirbt, sondern letztlich ssen wir ja immer fragen: wie
besteht der einzelne, der nun diesen Einflüssen ausgesetzt ist, vor seiner e i -
g e n e n S e l b s t a c h t u n g und vor seinem Bedürfnis, »Persönlichkeit«
zu sein? Was für innere Positionen verschieben sich, die für die Ausbalanciert-
heit dessen, was wir »Persönlichkeit« nennen, für die Notwendigkeit, das auf ei-
ne neue Basis zu stellen, wichtig werden können? Denn unter solchen inneren
Problemstellungen vollzieht sich ja die Aneignung der Einflüsse solcher sozia-
len Ensembles, in die der einzelne gesteckt wird, die Einfügung dieser Einflüsse
in den Zusammenhang des eigenen »Ich«. Und das Gefühl der eigenen »Würde«
kann sich, je nach der Art des Ensembles, auf grundverschiedene Postamente
verschieben.
Nun weiter: Jeder Verein, zu dem man gehört, stellt dar ein H e r r -
s c h a f t s verhältnis zwischen Menschen. Zunächst, wenigstens der Regel
nach, formal und offiziell ein Majoritätsherrschaftsverhältnis. Es ist also die
Psychologie dieser Majoritätsherrschaft über den einzelnen, die letztlich in Fra-
ge steht, und die sich auf dem Boden dieser Privatverbände in sehr spezifischer
Art äußert und wirkt wobei ich hier nur auf den Punkt zu sprechen kommen
kann, der der entscheidende ist: daß selbstverständlich innerhalb jedes solchen
Gremiums, wie es auch heiße, Partei, Verein, Klub oder was es ist; in Wirklich-
keit die Herrschaft stets eine Minoritätsherrschaft, zuweilen eine Diktatur ein-
zelner ist, die Herrschaft Eines oder einiger irgendwie im Wege der Auslese und
der Angepaßtheit an die Aufgaben der Leitung dazu befähigter Personen, in de-
ren Händen die faktische Herrschaft innerhalb eines solchen Vereins liegt.
Wie nun, unter welchen Bedingungen, unter welchen, ich möchte sagen,
»Spielregeln« diese Auslese der Leitenden innerhalb der einzelnen Kategorien
von Vereinen, Parteien oder was es ist, sich vollzieht, das ist für die Frage ent-
scheidend, welche Art von Persönlichkeiten die Herrschaft an sich bringen. Und
das ist wieder nur speziell für je ganz bestimmte Arten von Vereinen und je nach
den Kulturbedingungen der Umwelt zu beantworten. Es ist dies aber eine zentral
wichtige soziologische Frage, und nicht minder ist es die weitere, daran sich an-
knüpfende: Durch welche Mittel die leitenden Gruppen die Loyalität gegenüber
den Vereinen, d. h. gegenüber ihrer eigenen Herrschaft, zu sichern suchen. Ue-
ber diese Frage liegen mancherlei wichtige Vorarbeiten schon vor
1)
.
Weiter: Welche Art von Beziehungen besteht zwischen einem Verein irgend-
welchen Art, wieder von der Partei bis das klingt ja paradox zum Kegelklub
herab, zwischen einem beliebigen Verein also und irgend etwas, was man, im
weitesten Sinne des Wortes, »Weltanschauung« nennen kann? Ueberall ist eine
solche Beziehung irgendwie vorhanden, auch wo man sie gar nicht vermuten
sollte.
1)
Es ist hier namentlich an die Arbeiten von Prof. G. A. L e i s t gedacht.
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 447
Aber in sehr verschiedener Art. Zunächst ist es eine alltägliche Erscheinung, daß
Vereinigungen, die ausgegangen sind von großen Weltanschauungsideen, zu
Mechanismen werden, die sich faktisch zunehmend davon loslösen. Das liegt
einfach an der allgemeinen, wie man zu sagen pflegt: »Tragik« jedes Realisati-
onsversuchs von Ideen in der Wirklichkeit überhaupt. Es gehört ja zu jedem
Verein bereits irgendein, sei es bescheidenster, Apparat, und sobald der Verein
propagandistisch auftritt, wird dieser Apparat in irgendeiner Weise versachlicht
und vom B e r u f s menschentum okkupiert. Denken Sie um ein grobes Bei-
spiel zu nennen – daran, daß ein so heikles und delikates Problemgebiet, wie das
Problem erotischen Lebens, daß die Propaganda von Ideen auf diesem Gebiet
schon heute die p e k u n i ä r e Grundlage für Existenzen zu bilden hat. Ich
spreche das hier nicht in Form irgendeines sittlichen Vorwurfs gegen die betref-
fenden Personen aus, und halte mich dazu, angesichts dessen, daß soundso viele
Professoren auf ihren Kathedern noch heute die Propaganda für ihre subjektiven
politischen oder anderen Ideen r ihre Aufgabe halten, für nicht berechtigt.
Aber es ist Tatsache und hat selbstverständlich sehr weitgreifende Folgen, wenn
dasjenige spezifische Stadium der Versachlichung eines Ideengehaltes, wo die
Propaganda für diese Ideen die Grundlage für materielle Existenzen wird, er-
reicht ist, natürlich wiederum verschiedene Konsequenzen, je nach der Art und
dem Charakter dieser Ideale. Auf der anderen Seite, meine Herren, attrahiert
fast jeder Verein, auch ein solcher, der das prinzipiell vermeiden will, in irgend-
einer Weise »weltanschauungsmäßige« Inhalte. In gewissem Sinne, nnte man
behaupten: Sogar auch ein deutscher Kegelklub, in deutlicherem Maße schon
ein Gesangverein. Meine Herren um dabei zu bleiben –, die Blüte des Gesang-
vereinswesens in Deutschland übt m. E. beträchtliche Wirkungen auch auf Ge-
bieten aus, wo man es nicht gleich vermutet, z. B. auf politischem Gebiete. Ein
Mensch, der täglich gewohnt ist, gewaltige Empfindungen aus seiner Brust
durch seinen Kehlkopf herausströmen zu lassen, ohne irgendeine Beziehung zu
seinem Handeln, ohne daß also die adäquate Abreaktion dieses ausgedrückten
mächtigen Gefühls in entsprechend mächtigen Handlungen erfolgt und das ist
das Wesen der Gesangvereinskunst –, das wird ein Mensch, der, kurz gesagt,
sehr leicht ein »guter Staatsbürger« wird, im passiven Sinn des Wortes. Es ist
kein Wunder, daß die Monarchen eine so große Vorliebe für derartige Veranstal-
tungen haben. »Wo man singt, da laß dich ruhig nieder.« Große, starke Leiden-
schaften und starkes Handeln fehlen da. Es klingt das paradox, es ist vielleicht,
das gebe ich zu, etwas einseitig, es soll auch kein Tadel sein es kann vielleicht
ja einen Standpunkt geben, von dem aus man sagt, daß eben dies der Reichtum
des deutschen Volkes sei, daß es fähig ist, diese Ablösung zu vollziehen und auf
dieser Basis eine ihm eigene künstlerische Kultur zu schaffen, und man kann
ferner sagen, daß j e d e Art von Kultur in der Einschaltung von Hemmungen
zwischen Empfindung und Abreaktion ihre Basis findet. Ich lasse das alles gänz-
lich dahin-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 448
gestellt, denn es geht die Frage der Bewertung u n s gar nichts an. Ich konsta-
tiere nur, daß eine solche Beziehung, wie ich sie andeutete, möglicherweise
ich wenicht, in welcher Stärke, ich habe vielleicht übertrieben vorhanden
sein k a n n .
In solchen und ähnlichen Fällen handelt es sich ja wesentlich um die unbe-
wußte Beeinflussung des Gesamthabitus durch den Inhalt der Vereinstätigkeit.
Aber es gibt die allerverschiedensten Abschattierungen in der Art des Uebergrei-
fens rein fachliche oder rein sachliche Ziele verfolgender Gemeinschaften auf
das Gebiet der Beeinflussung und Reglementierung der praktischen Lebensfüh-
rung. Sie kann auch ganz bewußt erfolgen, von rein fachlich-sachlichen Positio-
nen aus, hinter denen wir sie an sich gar nicht vermuten würden. Denken Sie
doch daran, daß ganz bestimmte Theorien medizinischer Art, ganz bestimmte
psychiatrische Theorien, heute auf dem offenkundigen Weg zur Sektenbildung
begriffen sind, daß eine bestimmte, von einem berühmten Wiener Psychiater ge-
schaffene Theorie dazu geführt hat, daß eine Sekte sich gebildet hat, die bereits
soweit ist, daß sie ihre Zusammenkünfte solchen, die nicht zu ihr gehören,
streng verschließt und sekretiert. Der »komplexfreie« Mensch als das Ideal und
eine Lebensführung, durch die dieser komplexfreie Mensch geschaffen und er-
halten werden kann, ist Gegenstand dieser Sektenwirtschaft, die allerverschie-
densten Lebenszweige finden ihre Reglementierung von diesen Idealen aus
was gewiß kein Mensch, wenn er zunächst diese Theorien rein als psychiatrische
und für wissenschaftliche Zwecke bestimmte sich ansieht, daraus allein entneh-
men könnte, obwohl der Zusammenhang nachher sehr leicht verständlich ist.
Aehnliches kann z. B. auch auf dem Gebiete des Aesthetischen: der künstleri-
schen Sektenbildung, sich ereignen, ja, die von künstlerischen Weltgefühlen ge-
tragenen Sekten gehören in soziologischer Hinsicht sie bieten auch sonst ein
erhebliches Interesse oft zu dem Interessantesten, was es geben kann; sie ha-
ben noch heute, ganz wie eine religiöse Sekte, ihre Inkarnationen des Göttlichen
gehabt – ich erinnere an die Sekte Stefan Georges –, und die Prägung der prakti-
schen Lebensführung, der inneren Attitüde zum gesamten Leben, die sie in ihren
Anhängern erzeugen, kann eine sehr weitgreifende sein. Und wir erleben ja ganz
dasselbe auf dem Gebiete der Rassentheoretiker. Das Heiraten nach adeligen
Ahnentafeln kann man selbstverständlich durch das Heiraten nach hygienischen
Ahnentafeln ersetzen, und es wejedermann, daß eine Sekte mit vornehmlich
diesem Zweck aus esoterischen und exoterischen Anhängern besteht wobei
ich, wie hier durchweg, den Ausdruck S e k t e g ä n z l i c h w e r t f r e i
gebrauche. Der Ausdruck ist ganz ohne Grund bei uns so eigentümlich in Ver-
ruf, weil man den Begriff der »Enge« damit verbindet. Spezifische, fest umris-
sene Ideale nnen aber gar nicht anders als zunächst im Weg der Bildung einer
Sekte begeisterter Anhänger, die sie voll zu verwirklichen streben und sich des-
halb zusammenschließen und von andern a b s o n d e r n , ins Leben getragen
werden.
Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910. 449
Meine Herren, wir kommen denn ich muß damit abbrechen, um Ihre Zeit
nicht zu weit in Anspruch zu nehmen schließlich zu zwei ähnlichen prinzipiel-
len Fragestellungen, wie bei der Presse: Wie wirken die einzelnen Kategorien
solcher Vernde und Vereine, von den Parteien angefangen denn auch diese
können entweder Maschinen sein, reine Maschinen, wie die amerikanischen Par-
teien, oder angebliche Weltanschauungsparteien, wie heute die Partei der Sozi-
aldemokratie, die es ehrlich glaubt, eine solche zu sein, obwohl sie es schon lan-
ge nicht mehr ist, oder wirkliche Weltanschauungsparteien, wie in immerhin
weitgehendem Maße noch heute die Partei des Zentrums, obwohl auch bei ihr
dieses Element im Schwinden begriffen ist, und es gibt da die allerverschieden-
sten Paarungen zwischen Idee und Mechanismus wie, sage ich, und mit wel-
chen Mitteln wirken sie in der doppelten Richtung: einmal der Prägung der ein-
zelnen Individuen, und dann der Prägung der objektiven, überindividuellen Kul-
turgüter?
Wenn Sie nun nach dem Material fragen, mit dem eine solche Untersuchung
zu führen sei, so ist der Stoff, mit dessen Bewältigung zunächst einmal anzufan-
gen ist, wiederum ein ganz trockener, trivialer, und ohne solche trockene, trivia-
le, viel Geld und viel Arbeitskraft einfach in den Boden stampfende Arbeit ist
nichts zu machen. Zunächst lohnt der systematische Versuch, von den Vereinen
Auskunft darüber zu erhalten, welchen Berufen, welchen geographischen, ethni-
schen, sozialen Provenienzen ihre Mitglieder angehören. Ich halte es nicht für
ausgeschlossen, wenn auch nicht für sicher, daß wir im Lauf der Zeit eine Art
von Kataster der wichtigsten Vereinskategorien in dieser Hinsicht schaffen n-
nen und damit den Ausleseprinzipien auf die Spur kommen, die den Vereinen
selbst natürlich meist ganz unbewußt sind und nur aus ganz großem und umfas-
sendem Material erschlossen werden nnen. Daneben haben wir dann die
M i t t e l der Vereinseinwirkung nach innen, auf die Mitglieder, nach außen in
propagandistischem Sinn und im Kampf, zu analysieren und schließlich die pro-
pagierten Inhalte selbst, alles in frischer, soziologischer Kasuistik. Eine Arbeit
vieler Jahre!
Da ich soeben von »Auslese« sprach, so erwähne ich anschließend daran
gleich das letzte, schon jetzt von uns in Aussicht genommene große Arbeitsge-
biet. Das ist die von Prof. Eulenburg in Leipzig bei uns zur Diskussion und zur
systematischen Bearbeitung angeregte Frage der Auslese der führenden Berufe
innerhalb der modernen Gesellschaft, derjenigen Berufe, die man im üblichen
Sinn denn von etwas anderem als dem konventionellen Sinn kann die Soziolo-
gie nicht ausgehen die »führendenennt, der ökonomisch und politisch Füh-
renden, der wissenschaftlich, literarisch, künstlerisch Führenden, der Geistli-
chen, der Beamten, der Lehrer, Unternehmer usw. Wir fragen dabei: woher
stammen diese Leute, was war ihr Vater und Großvater, wo stammen sie eth-
nisch her, was haben sie r Lebensschicksale hinter sich, d. h. wie, über welche
Staffeln hinweg, sind sie an ihren jetzigen Posten gelangt usw., kurz, wieso hat
die überall wirk-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 450
same Auslese gerade sie und das nnten wir natürlich nur aus einer großen
Zahl erschlien in diese Stellung gebracht, welche ethnische, berufliche, so-
ziale, materielle usw. Provenienz ist es, die die günstigsten Chancen am meisten
in sich enthält, grade in diese Berufe und Positionen zu gelangen? Eine Aufgabe,
die wiederum erst durch sehr umfassende Erhebungen im Lauf der Zeit viel-
leicht gelöst werden kann. Ich habe, m. H., in der mir gesteckten Zeitspanne le-
diglich versuchen nnen, r e i n i l l u s t r a t i v , an beliebig herausgegrif-
fenen Beispielen, Ihnen deutlich zu machen, daß es auf den von uns anzugrei-
fenden Problemgebieten Fragen gibt, deren Inangriffnahme wissenschaftlich
lohnt.
Sie sehen aber, daß schon diese konkreten Aufgaben, die ich hier erwähnt ha-
be, nicht solche sind, daß sie darauf rechnen könnten, im nächsten Jahre läge
etwa schon irgendein brillantes Resultat vor. Die Gesellschaft wird Geduld ha-
ben müssen, das Publikum auch. Diese Arbeiten erfordern nicht nur eine Selbst-
losigkeit der Hingabe an den selbstverständlich im einzelnen Fall begrenzten
Zweck, wie sie heute selten anzutreffen ist, wie sie aber immerhin gelegentlich
und hoffentlich zunehmend angetroffen wird, und sie erfordert wie ich hinzu-
fügen muß: bedauerlicherweise –, sie erfordert s e h r e r h e b l i c h e
p e k u n i ä r e M i t t e l . M. H., für die Zwecke der Preßenquete allein sind
die Kosten auf ungefähr 25 000 M. für die Vorarbeiten geschätzt. Von diesen 25
000 M. stehen uns jetzt rund 20 000 zur Verfügung durch eine Vereinbarung mit
der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und mit dem Institut für Ge-
meinwohl hier in Frankfurt und durch private Stiftungen von innerhalb und au-
ßerhalb unserer Gesellschaft. Es ist zu hoffen, daß der noch notwendige Rest
ebenfalls in irgendeiner Weise von privater Seite gestiftet wird, da wir unter
keinen Umständen mit unserer Arbeit beginnen werden, ehe wir sicher sind, daß
die Mittel, die wir jetzt für erforderlich halten müssen, und die hoffentlich rei-
chen, wenigstens vorhanden sind. Für die anderen Untersuchungen steht heute
noch nichts an Geldern zur Verfügung aer den laufenden Mitteln der Gesell-
schaft, und diese fallen für solche Arbeiten nicht ins Gewicht bei einem Mit-
gliederbestand von vorläufig nicht wesentlich über 200 wir hoffen ja, daß er
steigen wird ich sage, die laufenden Mittel der Gesellschaft nnen dafür na-
türlich nicht die Unterlage bilden, sie gehen für laufende Geschäfte, zum über-
wiegenden Teil wenigstens, darauf und müssen die Kosten solcher Tagungen,
wie wir sie hier und in, wie gesagt, wesentlich veränderter und verbesserter
Form künftig haben werden, tragen helfen. Wir sind also, das gestehen wir of-
fen, auf zenatentum angewiesen, auf Mäzenatentum, wie es sich bisher be-
reits in einem Fall in einer für Deutschland ungewöhnlichen Art manifestiert hat.
Denn, m. H., in vollem Gegensatz zu den Zuständen des Auslands, nicht nur
Amerikas, ist es in Deutschland äußerst selten, daß bedeutende Geldmittel für
rein wissenschaftliche Zwecke zu haben sind. Geldmittel sind in Deutschland zu
haben für Zwecke der Technik, etwa für Flugprobleme und derartiges, für
Zwecke, bei denen
Zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur. 451
etwas r den lieben Körper und seine Kur herausspringt, also für Radiotherapie
oder derartiges, wenn wenigstens in ferner Aussicht steht, daß irgend etwas The-
rapeutisches dabei herauskommt. Sie stehen ferner noch in erfreulicher Weise
zunehmendem Maße r künstlerische Zwecke zur Verfügung. Wenn aber bei
uns in Deutschland Geld gegeben wird für wissenschaftliche Zwecke, so kann
man im allgemeinen sicher sein, daß es staatlichen Instanzen anvertraut wird,
aus Gründen, die ich hier nicht weiter erörtern will, die sehr verschiedener Art,
subjektiv gewoft berechtigter Art, objektiv nach meiner Meinung aber nicht
immer erfreulicher Art sind. Damit allein ist es aber natürlich auf die Dauer für
den Fortschritt der Wissenschaft bei aller hohen Anerkennung dessen, was der
Staat dafür bei uns im Gegensatz zu anderen Ländern auf diesem Gebiet gelei-
stet hat, nicht getan. Es gibt bis jetzt nur e i n e Stadt, in der in ganz großem
Maßstab Mäzenatentum geübt worden ist für Zwecke der Wissenschaft o h n e
Staatseinmischung in einer Art, wie sie etwa in Amerika üblich ist, das ist
Frankfurt a. M. Aber es ist nicht möglich, sich damit abzufinden, daß Frankfurt
a. M. dieses Monopol auf die Dauer behalten soll, sondern man muß und da-
von ist nicht nur unsere spezielle wissenschaftliche Arbeit, sondern der Fort-
schritt der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt abhängig – man muß hoffen, daß
die wenigen in aller Munde befindlichen glänzenden Namen, die auf dem Gebie-
te des deutschen rein wissenschaftlichen zenatentums und das bedeutet ein
Mäzenatentum, welches die Geduld hat, abzuwarten, daß die um ihrer selbst wil-
len betriebene Wissenschaft schließlich irgendwann auch »dem Leben diene«
ich sage, man muß hoffen, daß ein solches Mäzenatentum in Deutschland auch
außerhalb dieser Stadt in größerem Me, als es bisher in Deutschland der Fall
war, erwachen werde, nicht nur, wie gesagt, um die speziellen Aufgaben dieser
Gesellschaft zu fördern, sondern im Interesse der wissenschaftlichen Arbeit
überhaupt.
––––––
Diskussionsrede zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur.
Erste Soziologentagung Frankfurt 1910.
M. H., wir sind doch wieder in Wertdiskussionen hineingeraten, und ich
möchte glauben, daß wir diese ganze Seite der Debatte statutengemäß auch heu-
te cksichtslos ausscheiden ßten. Ich möchte mir nur die eine Bemerkung
gestatten, daß das natürlich gewrichtig ist, was Herr Prof. v. Schulze gesagt
hat: daß für alle unsere Arbeit der Glaube an einen Wert d e r W i s s e n -
s c h a f t Vorbedingung ist was aber auch nicht bestritten worden ist. Son-
dern es wurde gesagt, daß wir hier p r a k t i s c h e Wertfragen des L e -
b e n s ausschließen wollen. Nicht weil wir sie für minderwertige Dinge hiel-
ten. Im Gegenteil. Ich möchte glauben, daß grade auch die s p e z i f i s c h e
Wichtigkeit, die jeder einzelne von uns diesen, seine ganze Subjektivität in Mit-
leidenschaft ziehenden, eben deshalb aber
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 452
auf dem Boden einer ganz anderen Provinz des Geistes sich abspielenden prakti-
schen Problemen zumessen wird, dazu führen muß, sie n i c h t als trockene
Tatsachenfragen zu behandeln und also sie, mit den streng objektiven kühlen
Tatsachenfeststellungen, mit denen wir es hier zu tun haben, nicht zu vermen-
gen, weil sonst b e i d e Arten von Fragestellungen zu kurz kommen.
Es ist selbstverständlich an sich etwas Willkürliches und sehr Zweifelhaftes,
was man unter dem Begriff »Technik« verstehen will. Marx gibt eine Definition
des Begriffs Technik meines Wissens nicht. Es steht aber bei Marx, bei dem
sehr Vieles steht, was, wenn man genau und pedantisch, wie wir es tun ssen,
analysiert, nicht nur widerspruchsvoll scheint, sondern wirklich widerspruchs-
voll ist, unter anderem eine oft zitierte Stelle des Inhalts: Handmühle bedingt
Feudalismus, Dampfmühle bedingt Kapitalismus. Das nun ist eine nicht ökono-
mische, sondern technologische Geschichtskonstruktion, und von der Behaup-
tung selbst ist einwandsfrei zu konstatieren, daß sie einfach falsch ist. Denn das
Zeitalter der Handmühle, welches ja bis an die Schwelle der Neuzeit heran-
reicht, hat Kultur»Ueberbauten« aller denkbaren Art auf allen Gebieten gesehen.
Darin hat natürlich Herr Dr. Quarck vollständig recht, daß die materialistische
Geschichtsauffassung von der E i g e n t u m s verteilung als Bestandteil des
Produktionsverfahrens ausgeht, und nicht nur von der Frage, ob z. B. Maschinen
verwendet werden oder nicht. Aber die rein technologische Wendung findet sich
bei Marx, neben anderen Unklarheiten, eben auch. Wenn man nun aber in ir-
gendeinem Sinn einen gesonderten Begriff von »Technik« festhalten will, so ist
es doch gewder, der in jener Aeußerung zum Ausdruck kommt, wo von den
Eigentumsverhältnissen keine Rede ist.
Der sogenannte Geschichtsmaterialismus wird heute ja mit völliger Verdun-
kelung seines eigentlichen Sinnes vertreten. Es ist z. B. eine hoffnungslose Ver-
wirrung in der Diskussion über die materialistische Geschichtsauffassung da-
durch angerichtet worden, daß ein ganz hervorragender Gelehrter, Stammler, sie
in einer Weise interpretiert hat, über die Marx in der Tat in höchstem Maße er-
staunt sein würde. Denn hiernach ist alles, was I n h a l t der sozialen Ord-
nung ist, also beispielsweise religiöse Interessen ganz genau so wie wirtschaftli-
che, die » M a t e r i e « des sozialen Geschehens, und eine »materialistische«
Geschichtsauffassung ist dann die, die dasjenige, was Materie des Lebens ist, als
Ursache der Form, mlich der Art der äeren O r d n u n g des Lebens hin-
stellt. Damit ist selbstverständlich der materialistischen Geschichtsauffassung in
dem Sinne, wie Marx sie gemeint hat, jede Pointe genommen. Ich habe aber
ganz ebenso das große Bedenken, daß wenn wir solche Unterscheidungen bei-
seite lassen, wie sie Sombart gemacht hat und meiner Meinung nach machen
mußte, wonach wir eben als »Technik« eine bestimmte V e r f a h r e n s -
w e i s e a n S a c h g ü t e r n betrachten ich will diesen Begriff hier im
übrigen nicht weiter definieren – wenn wir nicht den Begriff der Technik darauf
einschränken, wenn das verwischt wird
Zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur. 453
und, wie es hier geschah, alles hineingezogen wird: der »Geisdes Menschen
und ich weiß nicht was noch alles, daß wir dann ins Uferlose kommen und uns
nicht verständigen. Es ist denn doch nicht richtig, wenn Herr Prof. Staudinger
den Satz aufgestellt hat: der Sinn aller Technik in dem sehr weiten Begriff,
den er genommen hat, sei der, daß der Mensch dabei im Gegensatz zu dem,
was nicht Technik ist und ich wenicht, was das eigentlich dann schließlich
ist nach seiner Auffassung das Endprodukt voraussehe, welches er herstellen
wolle. Das trifft auf das Spazierengehen, das Essen, und auf alle möglichen an-
deren Leistungen auch zu. Trifft es aber wirklich zu z. B. r die Weberinnen,
für die Hasplerinnen, für all die ungelernten Arbeiter in unseren Fabriken, die
irgendeine unverstandene Manipulation an einer Maschine vornehmen? Es trifft
für die kalkulierenden Fabrikanten zu, aber nicht für jene. Das ist kein Prinzip,
wonach man irgend etwas abgrenzen kann gegen irgend etwas anderes. Worauf
es uns hier ankommt, ist gerade ein viel spezifischerer Begriff von »Technik«,
jedenfalls aber ein solcher, der, wie gesagt, die von der materialistischen Ge-
schichtsauffassung oft nicht immer mitgemeinten E i g e n t u m s v e r -
h ä l t n i s s e a u s s c h l ö s s e . Denn ich glaube, daß über die materialisti-
sche Geschichtsauffassung als solche ein andermal bei uns debattiert werden
könnte. Heute aber stand lediglich » T e c h n i k und Kultur« zur Diskussion.
Weder aber das erwähnte ich schon bedeutet die gleiche Technik immer die
gleiche Oekonomik, noch ist das Umgekehrte der Fall. Wie wenig es der Fall ist,
zeigt nach dem, was ich schon sagte, folgende Erwägung. Zu den ganz großen
Phänomenen, mit denen die vergleichende Kulturgeschichte sich befassen ß-
te, gehört dieses: Wir haben im Altertum nicht nur eine Kulturentwicklung ge-
habt, die, gleichviel wie man sie wertet, mit der Kulturentwicklung der Gegen-
wart jedenfalls in vielen Beziehungen vergleichbar ist, wir haben im Altertum
vor allem auch eine k a p i t a l i s t i s c h e Entwicklung gehabt, die sich mit
jeder kapitalistischen Entwickelung in der Welt messen kann. Die kapitalistische
Entwickelung des Altertums aber hat das möchte ich hier etwas übertreibend
betonen in d e m Moment ihren Anstieg auf ihren höchsten Gipfel begon-
nen, wo, nach unserer heutigen Kenntnis, die t e c h n i s c h e Entwickelung
des Altertums z u E n d e gewesen ist. Soviel wir heute wissen und wir be-
dürfen langjähriger Mitarbeit der Techniker und Technologen, um endgültig zu
konstatieren, ob diese Auffassung die richtige ist haben weder die Hellenen
noch das kapitalistische Volk des Altertums par excellence: die mer, dem,
was aus dem Orient an technischen Errungenschaften gekommen war, irgend
etwas besonders Erhebliches hinzugefügt. Es wäre ja zuviel gesagt: gar nichts;
ich sage aber: nichts irgend Erhebliches. Und doch haben gerade sie eine kapita-
listische Entwickelung ersten Ranges gehabt. Heute dagegen geht die kapitalisti-
sche Entwickelung mit der technischen Entwickelung scheinbar Hand in Hand,
so sehr, daß allen Ernstes die Techniker zu dem Glauben gelangen, als sei die
Technik und ihre Evolution das ausschließlich führende Element
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 454
in unserer Kulturentwickelung. Ich habe diese Auffassung heute nicht zu kriti-
sieren, es sind dazu ja schon Bemerkungen von seiten Sombarts gemacht wor-
den, ich konstatiere nur, daß gerade das ein Problem ist für uns Soziologen, in-
wieweit dies eigentlich der Fall ist, und daß jedenfalls auch jener Gegensatz
zwischen heute und einst für uns ein Problem, und zwar allerersten Ranges, ist
und bleiben wird, welches freilich nicht ohne die Mitarbeit von Technikern ge-
löst werden kann.
Angesichts der vorgerückten Zeit will ich nur noch beiläufig auf ein ganz he-
terogenes Gebiet zu sprechen kommen, auf das Gebiet der von Sombart auch
erwähnten ästhetischen Evolution.
Sombart hat da vielleicht etwas einseitig die Auslese des Sujets seitens des
Künstlers hervorgehoben. Daneben hat er von dem Einfluß der Technik auf mo-
derne Orchestermusik und derartigem geredet. Nun ist die Sujetauslese ein sehr
wichtiges Element für die k u l t u r geschichtliche Beurteilung einer kunstge-
schichtlichen Situation, aber sie trifft ganz gewiß nicht das spezifisch Künstleri-
sche. Die entscheidende Frage, die wir uns hier zu stellen hätten, wäre vielmehr
m. E. die: inwieweit zufolge ganz bestimmter technischer Situationen f o r -
m a l e ästhetische Werte auf künstlerischem Gebiet entstanden sind. Und da-
bei wäre wieder die rein technische und die ökonomisch-soziale Seite der Situa-
tion zu trennen. Gewist z. B. die Frage höchst wichtig: Was bedeutet denn für
die künstlerische Entwicklung beispielsweise die Klassenevolution des moder-
nen Proletariats, sein Versuch, sich als eine Kulturgemeinschaft in sich denn
das war ja das Großartige an dieser Bewegung hinzustellen? (Der Vorsitzende
will den Redner unterbrechen.) Das »großartig« war soeben ein Werturteil, wie
ich offen zugestehe, und ich nehme es wieder zurück. (Große Heiterkeit.) Das
war, will ich sagen, das für uns I n t e r e s s a n t e an dieser Bewegung, daß
sie die schwärmerische Hoffnung hegte, aus sich heraus der bürgerlichen Welt
ganz neue Werte auf a l l e n Gebieten entgegenzustellen. Ich frage: sind denn
nun irgendwelche, i r g e n d w e l c h e Formwerte auf künstlerischem oder
literarischem Gebiete, also nicht nur Vermehrung der Sujets, sondern wirkliche
F o r m werte davon ausgegangen? Von meinem gegenwärtigen, freilich ganz
provisorischen Standpunkt würde ich diese Frage kategorisch verneinen. Bei
keinem mir bekannten großen Künstler von proletarischer Provenienz oder so-
zialistischer Gesinnung haben die von ihm etwa es gibt solche Fälle hervor-
gebrachten Revolutionen der künstlerischen Form i r g e n d etwas mit seiner
Klasse oder seinen Gesinnungen zu tun, sie sind zumeist dieser seiner Klasse
nicht einmal verständlich. Derjenige »Naturalismus«, dem solche Künstler zu-
weilen aber bei weitem nicht regelmäßig huldigen, hat uns neue Sujets ge-
bracht, nicht neue Formwerte, und die Arbeiterklasse als solche steht z. B. litera-
risch heute bei Schiller wenn es gut geht aber nicht bei moderner naturalisti-
scher Kunst. Es sei denn, daß sie als die »wissenschaftlich« allein akzeptable
spezifisch revolutionäre, präsentiert
Zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur. 455
würde, und dann doch eben aus reinem künstlerischem N i c h t verständnis.
Daß bei den Künstlern selbst der Bruch mit Vorurteilen in der Kunst sich leich-
ter bei Naturen vollzieht, die überhaupt überkommene Vorurteile auch Klas-
senvorurteile a l l e r Art leichter abstreifen, das ist richtig. Aber für Klas-
sengebundenheit künstlerischer F o r m werte beweist es gewnichts. Wie ge-
sagt, diese Frage gehört in eine künftige, spezielle Diskussion der materialisti-
schen Geschichtsdeutung nach vorheriger allseitiger gründlicher Vorbereitung;
sie gehört ja zu den wichtigsten Erörterungen, mit denen wir uns beschäftigen
können.
Nun aber fragen wir einmal, ob denn das, was man im gewöhnlichen Sinn des
Wortes moderne T e c h n i k nennt, nicht irgendwie doch mit formal-
ästhetischen Werten in Beziehung steht, so ist diese Frage meiner Meinung nach
zweifellos zu b e j a h e n , insofern als ganz bestimmte formale Werte in un-
serer modernen künstlerischen Kultur allerdings nur durch die Existenz der
m o d e r n e n G r o ß s t a d t geboren werden konnten, der modernen
Großstadt mit Trambahn, mit Untergrundbahn, mit elektrischen und anderen La-
ternen, Schaufenstern, Konzert- und Restaurationssälen, Cafés, Schloten, Stein-
massen, und all dem wilden Tanz der Ton- und Farbenimpressionen, den auf die
Sexualphantasie einwirkenden Eindrücken und den Erfahrungen von Varianten
der seelischen Konstitution, die auf das hungrige Brüten über allerhand schein-
bar unerschöpfbare Möglichkeiten der Lebensführung und des Glückes hinwir-
ken. Teils als Protest, als spezifisches Fluchtmittel aus dieser Realität: – höchste
ästhetische Abstraktionen oder tiefste Traum- oder intensivste Rauschformen,
teils als Anpassung an sie: Apologien ihrer eignen phantastischen berauschen-
den Rhythmik. M. H., ich glaube, daß eine Lyrik, wie etwa die Stefan Georges:
ein solches Maß von Besinnung auf die letzten, von diesem durch die
T e c h n i k unseres Lebens erzeugten Taumel uneinnehmbaren Festungen
rein künstlerischen Formgehalts gar nicht errungen werden konnte, ohne daß der
Lyriker die Eindrücke der modernen Großstadt, die ihn verschlingen und seine
Seele zerrütten und parzellieren will, und mag er sie für sich in den Abgrund
verdammen, dennoch voll durch sich hat hindurchgehen lassen; erst recht na-
türlich nicht eine Lyrik wie die Verhaerens, der sie emphatisch bejaht und nach
ihren immanenten und adäquaten Formungen und Einheiten sucht. Ich glaube
ebenso, daß ganz bestimmte formale Werte der modernen Malerei gar nicht er-
schaut werden konnten, daß ihre Erringung nicht möglich gewesen re für
Menschen, welche die bewegten Massen, die nächtlichen Lichter und Reflexe
der modernen Großstadt mit ihren Verkehrsmitteln nicht des London des 17.
oder 18. Jahrhunderts, in dem, um ein anderes Gebiet heranzuziehen, noch ein
Milton geboren werden konnte, den ganz gewiß kein Mensch für ein mögliches
Produkt einer modernen Großstadt halten wird ich sage, es ist gar nicht mög-
lich, glaube ich, daß gewisse formale Werte der modernen Malerei ohne den
noch nie in aller Geschichte menschlichen Augen dargebotenen Eindruck,
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 456
denjenigen eigentümlichen Eindruck, den die moderne Großstadt schon am Tag,
aber vollends in überwältigender Weise bei Nacht macht, hätten errungen wer-
den nnen. Und da das S i c h t b a r e auf welches es hier allein ankommt
bei jeder modernen Großstadt bis ins letzte hinein seine spezifische Eigenart
p r i m ä r nicht von Eigentumsverhältnissen und sozialen Konstellationen,
sondern von der modernen Technik empfängt, so ist hier allerdings ein Punkt, an
dem die Technik rein als solche, sehr weittragend für die künstlerische Kultur,
Bedeutung hat. Mag man im weiteren kausalen Regressus von dieser Technik
aus nun wieder auf ökonomische, politische und andere sie erst ermöglichende
Faktoren kommen, jedenfalls sind nicht diese, sondern sind es rein technische
Dinge, von denen her jene vielleicht! künstlerisch relevanten Einflüsse ins
Leben treten.
Ein aus diesem Problem: Abhängigkeit der künstlerischen Entwicklung von
den allgemeinen, außer künstlerischen, technischen Bedingungen des Lebens
auszusonderndes, weit spezifischeres Spezialproblem ist nun natürlich die Ab-
hängigkeit der Entwicklung einer Kunst von i h r e n technischen Mitteln.
Sombart hat in dieser Hinsicht mehr nebenbei einige Bemerkungen auf musika-
lischem Gebiete gemacht. Das ist ein sehr schwieriger Punkt. Stilwandelungen
sind wohl auf keinem Gebiete der Kunst jemals rein technisch motiviert gewe-
sen. Wenigstens ist mir kein Fall bekannt, für den sich dies heute nach Lage uns-
rer Kenntnis behaupten ließe. Aber allerdings hat die Technik, auch wo sie
künstlerischen Formungen dient, ihre eigene immanente Gesetzlichkeit. In der
Geschichte der Baukunst ist der Uebergang zum gotischen Stil nicht die »Erfin-
dung« des schon vorher dekorativ bekannten Spitzbogens, sondern die »Lö-
sung« eines ganz bestimmten statischen Problems des Gewölbeschubes, ja viel-
leicht sogar der Schalung, welches die Architekten t e c h n i s c h beschäftigt
hatte und nach den gegebenen technischen Aufgaben nur durch die nunmehr
auch konstruktive Verwendung jener Bogenform zu bestimmten Zwecken mög-
lich war. So viel andere kulturhistorische Momente sonst noch mitspielen, – hier
hat einmal ein rein bau t e c h n i s c h e s Moment eminent schöpferisch ein-
gegriffen. Inwieweit die von Sombart herangezogene Musikgeschichte geeignete
Beispiele ähnlicher Art bieten würde, ist wohl fraglich. Es läßt sich z. B.
v i e l l e i c h t mir fehlt das Urteil behaupten, daß Beethoven um deswil-
len ganz bestimmte Konsequenzen seiner eigenen musikalischen Auffassung
nicht gewagt hat zu ziehen, weil die volle chromatische Tonleiter, wie sie die
Ventiltrompeten haben, den Blasinstrumenten zu seiner Zeit noch fehlte. Aber
dieser Mangel war, wie Berlioz schon vor deren Erfindung bewies, technisch
nicht absolut unüberwindbar und Beethoven selbst hat sich vor erstaunlichen
Experimenten nicht gescheut, ihn zu überwinden, hat aber seine evolutionisti-
schen größten Neuerungen o h n e alle instrumental- und orchestral t e c h -
n i s c h e n Aenderungen geschaffen. Es läßt sich feststellen, welchen Einfluß
die bekannte plötzliche Entwicklung der Streich-
Zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur. 457
instrumente, dann bei Bach die Orgel, auf den Charakter der Musik gehabt hat.
Aber schon hier spielen andere als technische Dinge mit. Bedingungen soziolo-
gischen, zum Teil ökonomischen Charakters ermöglichten die Entwicklung des
Haydnschen Orchesters. Aber der ihm zugrunde liegende Gedanke ist sein per-
sönlichstes Eigentum und nicht etwa technisch motiviert. Die Regel ist, daß das
künstlerische Wollen sich die technischen Mittel zu einer Problemlösung ge-
biert. Natürlich, darin hat Sombart ganz recht: es ist kein Zweifel, daß eine Mu-
sik wie die Wagnersche und alles, was ihr gefolgt ist, bis zu Richard Strauß, in-
strumental- und orchestraltechnische Voraussetzungen hat. Aber wir würden
auch dabei wohl höchstens von »Bedingungesprechen, mit denen, als gege-
ben, der Künstler zu »rechnen« hatte und zwar als mit S c h r a n k e n . Denn
was er an »Technik« braucht und haben k a n n , s c h a f f t er sich, nicht
aber die Technik ihm. Ob vollends das innere Bedürfnis nach dieser spezifisch
modernen Art der musikalischen Aussprache und ob der zugleich sinnlichemo-
tionale und intellektualistische Charakter dieser tonmalerischen Musik, der doch
das Entscheidende ist, als ein Produkt technischer Situationen verstanden wer-
den darf, das will mir allerdings äußerst fraglich erscheinen, denn da sind die
technischen Dinge eben n u r die mehr oder minder vollkommenen Mittel;
da dürften andere, vielleicht ihrerseits wieder »technisch«, aber nicht orchestral-
technisch, m i t bedingte Einflüsse unserer Kultur, das durch die Kulturlage be-
dingte Suchen nach einer neuen Einheit jenseits der alten gebundenen Formele-
mente, hineinspielen, und das wäre eben, soweit die »Technik« mitspielt, vom
Instrumentaltechnischen wohl zu unterscheiden. Denn auf diesem Problemge-
biete gehört in die Musik g e s c h i c h t e , und nur in sie, die Frage der Be-
ziehung zwischen künstlerischem Wollen und musiktechnischem Mittel. In die
S o z i o l o g i e dagegen die andere Frage nach der Beziehung zwischen dem
»Geist« einer bestimmten Musik und den das Lebenstempo und die Lebensge-
fühle beeinflussenden a l l g e m e i n e n technischen Unterlagen unseres
heutigen, zumal wiederum unseres grstädtischen Lebens.
Nun, schließlich die intellektuellen Kulturwerte! Es ist ja gar kein Zweifel,
daß z. B. die moderne chemische Wissenschaft an praktisch-technischen Zielen
verankert ist das liegt auf der Hand; wie könnte ein Chemiker von der Bedeu-
tung Ostwalds ausschließlich technologische Lebensideale haben und die ganze
Kulturentwicklung als einen Prozeß der Energieersparnis ansehen, wenn nicht
seine ganze Wissenschaft tatsächlich ausschließlich von den Bedürfnissen der
modernen Technik in unseren Fabriken, von deren Fortschritt, abhängig wäre
und dadurch nun allerdings indirekt in eminentestem Maß von kapitalistisch-
ökonomischen Bedingungen. In der Vergangenheit darin muß ich Herrn Prof.
Böttcher sehr entschieden zustimmen haben dagegen auch in die Entwicklung
der heute technisch bedeutsamsten Wissenschaften oft ganz heterogene Elemen-
te, die ganz anderen Sphären entsprungen waren als den Bedürfnissen der
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 458
Technik, haben Elemente ganz irrationaler Art, die direkt gar nichts zu schaffen
hatten mit irgendwelchem ökonomischem oder technischem Interesse, hineinge-
spielt. Solche Fragen gehören in die »Soziologie der Wissenschaft«. Ich möchte,
ohne das weiter auszuführen, nur gegen den ich weiß nicht, von welchem
Redner – hier gefallenen Ausdruck, daß irgend etwas, heiße es Technik, heiße es
Oekonomik, die »letzte« oder »endgültige« oder »eigentliche« Ursache von ir-
gend etwas sei, Protest einlegen. Wenn, wir uns die Kausalkette vorlegen, so
verläuft sie immer bald von technischen zu ökonomischen und politischen bald
von politischen zu religiösen und dann ökonomischen usw. Dingen. An keiner
Stelle haben wir irgendeinen Ruhepunkt. Und diejenige immerhin nicht seltene
Auffassung der materialistischen Geschichtsauffassung, als ob das »Oekonomi-
sche« in irgendeinem, wie immer gearteten Sinn, etwas »Letztes« in der Ursa-
chenreihe sei, diese Ansicht ist meines Erachtens allerdings wissenschaftlich
vollsndig erledigt.
Diskussionsrede dortselbst zu dem Vortrag von A. Ploetz über
»Die Begriffe Rasse und Gesellschaft«.
Verehrte Anwesende, es ist vieles von dem, namentlich von den allgemeine-
ren Dingen, die ich zu sagen hatte, in so ausgiebiger Weise von anderen gesagt
worden, daß ich, entsprechend dem gestern festgestellten Grundsatz, nichts von
dem zu wiederholen, was schon gesagt ist, auch meinerseits darauf verzichte,
darauf zurückzukommen, auch da, wo ich wohl vielleicht etwas anders formulie-
ren würde. Es ist also nur eine Serie von Einzelbemerkungen, die ich zu machen
habe.
Herr Dr. Ploetz hat seinen Vortrag damit begonnen, daß das Prinzip der
Nächstenliebe jahrtausendelang unsere Ethik beherrscht habe. Ich frage: Wann?
mit welchen Konsequenzen? Und herrscht sie heute gegenüber der rassenhygie-
nisch »günstigereVergangenheit verstärkt? Gewiß, in dem offiziellen Kate-
chismus steht sie heute wie im Mittelalter. Aber wie eigentlich die Praxis des
Lebens sich zu diesem offiziellen Postulat verhält und verhielt und die Auslese
beeinflußt hat, ob heute rassenhygienisch ungünstiger als früher, das eben wä-
re das Problem. Gewiß unterstand die Bevölkerung im Mittelalter in bezug auf
die Chance der Fortpflanzung einer scharfen Auslese. Neben der Kindersterb-
lichkeit die zunehmenden faktischen und auch rechtlichen Eheschranken für alle
nicht selbständigen Existenzen, beides grade für die untern Staffeln der Gesell-
schaft besonders stark wirkend, das ist rassenhygienisch gewiß nicht zu ver-
achten. Aber andererseits hat das Prinzip der Nächstenliebe im Mittelalter Men-
schen von physisch und geistig nicht geringen Qualitäten in die Klöster oder in
das libat der Priesterschaft oder der Ritterorden getrieben und von der Fort-
pflanzung ausgemerzt und ist das gleiche Prinzip auch durch systematische Un-
terstützung des Bettels verwirklicht worden. Wenn wir den Entwickelungsgang
vom Mittelalter zur Neuzeit besehen, so scheint mir, daß auch auf dem Boden
der christlichen Religion die Z u r ü c k schraubung dieses Prinzips Fortschritte
ge-
Zum Vortrag von A. Ploetz über »Die Begriffe Rasse und Gesellschaft«. 459
macht hat, wie man sie bei einer Religion, die nun einmal gewisse biblische
Fundamente hat, niemals hätte vermuten sollen. Ich erinnere daran, daß der Cal-
vinismus Armut und Arbeitslosigkeit ein für allemal als selbstverschuldete oder
als eine Folge von Gottes unerforschlichem Ratschluß ansah und demgemäß be-
handelte, also die »Schwache von der Fortpflanzung in starkem Maß aus-
schloß, daß auf dem Boden dieser Religiosit wenigstens keine Stätte war r
Nächstenliebe in dem Sinne, wie sie Herr Dr. Ploetz von seinem Standpunkt aus
bedenklich finden könnte, und ich bezweifle ferner, ob die moderne Entwick-
lung im großen und ganzen einen Weg gegangen ist, der ein Ueberhandnehmen
grade der Menschenliebe innerhalb unserer Gesellschaft zu einer dringlichen
Gefahr werden ließe. Auch das, was man üblicherweise Sozialpolitik nennt, und
was einen sehr verschiedenen, unter andren doch auch einen, im Geiste von
Herrn Dr. Ploetz rassenhygienisch sehr erwünschten Sinn haben kann den
nämlich: den physisch und geistig Starken, aber in bezug auf P o r t e m o n -
n a i e Schwachen: den, rassenhygienisch gewertet, Starken also, die sozial
unten sind, die glichkeit des Heraufsteigens, die glichkeit der gesunden
Fortpflanzung zu geben, auch das ist keineswegs notwendig ein Kind einer
wahllosen Nächstenliebe.
Herr Dr. Ploetz hat die Bemerkung gemacht, das In-Blüte-Stehen es kommt
ja auf die Wörtlichkeit nicht an das In-Blüte-Stehen der gesellschaftlichen Zu-
stände sei stets abhängig von der Blüte der Rasse. So oder ähnlich! Meine
Herrn, das ist, ganz einerlei, welchen Begriff von »Gesellschaft« und »Rass
man verwendet, eine ganz unbewiesene Behauptung, die ich auch nicht im min-
desten nach dem gegenwärtigen Stand und mit den gegenwärtigen Mitteln unse-
rer Forschung für erweislich halte. Ich weiß sehr wohl, daß es Theorien gibt,
welche glaubten, auf dem Boden der Entwicklung des Altertums eine Stütze für
diese oft aufgestellte These zu finden. Es sei so ist sogar von hervorragenden
Historikern gelegentlich behauptet worden der Untergang der Kultur des Alter-
tums verschuldet worden dadurch, daß infolge der Kriege und der Heeresaushe-
bung die Kräftigsten und Tüchtigsten, die den Erdball beherrschten, ausgemerzt
worden seien. Tatsächlich ist nun nachweislich gerade umgekehrt die Entwick-
lung dahin gegangen, daß das mische Heer sich zunehmend aus sich selbst
und aus Nicht-Italienern ergänzte, schließlich ganz und gar; daß fernerhin je
länger je weniger die Bevölkerung des mischen Reiches in Anspruch genom-
men wurde für die Zwecke der Aushebung; daß je länger je mehr die Barbaren
es waren, die die Verteidigung zu führen hatten und es kann keine Rede davon
sein, daß auch nur ein letzter Rest von dieser These übrig bliebe. Wir wissen au-
ßerdem heute genügend über die Gründe der großen Umwälzung der Kultur des
Altertums, um sagen zu können, daß hier, soweit überhaupt ethnische Vorgänge,
nicht die Aus m e r z u n g , sondern die bewußte Aus s c h a l t u n g der
römischen Geschlechter aus den Offiziersstellen und aus der Verwaltung mit-
spielte, ein Geschehnis, welches nicht irgendwelche für uns erkennbare »rassen-
biologische« Bedeutung
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 460
gehabt hat, sondern, soweit es relevant war für das Schicksal des mischen Rei-
ches, T r a d i t i o n s w e r t e ausschaltete, traditionslose Völker, lker
ohne Kultur, Barbaren in die Offiziersstellen, in die Verwaltung usw. berief, und
daß das Schwinden des antiken Geschmacks und der antiken Bildungsschicht,
das Schwinden der alten Traditionen des mischen Heeres, das Schwinden der
alten Verwaltungspraxis dadurch und durch die ökonomisch ableitbaren Aende-
rungen der Verwaltung so einleuchtend erklärbar ist, daß keine Spur irgendeiner
Rassentheorie als Ergänzung erforderlich ist – ich sage: erforderlich ist; denn ich
gebe ohne weiteres zu, daß vielleicht dennoch solche Momente in einer für uns
heute nicht mehr kenntlichen Weise mitgewirkt haben. Aber wir wissen dies
nicht und werden es nie wissen, und es widerstreitet wissenschaftlicher Metho-
dik, wo wir bekannte und zulängliche Gründe haben, diese zugunsten einer heu-
te und für immer unkontrollierbaren Hypothese beiseite zu schieben. Nun aber
überhaupt: »Die Bte der gesellschaftlichen Zustände ist abhängig von der Blü-
te der Rasse.« Meine Herren, würde man unter »Rasshierbei das verstehen,
was der Laie darunter üblicherweise sich denkt: in Fortpflanzungsgemeinschaf-
ten gezüchtete erbliche Typen, dann re ich in ganz persönlicher Verlegenheit;
ich fühle mich mlich als Schnittpunkt mehrerer Rassen oder doch ethnischen
Sondervolkstümer und glaube, es gibt in diesem Kreis sehr viele, die in ähnli-
cher Lage ren. Ich bin teils Franzose, teils Deutscher, und als Franzose sicher
irgendwie keltisch infiziert. Welche dieser Rassen – denn man hat auf die Kelten
die Bezeichnung »Rasse« angewendet blüht denn nun in mir, resp. muß blü-
hen, wenn die gesellschaftlichen Zusnde in Deutschland blühen, resp. blühen
sollen?
Dr. P l o e t z (unterbrechend): Das ist ja Systemrasse, was Sie jetzt be-
haupten! Das ist die Varietät! Ich habe gehandelt von der Vitalrasse, die nichts
mit dieser Varietät zu tun hat. Alle diese Varietäten gehören mindestens zu einer
Vitalrasse.
Professor M a x W e b e r (fortfahrend): Ich mußte die verschiedenen
Möglichkeiten des Rassebegriffs durchgehen. Ich stelle mich also jetzt auf Ihren
Boden und konstatiere, daß auch von da aus doch eine Menge Aeußerungen ge-
fallen sind, die einen direkt mystischen Charakter haben. Was heißt es denn ei-
gentlich: »die Rasse blüht« oder schon: »die Rasse« reagiert in bestimmtem
Sinn? Was heißt es: die Rasse »ist eine Einheit«? wenn nicht eine Blutsein-
heit? Soll über die Existenz dieser »Einheit« das bloße Faktum der physisch
normalen Fortpflanzungsfähigkeit die ja bei Bastarden herabgesetzt ist ent-
scheiden? Und gehört zum »Erhaltungsgemäßen« die Fähigkeit, bestimmte Kul-
turelemente zu entwickeln, oder was sonst? Im letzteren Fall men wir mit
dem Begriff der »Vitalrasse« in das uferlose Gebiet der subjektiven Wertungen.
Und dies Gebiet scheint mir nun Dr. Ploetz überall da zu betreten, wo er Zu-
sammenhänge zwischen Rasse und Gesellschaft statuiert. Gewiß; wenn man an-
nimmt, es bestehen nebeneinander bestimmte Rassen in irgendeinem
Zum Vortrag von A. Ploetz über »Die Begriffe Rasse und Gesellschaft«. 461
rein empirisch durch M e r k m a l e bestimmbaren Sinn, und wenn man dann
den Begriff »Gesellschaft«, der ja rein konventionell ist, ersetzt durch: gesell-
schaftliche Beziehungen und gesellschaftliche Institutionen, dann kann man sa-
gen: die gesellschaftlichen Institutionen in ihrer Eigenart sind gewissermaßen
die Spielregeln, bei deren faktischer Geltung für die Auslese bestimmte mensch-
liche Erbqualitäten die Chancen haben, zu »gewinnen«: aufzusteigen, o d e r ,
was damit ja nicht identisch ist, sondern teilweise nach ganz anderen Gesetzen
verläuft: sich fortzupflanzen. Daß hier Unterschiede der Chancen bestehen,
das ist nicht nur heute so, das re auch nicht anders in einem etwaigen, wie
immer gearteten, sozialistischen Zukunftsstaat: es werden in diesem sozialisti-
schen Zukunftsstaat andere Erbqualitäten sein, welche zu Macht, Glück, Fort-
pflanzung und Züchtung gelangen, als in unserer heutigen Gesellschaft; irgend-
welche werden es aber auch dort mehr sein als andere. Man mag die Gesell-
schaft einrichten, wie man will, die Auslese steht nicht still und wir nnen nur
die Frage stellen: w e l c h e Erbqualitäten sind es, die unter der Gesell-
schaftsordnung X oder Y jene Chancen bieten. Das scheint mir eine rein empiri-
sche Fragestellung, die akzeptabel ist für uns. Und ebenso die umgekehrte: wel-
che Erbqualitäten sind die V o r a u s s e t z u n g dafür, daß eine Gesell-
schaftsordnung bestimmter Art möglich ist oder wird? Auch das läßt sich sinn-
voll fragen und auf die existierenden Menschenrassen anwenden. Nimmt man
aber diese Formulierungen, so sieht man sofort, daß dafür mit einem Begriff von
Rasse, so wie Herr Dr. Ploetz ihn formuliert hat wie ich wenigstens vorläufig
glaube: ich überzeuge mich gerne des Gegenteils nichts anzufangen ist. Denn
sein Rassebegriff scheint mir ein bei weitem nicht hinlänglich differenzierter
Begriff, und, m. H., das wird bestätigt, wenn wir uns fragen, was denn bisher ei-
gentlich für die exakte soziologische Forschung herausgesprungen ist bei der
Verwendung dieses speziellen Rassebegriffs. Meine Herren, es sind äußerst
geistreiche und interessante Theorien herausgekommen. Die Zeitschrift, die Herr
Dr. Ploetz leitet, ist geradezu ein Arsenal von unermeßlichen, zum Teil mit einer
beneidenswerten Fülle von Geist aufgestellten Hypothesen über die züchterische
Wirkung aller möglichen Institutionen und Vorgänge, und niemand kann dank-
barer für diese Anregungen sein, als ich. Aber daß es heutzutage auch nur eine
einzige Tatsache gibt, die für die Soziologie relevant wäre, auch nur eine exakte
konkrete Tatsache, die eine bestimmte Gattung von soziologischen Vorgängen
wirklich einleuchtend und endgültig, exakt und einwandfrei zurückführte auf
angebotene und vererbliche Qualitäten, welche eine Rasse besitzt und eine ande-
re definitiv wohlgemerkt: definitiv! nicht, das bestreite ich mit aller Be-
stimmtheit und werde ich so lange bestreiten, bis mir diese eine Tatsache genau
bezeichnet ist.
Es ist beispielsweise nicht, wie oft geglaubt wird, richtig, daß die gegen-
seitige soziale Lage der Weißen und Neger in Nordamerika heute einwandsfrei
auf Rassenqualitäten zurückgeführt werden nnte. Es ist möglich und für mich
subjektiv im höchsten Grade
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 462
wahrscheinlich, daß dabei auch, vielleicht stark, solche Erbqualitäten im Spiele
sind. In welchem Maße und vor allem, in welchem Sinne aber, steht nicht fest.
Meine Herren, man hat ja z. B. behauptet, und behauptet noch und auch in der
Zeitschrift des Herrn Dr. Ploetz ist es von sehr angesehenen Herren behauptet
worden, der Gegensatz zwischen Weißen und Negern dort beruhe auf »Rassen-
instinkten«. Ich bitte mir diese Instinkte und ihre Inhalte nachzuweisen. Sie sol-
len sich unter anderem darin offenbaren, d die Weißen die Neger »nicht rie-
chen« nnen. Ich kann mich auf meine eigene Nase berufen; ich habe bei eng-
ster Berührung gar nichts Derartiges wahrgenommen. Ich habe den Eindruck
gehabt, daß der Neger, wenn er ungewaschen ist, genau so riecht wie der Weiße,
und umgekehrt. Ich berufe mich aber ferner darauf, daß man in den Südstaaten
täglich das Schauspiel erleben kann, daß eine Lady auf dem Wagen sitzt und die
Zügel in der Hand hält, dicht angeschmiegt aber an sie, Schulter an Schulter, der
Neger, und daß ihre Nase offenbar darunter nicht leidet. Der Negergeruch ist,
soviel ich bisher sehe, eine Erfindung der Nordstaaten, um ihre neuerliche Ab-
schwenkung von den Negern zu erklären. Wenn wir, m. H., etwa die glich-
keit hätten, Menschen heute bei der Geburt schwarz zu imprägnieren, so würden
auch diese Menschen in der Gesellschaft von Weißen stets in einer etwas prekä-
ren, eigentümlichen Lage sein. Irgendein Beweis dafür aber, daß die spezifische
Art der dortigen Rassenbeziehungen auf angeborenen und vererbten I n -
s t i n k t e n beruht, ist bisher nicht zuverlässig erbracht, obwohl ich jeden
Augenblick zugeben will, daß der Beweis vielleicht einmal erbracht werden
könnte. Aber vorerst fällt auf, daß diese »Instinkte« verschiedenen Rassen ge-
genüber ganz verschieden funktionieren, und zwar aus Gründen, die durchaus
nichts mit Rassenerhaltungs-Erfordernissen zu tun haben. Wenn Neger und In-
dianer von den Weißen drüben so verschieden bewertet werden, so wird der
Grund für die Indianer von den Weißen stets dahin formuliert: »They did’n’t
submit to slavery«: Sie waren keine Sklaven. D a ß sie keine Sklaven waren,
hat nun allerdings insofern in ihren spezifischen Qualitäten seinen Grund, als sie
das Maß von Arbeit, welches der Plantagen-Kapitalismus verlangte, nicht
a u s h i e l t e n zweifelhaft, ob r e i n wegen erblicher Eigenheiten, oder
auch ihren Traditionen zufolge und die Neger es leisteten. Aber dieser Um-
stand bildet doch wohl weder bewußt noch unbewußt die Basis eines spezifisch
verschieden reagierenden »Instinkts« der Weißen. Vielmehr: Es ist die alte feu-
dale Verachtung der Arbeit, also ein soziales Moment, das hier mitspielt, wobei
ich ohne weiteres Herrn Dr. Ploetz zugebe ...
(Dr. Ploetz (unterbrechend): Nicht in den Nordstaaten! Dort spielt das Mo-
ment der Verachtung der Arbeit nicht diese Rolle.)
Professor M a x W e b e r (fortfahrend). Das ist erstens für die Gegenwart
nicht mehr unbedingt richtig. Und erst die Gegenwart kennt in den Nordstaaten
die Negerverachtung, und zweitens: Wenn Sie die Stellung der Schwarzen in-
nerhalb der Gewerkvereine verfolgen, so bemerken Sie, daß sie zunehmend als
blacklegs, als anspruchs-
Zum Vortrag von A. Ploetz über »Die Begriffe Rasse und Gesellschaft«. 463
lose, aus Traditionsgründen anspruchslose, Arbeitswillige verachtet und ge-
fürchtet sind, und endlich kann man leicht sich überzeugen, daß der bürgerliche
Amerikaner von heute, wie jeder andere, seinen Darwin, seinen Nietzsche, unter
Umständen seinen Dr. Ploetz gelesen hat und sich daraus entnommen hat: ein
Mann – ich spreche das ohne den leisesten Anflug von Spott – ein Mann, der ein
Aristokrat im modernen Sinne des Wortes sein will, m irgend etwas haben,
was er verachtet, und wir Amerikaner wollen Aristokraten im europäischen Sin-
ne sein. Es handelt sich da einfach um einen Europäisierungsprozeß, der in
Amerika zufällig diese Nebenerscheinung zeitigt.
Nun, meine verehrten Herren, damit noch zu ganz wenigen Schlußbemerkun-
gen!
Die »Gesellschaft« hat Herr Dr. Ploetz als ein Lebewesen bezeichnet, mit der
bekannten, auch von ihm sehr eindringlich vorgetragenen Begründung ihrer
Verwandtschaft mit Zellenstaaten und Aehnlichem. Es kann sein, daß r die
Zwecke des Herrn Dr. Ploetz dabei etwas Fruchtbares herausspringt das we
er natürlich selbst am besten – für die soziologische Betrachtung springt niemals
durch die Vereinigung mehrerer präziserer Begriffe zu einem unbestimmten Be-
griffe etwas Brauchbares heraus. Und so liegt es hier. Wir haben die glich-
keit, rationales Handeln der einzelnen menschlichen Individuen geistig nacher-
lebend zu verstehen. Wenn wir eine menschliche Vergesellschaftung, welcher
Art immer, nur nach der Art begreifen wollen, wie man eine Tiervergesellschaf-
tung untersucht, so würden wir auf Erkenntnismittel verzichten, die wir nun
einmal beim Menschen haben und bei den Tiergesellschaften nicht. Dies und
nichts anderes ist der Grund dar, weshalb wir für unsere Zwecke im allgemei-
nen keinen Nutzen darin erblicken, diese ganz fraglos vorhandene Analogie
zwischen Bienenstaat und irgendwelchen menschlichen, staatlichen Gesellschaft
zur Grundlage irgendwelchen Betrachtungen zu machen.
Schließlich, meine Herren, hat Herr Dr. Ploetz gesagt, die Gesellschaftslehre
ist ein Teil der Rassenbiologie.
(Dr. P l o e t z : Die Gesellschaftsbiologie, nicht die Gesellschaftslehre über-
haupt!)
Prof. M a x W e b e r : Ja, dann gestehe ich, liegt es vielleicht an mir, dann
ist mir nicht ganz klar, wodurch sich Gesellschaftsbiologie von Rassenbiologie
unterscheiden soll, es sei denn, daß eben die Beziehungen zwischen
gesellschaftlichen Institutionen und Auslese bestimmter Qualitäten in der Art,
wie ich das vorhin ausgeführt habe, der Gegenstand gesellschaftsbiologischer
Forschung sein soll.
Ich möchte nur eine allgemeine Bemerkung daran knüpfen. Es scheint mir
nicht nützlich, Gebiete und Provinzen des Wissens a priori, ehe dies Wissen da
ist, abzustecken und zu sagen: Das gehört zu unserer Wissenschaft und das
nicht. Man hat dadurch nur die allerunfruchtbarsten Streitigkeiten vermehrt. Wir
könnten natürlich sagen, daß, weil sich schließlich alle gesellschaftlichen Vor-
gänge auf der Erde abspielen und der Planet Erde ein Teil des Sonnensystems
ist, alles, was sich abspielt, eigentlich Objekt der Astronomie sein müßte und
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 464
nur zufällig, deswegen, weil es keinen Zweck hat, Vorgänge auf der Erde mit
dem Teleskop zu beobachten, mit anderen Hilfsmitteln behandelt werde. Aber
kommt dabei nun etwas heraus? Ich möchte ganz ebenso bezweifeln, daß des-
halb, weil unzweifelhaft Vorgänge, mit denen sich die Biologie befaßt, die Aus-
lesevorgänge, berührt werden durch gesellschaftliche Institutionen und in sehr
vielen Fällen auch wieder gesellschaftliche Institutionen in ihrer Ausprägung
von Erbqualitäten der Rassen, daß deshalb es Sinn haben soll, irgendeinen Ge-
genstand, irgendein Problem, auf der einen Seite als Teil einer erst ad hoc zu
konstruierenden Wissenschaft für diese zu konfiszieren. Was wir von den Her-
ren Rassenbiologen erwarten und was wie ich nicht zweifle, gerade auf Grund
des Eindrucks, den ich von den Arbeiten des Herrn Dr. Ploetz und seiner Freun-
de gewonnen habe, nicht bezweifle was wir von ihnen sicherlich irgendwann
geleistet erhalten werden, das ist der exakte Nachweis ganz bestimmter Einzel-
zusammenhänge, also der ausschlaggebenden Wichtigkeit ganz konkreter Erb-
qualitäten für konkrete Einzelerscheinungen des gesellschaftlichen Lebens. Das,
meine Herren, fehlt bisher. Das ist kein Vorwurf gegen eine so junge Wissen-
schaft, es muß aber als Tatsache konstatiert werden, und es dient vielleicht dazu,
die utopistische Begeisterung, mit der ein solches neues Gebiet in Angriff ge-
nommen wird, nicht dahin ausarten zu lassen, daß dieses neue Gebiet die sachli-
chen Grenzen der eigenen Fragestellungen verkennt. Wir erleben es heute auf al-
len Gebieten. Wir haben erlebt, daß man geglaubt hat, man nnte die ganze
Welt einschließlich z. B. der Kunst und was es sonst gibt, rein ökonomisch er-
klären. Wir erleben es, daß die modernen Geographen alle Kulturvorkommnisse
»vom geographischen Standpunkt« aus behandeln, wobei sie uns nicht etwa,
was wir von ihnen wissen möchten, nachweisen, nämlich: Welche spezifischen
konkreten Komponenten von Kulturerscheinungen im einzelnen Fall durch kli-
matische oder ähnliche rein geographische Momente bedingt sind, sondern in ih-
ren »geographischen« Darstellungen etwa registrieren: »die russische Kirche ist
intolerant«, und wenn wir sie fragen: Inwiefern gehört diese Feststellung in die
Geographie? dann sagen: Rland ist ein örtlicher Bezirk, die russische Kirche
örtlich verbreitet, also Objekt der Geographie. Ich glaube, daß die Einzelwissen-
schaften ihren Zweck verfehlen, wenn jede von ihnen nicht das Spezifische lei-
stet, was sie und grade nur sie leisten kann und soll, und ich möchte die Hoff-
nung aussprechen, daß es der biologischen Betrachtung gesellschaftlicher Er-
scheinungen nicht ähnlich ergehen möchte.
Dortselbst, Erste Diskussionsrede zu E. Troeltschs Vortrag über
»Das stoisch-christliche Naturrecht«.
Verehrte Anwesende! Ich möchte einiges sagen zu dem, was Herr Professor
Tönnies (als Diskussionsredner) ausgeführt hat. Er hat sich auf dem Gebiet, über
das wir sprechen, in immerhin weitgehendem Maße als Anhänger der ökonomi-
schen Geschichtsdeutung,
Zu E. Troeltschs Vortrag über »Das stoisch-christliche Naturrecht«. 465
wie wir statt »materialistische Geschichtsauffassung« sagen wollen, bekannt.
Man wird seine Auffassung doch wohl im ganzen dahin resumieren können, mit
einem modernen, oft gebrauchten aber innerlich nicht ganz klaren Ausdruck,
daß diejenigen religiösen Gegensätzlichkeiten, von denen hier die Rede gewesen
ist in dem Vortrag, den wir hörten, »Exponenten« irgendwelcher ökonomischer
Gegensätze gewesen seien. Nun, meine Herren, es kann auch nicht dem gering-
sten Zweifel unterliegen, daß die ökonomischen Verhältnisse, wie überall, so
auch hier, weit eingreifen, und in seinen bekannten Arbeiten hat mein Kollege
und Freund Troeltsch auch in der nachdrücklichsten Weise auf die ökonomi-
schen Beziehungen und Bedingungen der Entwicklung religiöser Spezifika hin-
gewiesen. Aber man darf sich diese Entwicklung nicht so ganz einfach denken.
Ich glaube, vielleicht in letzter Linie mit Tönnies vielfach einig zu sein; aber bei
dem, was er gesagt hat, lag doch in einigen seiner Bemerkungen ein Versuch,
einer allzu gradlinigen Konstruktion.
Professor Dr. T ö n n i e s : Vorläufig!
Professor Dr. M a x W e b e r : Er hat insbesondere, wenn ich ihn recht
verstanden habe, die Verwandtschaft der Sekten-Religiosität mit der Stadt be-
tont. Nun, meine Herren, die erste spezifische Sekte, die Mustersekte sozusagen,
der alle späteren eigentlichen Sekten in der Struktur entsprechen, die Sekte der
Donatisten im Altertum, ist auf rein agrarischem Boden entstanden. Das Charak-
teristikum dieser Sekte, wie jeder Sekte, trat darin zutage, daß sie sich nicht da-
mit begnügt, daß die christliche Kirche eine Art von Fideikommißstiftung der
Gnade sei, gleichgültig, welcher Mensch diese Gnade im Sakrament spendet,
gleichgültig also, ob der Priester würdig ist oder nicht: er spendet eben magische
Wunderwirkungen, über welche seine A n s t a l t verfügt, die ganz unabhän-
gig davon sind, welcher Wert ihm als Individuum innewohnt. Hiergegen wendet
sich der Donatismus und verlangt, daß der Priester, wenn er als Priester von sei-
ner Gemeinde anerkannt werden soll, auch in seinem Wandel, in seiner Persön-
lichkeit eine Verkörperung voller religiöser Qualifikation sei. Eine »Sekte« ist
w e n n man sie von einer »Kirche« begrifflich scheiden eben nicht, wie die-
se, eine Anstalt, sondern eine Gemeinschaft von religiös Qualifizierten, sie ist
die allen zum Heil berufene und n u r diese umfassende Gemeinde, die als un-
sichtbare Kirche, auch in den Gedanken Luthers und Calvins, Augustins, exi-
stiert, aber nun hier, bei der Sekte ins sichtbare übersetzt wird.
Alles, was später an Sekten entstanden ist, knüpft in den entscheidenden
Punkten, in dem Verlangen der Reinheit, der ecclesia pura, der Gemeinschaft
nur von solchen Gliedern, die nach Art der ihres Wandels und ihrer Lebensfor-
men nicht offensichtlich die Zeichen der göttlichen Verwerfung an sich tragen,
daran an – hrend dagegen die Kirchen ihr Licht scheinen lassen über Gerech-
te und Ungerechte, nach der calvinistischen und der katholischen so gut wie
nach der lutherischen Lehre, denn z. B. auch nach der calvinistischen Lehre mit
ihrem Prädestinationsglauben ist es Aufgabe der Kirche, auch die unwiderruf-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 466
lich von Ewigkeit her Verdammten äußerlich unter ihre Fuchtel zu zwingen,
zu Gottes Ruhme. Jene »Sekten«form der Gemeinschaftsbildung aber findet
sich, wie gesagt, zum erstenmal a u ß e r h a l b der Städte.
Nun, wie steht es denn außerhalb des Altertums? Da hat Professor Tönnies
die Einfachheit der Zustände des agrarischen Mittelalters verantwortlich ge-
macht für die Art der Entwicklung des mittelalterlichen Christentums und hat
hervorgehoben, daß auf dem Boden der Städte die Kirchenauffassung ich ver-
einfache das, was er gesagt hat, wohl mit seiner Zustimmung etwas, ohne es,
glaube ich, zu verfälschen – durchlöchert wurde, teils zugunsten eines rein welt-
lichen oder wenigstens zur reinen Weltlichkeit sich entwickelnden Rationalis-
mus, teils zugunsten des Sektenprinzips. Demgegenüber ist doch festzustellen,
daß die Machtstellung des Papstums grade, und keineswegs nur politisch, auf
den Städten ruhte. Im Gegensatz zu den Feudalgewalten standen die Städte Itali-
ens zum Papst. Die Zünfte Italiens waren das katholischste, was es überhaupt
gegeben hat in der Zeit der großen Kämpfe. Der heilige Thomas und die Bettel-
orden waren gar nicht möglich auf einem anderen Boden als auf dem der Städte,
denn gerade weil sie vom Bettel leben, können sie nicht vom Bauern leben, der
den Bettler zur Türe hinausweist.
Professor Dr. T ö n n i e s : Sie revoltierten gegen den Benediktinerorden.
Professor Dr. M a x W e b e r : Gewiß, aber vom Boden der Städte aus. Der
hochgespannteste Kirchengedanke sowohl wie der Sektengedanke, alle beiden
höchsten Formen der Religiosität, sind erst auf dem Boden der Städte im Mittel-
alter ...
Professor Dr. T ö n n i e s (den Redner unterbrechend): Die Franziskaner
haben sehr bedeutende Beziehungen zu den Sekten!
Professor Dr. M a x W e b e r : Zweifellos, das ist gar keine Frage; aber
die Dominikaner nicht, und ich konstatiere hier ja lediglich, daß überhaupt die
volle, auch grade die k i r c h l i c h e , Christianisierung des Mittelalters erst
durchgeführt worden ist, nachdem es Städte gab, und daß sowohl die Form der
Kirche und ihres Naturrechts wie die Form der Sekte und des ihrigen ihre Bte
erst auf dem Boden der Städte gefunden haben. Ich würde also nicht zugeben,
daß hier eine prinzipielle Unterscheidung zu machen sei. Ich würde das auch für
später nicht zugeben. Es ist unendlich oft der Gedanke vertreten worden, daß der
Protestantismus eigentlich die Form sei, in der sich die christliche Religiosität
der modernen Geldwirtschaft angepaßt habe. Ganz ebenso, wie man sich einge-
bildet hat, daß die Rezeption des mischen Rechts erst durch moderne geldwirt-
schaftliche Verhältnisse herbeigeführt worden wäre. Es steht felsenfest demge-
genüber, daß ausnahmslos alle spezifisch kapitalistischen Rechtsformen der mo-
dernen Zeit mittelalterlichen, zum großen Teil direkt germanischen, Ursprungs
und dem mischen Rechte völlig unbekannt sind, und es steht ferner fest, daß
die Reformation erstmalig von Gegenden aus in Bewegung gesetzt worden ist,
die in ökonomischer
Zu E. Troeltschs Vortrag über »Das stoisch-christliche Naturrecht«. 467
Beziehung hinter Italien, hinter Florenz usw. unendlich weit zurückstanden.
Auch alle Sekten, auch die uferischen Sekten z. B. haben sich grade auf dem
Boden z. B. von Friesland und auf agrarischem Boden besonders gut entwickelt.
Sie werden ja gleich sehen, wieweit trotzdem wir beide übereinstimmen. Nur
das und das werden Sie vielleicht auch gar nicht bestreiten, was ich dagegen
sage nur das wende ich ja ein: es darf nicht dem nachgegeben werden, der An-
sicht, die immerhin indirekt und wohl gegen Ihre Absicht aus Ihren Worten ge-
schlossen werden nnte, als ob man die religiöse Entwicklung als Reflex von
irgend etwas anderem, von irgendwelchen ökonomischen Situationen betrachten
könnte. Das ist meiner Meinung nach unbedingt nicht der Fall. Will man sich
klar machen, wie sich ökonomische und religiöse Dinge zueinander verhalten,
so wird man etwa an folgendes erinnern dürfen.
Wie sich Herr Professor nnies erinnern wird, war in Schottland und ebenso
auch in Frankreich der Adel in Schottland ganz, in Frankreich hervorragend
der Führer der calvinistisch-hugenottischen Revolte. Und so ist es überall. Die
Kirchenspaltung geht senkrecht und vertikal durch die Ständeschichtung der
Zeit des 16. Jahrhunderts hindurch, sie umft Personen von den obersten bis zu
den untersten Schichten der Belkerung hinab. Aber im weiteren Verlauf der
Entwicklung ändert sich das. Es ist ganz gewiß kein Zufall und hat selbstver-
ständlich auch ökonomische Gründe, daß der schottische Adel in den Schoß der
Episkopalkirche zurückgekehrt ist, und daß umgekehrt das schottische Bürger-
tum in die schottische Freikirche ausgemündet ist. Es ist kein Zufall, daß der
französische Adel je länger je mehr die Fahne des Hugenottismus verließ, und
daß das, was an Hugenottismus in Frankreich weiter verblieb, zunehmend bür-
gerlichen Charakters war. Aber auch das ist nicht so zu verstehen, daß das Bür-
gertum, als solches, aus ökonomischen Gründen, aus sich die betreffende Reli-
giosität entwickelt habe. Umgekehrt! Das Bürgertum, das in Schottland geprägt
wurde, hat z. B. John Keats als ein, Produkt der dortigen Kirchenmänner be-
zeichnet. Und für Frankreich hat z. B. Voltaire das Richtige recht gut gewußt.
Kurzum, auch hierin wäre es gänzlich irrig – und nur dagegen wende ich mich –,
wollte man eine einseitig ökonomische Deutung geben, auch nur in dem Sinne,
daß das Oekonomische Hauptursache sei, oder gar: daß es sich nur um Reflexe
des Oekonomischen oder derartiges handle.
Nun möchte ich zu dem Vortrag von Professor Troeltsch noch einiges direkt
sagen.
Zunächst die verschiedenen Typen, die er uns vorgeführt hat. Von denen muß
man sich nun gegenwärtig halten, das versteht sich eigentlich von selbst, daß sie
sich gegenseitig in hohem Me durchdringen. So ist z. B. der Calvinismus eine
Kirche, die eigentlich kraft ihrer dogmatischen Unterlagen auf die Dauer keine
Kirche bleiben kann. Denn wenn durch ein Dekret Gottes vor Erschaffung der
Welt für alle Zukunft der eine Mensch zur Hölle, der andere zum Himmel be-
stimmt war, so mußte man eigentlich schließlich zu der Frage kommen,
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 468
die Calvin selbst ablehnt. Ob man dem Menschen denn nicht es ansehen nne,
wozu er bestimmt war, ob er so oder so prädestiniert ist? Und es mußte ferner
die Vorstellung erweckt werden: Wozu der Eingriff der Staatsgewalt und kirch-
lichen Disziplin? Die helfen ja dem Menschen, der zur Hölle verurteilt ist, abso-
lut gar nichts. Gott hat den Menschen vor so und so viel tausend Jahren, gleich-
viel was er tut und was er ist, dazu bestimmt. Er kommt zur Hölle und wird ver-
dammt, da ist nichts zu machen. Wozu also irgendwelche Apparate, wie sie die
Kirche im Gegensatz zur Sekte besitzt, überhaupt in Bewegung setzen! Das ist
in der Tat ich vereinfache die Dinge wieder vielfach eingetreten und die ko-
lossale Expansion des am Prädestinationsglauben hängenden Baptismus in Eng-
land, der ein starker Träger der Cromwellschen Bewegung ist, und ebenso der
Zustand, daß beispielsweise in Neu-England nur diejenigen die Kirche beherr-
schen, deren äußerer Wandel wenigstens die glichkeit einschließt, daß sie
nicht zu den Verworfenen gehören, zeugt davon. Das ging so weit, daß die ande-
ren, die nicht dieses äußere Zeichen an sich tragen, und die man deshalb nicht
zum Abendmahl zuließ, weil das zur Unehre Gottes gereicht hätte, auch nicht
zur Taufe ihrer Kinder zugelassen werden durften.
Nun spielt ferner das möchte ich ergänzend hinzufügen eine wichtige
Sonderrolle die griechische Kirche. Sie läßt sich nicht so ganz ohne weiteres
einrangieren. Meine Herren, Rußland befand sich vor drei Jahrzehnten, und
noch mehr natürlich bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft, staatlich und orga-
nisatorisch ungefähr in dem Zustande des Reiches Diokletians, obwohl die Kul-
turverhältnisse, in vieler Hinsicht auch die ökonomischen Verhältnisse zum Teil
wesentlich anders waren. Das russische Christentum war und ist noch heute in
seinen spezifischen Typen in hohem Maße antikes Christentum. Wenn man nun
eine autoritäre Kirche vor sich sieht, so fragt man sie zunächst darnach ab: Wo
ist diejenige Instanz, in der die letzte infallible Gewalt ruht, die also darüber be-
finden kann, ob jemand zur Kirche gehört oder nicht, ob eine Kirchenlehre
dogmatisch korrekt ist oder nicht? und so weiter. Wir wissen, daß das in der ka-
tholischen Kirche heute nach langen mpfen der Papst allein ist; wir wissen,
daß es in der lutherischen Kirche das »Wort«, die Schrift, ist, und diejenigen, die
von Amts wegen dazu berufen sind, es auszulegen, und nur diese.
Fragen wir nun die griechische Kirche darnach ab, wer denn bei ihr diese In-
stanz darstellt, so lautet die offizielle Antwort, wie sie namentlich Chomjakoff
schon interpretiert hat: Die i n L i e b e verbundene Gemeinschaft der Kir-
che. Und hier zeigt sich, daß, während die calvinistische Kirche mit Sektentum
durchsetzt ist, die griechische Kirche in hohem Grade durch einen sehr spezifi-
schen, a n t i k e n Mystizismus durchsetzt ist. Es lebt in der orthodoxen Kir-
che ein spezifisch mystischer, auf dem Boden des Ostens unverlierbarer Glaube,
daß Bruderliebe, Nächstenliebe, jene eigentümlichen, uns so blaß anmutenden
menschlichen Beziehungen, welche die großen Erlösungsreligionen verklärt ha-
ben, einen Weg bilden nicht etwa nur zu irgendwelchen sozialen Effekten die
sind ganz nebensächlich, – sondern
Zu E. Troeltschs Vortrag über »Das stoisch-christliche Naturrecht«. 469
zur Erkenntnis des Weltsinns. zu einer mystischen Beziehung zu Gott. Es ist von
Tolstoi bekannt, wie er sich mit diesem mystischen Glauben auseinandergesetzt
hat. Wenn Sie aber überhaupt die russische Literatur, grade die ganz große, ver-
stehen wollen, so müssen Sie immer berücksichtigen, daß das einer der Unter-
gründe ist, auf den sich alles aufbaut. Wenn man russische Romane liest, z. B.
»Die Brüder Karamasow« von Dostojewski oder »Krieg und Friede von Tol-
stoi oder etwas Aehnliches, so hat man zunächst den Eindruck vollster Sinnlo-
sigkeit des Geschehens, ein sinnloses Durcheinander von Leidenschaften. Dieser
Effekt ist absolut nicht zufällig, er rührt auch nicht nur daher, daß diese Romane
durchweg für Zeitungen geschrieben wurden und, wie sie angefangen wurden zu
schreiben, der Autor noch keine Ahnung hatte, wie sie endigen würden, denn
das war bei Dumas z. B. ebenso der Fall , sondern es hat seinen Grund in der
geheimen Ueberzeugung von der tatsächlichen Sinnlosigkeit dieses politisch,
sozial, ethisch, literarisch, künstlerisch, familiär geformten Lebens gegenüber
dem Untergrund, der sich darunter ausbreitet, und der in den spezifischsten Ge-
stalten, die die russische Literatur aufweist, verkörpert ist, die aber deshalb r
uns so außerordentlich schwer greifbar sind, weil sie auf dem einfachen ganz an-
tik christlichen Gedanken ruhen, daß dasjenige, was Baudelaire die »heilige Pro-
stitution der Seele« nennt: die Liebe zum Nächsten, das heißt zum Beliebigen,
gleichviel wer der sei, zum Nächstenbesten also, daß diese amorphe, umgeform-
te Liebesbeziehung es sei, die den Zugang zu den Pforten des Ewigen, Zeitlosen,
Göttlichen verleihe. Die künstlerische Einheit, die wir zu vermissen pflegen an
diesen Produktionen der russischen Literatur, das formende Prinzip ihrer größten
Werke, liegt sozusagen auf der Reversseite dessen, was man zu lesen bekommt,
es liegt in der Gravitation nach den seelischen Antipoden der handelnden Men-
schen, deren Aktion sich da sichtbar auf der Bühne der Welt abspielt. Und das
ist ein Produkt russischer Religiosität. Auf diesem akosmistischen Grundzug al-
ler russischen Religiosität ruht aber auch ein spezifisches N a t u r r e c h t ,
jenes, welches Sie in den russischen Sekten und auch bei Tolstoi ausgeprägt fin-
den, und welches freilich d a n e b e n auch durch den Fortbestand des Agrar-
kommunismus, der die Bauern noch an das göttliche Recht weist für die Regu-
lierung seiner sozialen Interessen, gestützt wird. Ich kann das jetzt nicht ein-
gehend ausführen. Aber alle Grundideale von Leuten wie Wl. Solowjew gehen
auf jene Basis zurück. Auf ihr ruht namentlich auch Solowjews spezifischer Kir-
chenbegriff, der in Tönnies’ Sinn auf »Gemeinschaft«, nicht auf »Gesell-
schaft« fußt.
Ich möchte, der Zeit entsprechend kurz, noch auf eins hinweisen. Der Vortrag
des Kollegen Troeltsch hat die Gegensätze zwischen Kirche, Sekte, Mystik und
ihr Verhältnis zur Welt, zum Naturrecht usw. selbstverständlich konstruktiv be-
handelt und behandeln ssen. Aber das Berechtigte dieses Verfahrens beruht
darin, daß, wenn man einen Sektierer über diejenigen Gedankengänge, die ihn
zum Sektierer machen, fragt, er l e t z t l i c h in das ausmünden wird wie
un-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 470
klar er es auch ausdrücke was wir heute vom Kollegen Troeltsch erfahren ha-
ben, und wenn man ein Mitglied der katholischen Kirche letzthin fragt, warum
er Mitglied dieser Kirche ist und kein Sektierer, er dann ebenfalls l e t z t -
l i c h auf diese Gedanken geführt wird. Und Sie nnen den Beweis mit n-
den greifen, Sie nnen ihn greifen, wenn Sie finden, daß der Freiherr v. Hert-
ling seinen Glaubensgenossen versichert: Ob die Bibel so oder so hergestellt ist,
was mit ihr historisch passiert ist, ist gleichgültig, denn die Kirche als göttliche
Fideikommißstiftung sagt uns, daß das, was in der Bibel steht, gleichviel, wer es
geschrieben hat und wie es hergegangen ist, göttliche Norm ist, göttliche Wahr-
heit ist. Hätten wir die Kirche nicht, die Bibel der Protestanten hülfe uns gar
nichts. Da, in ihrer l e t z t e n Konsequenz, entsprechen sich offensichtlich
diese Auffassung von der Kirche und die, die uns vorgetragen ist, und deshalb
habe ich hier einigen möglichen Einwänden gegen den Vortrag, daß nämlich
diese Gedankengänge nicht in j e d e m Anhänger in Kirche oder Sekte be-
wußt leben, vorgreifen zu sollen geglaubt.
Ich will schließlich nur noch auf eins hinweisen. Wenn man die naturrechtli-
che Lehre vom Standpunkt der Kirche, der Sekte usw. so analysiert wie
Troeltsch, so ist natürlich nicht gesagt, daß nun diese Lehre nicht vielleicht prak-
tische Folgen für das Verhalten gezeitigt hätte, die uns ihrerseits als gänzlich he-
terogen gegenüber dem eignen Inhalt dieser kirchlichen Lehre erschienen. Das
Prinzip der Irrationalität und Wertdiskongruenz zwischen Ursache und Wirkung
besteht soweit, daß eine Lehre wie die des sektiererischen Protestantismus, des
Calvinismus, Pietismus, die es am eifrigsten verdammt, wenn man sich Schätze
auf Erden sammelt, vermöge der psychologischen Motive, welche diese Lehre in
Bewegung setzte, dazu führte, daß gerade diese selben Leute diejenigen waren,
die mit zu den großen Trägern der modernen kapitalistischen Entwicklung ge-
hört haben, weil noch schärfer als das Aufsammeln von Schätzen auf Erden
der Verbrauch für den eigenen Genuß verdammt wurde und folglich nichts an-
deres als eine immer neue Verwertung dieser Schätze für kapitalistische Zwecke
hervorgerufen wurde und weil die Notwendigkeit asketischer B e w ä h r u n g
in der Welt das Berufsmenschentum züchtete, auf dem der Kapitalismus ruht.
So aber steht es oft. Wenn z. B. Troeltsch hervorgehoben hat, daß nur die
Kirche eine Form sei, welche universell, universalistisch ihrer Idee nach, als
Volkskirche, als Volkschristentum denkbar sei, so ist dem natürlich aus der Pra-
xis entgegenzuhalten, daß das, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ge-
messen, religiöseste Land bis an die Schwelle dieses Jahrhunderts Amerika war,
welches eine Staatskirche längst nicht mehr kennt und in dem auch das Christen-
tum weit vorwiegend die Form der Sekten angenommen hatte; wenn ich nicht ir-
re, so waren es Mitte der neunziger Jahre ungefähr nur 5 % der amerikanischen
Bevölkerung, die offiziell keiner Religionsgemeinschaft angehörten. Und die
Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft kostet in Amerika unglaublich viel
mehr als bei uns,
Zu E. Troeltschs Vortrag über »Das stoisch-christliche Naturrecht«. 471
sie kostet auch den Unbemittelten etwas, sie kostet auch die deutschen Arbeiter,
die von Deutschland nach Amerika auswandern und die ich gelegentlich z. B. in
der Umgegend von Buffalo kennenlernte, bei 1800 Mk. Einnahmen hrlich un-
gefähr 100 Mark an kirchlichen Steuern, ganz abgesehen von den Kollekten und
ähnlichem. Suchen Sie einen deutschen Arbeiter, der so viel für irgendeine
kirchliche Gemeinschaft, sie sei was sie wolle, bezahlen würde. Gerade, weil der
religiöse Typus dort faktisch der Sektentypus ist, ist die Religion dort Volkssa-
che, und w e i l dieser Sektentypus nicht universal, sondern exklusiv ist, und
weil e x k l u s i v , seinen Anhängern innerlich und äußerlich ganz bestimmte
Vorzüge bietet, d a r u m ist dort die Stätte des Universalismus der effektiven
Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften, und nicht bei dem Namenschri-
stentum in Deutschland, wo ein Teil der Begüterten alle Steuern für die Kirche
dafür, daß »dem Volke die Religion erhalten wird« bezahlt und im übrigen
froh ist, wenn er seinerseits nichts mit der Sache zu tun hat, und nur deshalb
nicht austritt, weil das unangenehme Konsequenzen hat für das Avancement und
für alle möglichen sonstigen gesellschaftlichen Chancen.
Zweite Diskussionsrede zu demselben Thema.
Ich wollte nur noch einige Worte zu dem sagen, was Simmel
1)
ausgeführt hat.
Die Frage nach dem eigentlichen Sinn der christlichen Religiosität steht ja heute
nicht zur Diskussion. Trotz alledem sind wir gewiß glücklich gewesen, diese
Ausführungen gemacht zu bekommen. Da sie teilweise gegen mich gerichtet
gewesen sind, so erlaube ich mir, darauf in Kürze zu antworten.
Die These, daß nach dem metaphysischen S i n n des Christentums nichts
sich zwischen die Seele und ihren Gott zu schieben habe, vollständig zugegeben,
so liegen die Dinge doch so, daß für die empirischen Verhältnisse, mit denen es
die Soziologie zu tun hat, davon auszugehen ist, daß jede religiös gläubige See-
le, daß die Mehrzahl auch der religiös noch so hochgestimmten Seelen im Ur-
christentum und in allen Zeiten religiöser Erregung das Bedürfnis empfinden
mußten, dessen, daß sie auch wirklich ihrem Gott gegenübergestanden hatten
und nicht etwas anderem, in irgendeiner Weise auch in ihrem Alltag s i c h e r
zu bleiben, die »certitudo salutis« zu haben. Diese Sicherheit nun kann auf ver-
schiedene Weise gewonnen werden. Es ist zunächst noch keine soziologische,
sondern eine rein psychologische Frage, die damit berührt wird, aber eine sol-
che, die soziologisch interessierende Konsequenzen hat. Die beiden extrem-
sten Gegenpole, die es da gibt, sind auf der einen Seite jene die F o r m u n g
der Welt ablehnenden Religiositäten, wie wir sie auch in der modernen Zeit er-
leben, die in denjenigen geistigen Bewegungen, von denen ich früher sprach,
noch forterhalten sind und sicherlich auch gewissen Teilen des Urchristentums
eigentümlich gewesen sind: eine Art »akos-
1)
Als Diskussionsredner.
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 472
mistischer« Menschenliebe das ist die eine Möglichkeit, und auf der andern
ihr extremste Gegenbild: die calvinistische Religiosit, die in der ad majorem
die gloriam zu gewinnenden »Bewährung« innerhalb der gegebenen und geord-
neten Welt die Sicherheit fühlt, Gottes Kind zu sein. Auf der einen Seite die völ-
lige amorphe Formlosigkeit des Liebes-Akosmismus, auf der anderen Seite je-
nes eigentümliche und für die Geschichte der Sozialpolitik praktisch äußerst
wichtige Verhalten, daß der einzelne sich hineingestellt fühlt in die sozialen
Gemeinschaften zu dem Zwecke, darin zum Heile seiner Seele »Gottes Ruhm«
zu verwirklichen. Diese letztere Eigentümlichkeit des Calvinismus bedingt dem
Sinne nach die gesamte innere Gestaltung der sozialen Gebilde, die wir auf die-
sem Boden entstehen sehen. Immer steckt in diesen Gebilden ein eigentümliches
Moment der Gesellschaftsbildung auf egozentrischer Grundlage; immer ist es
der einzelne, der s i c h sucht, indem er der Gesamtheit, heiße diese wie im-
mer, dient: immer ist es um die Gegensätze zu gebrauchen, die in einem der
Grundbücher unserer modernen sozial-philosophischen Betrachtungsweise, in
Ferdinand nnies’ Werk über »Gemeinschaft und Gesellschaft« gebraucht
worden sind – immer ist die auf diesem Boden erwachsende menschliche Bezie-
hungsweise eine »Gesellschaft«, eine »Vergesellschaftung«, ein Produkt der das
»Menschliche« abstreifenden »Zivilisation«, Tausch, Markt, sachlicher Zweck-
verband, statt persönlicher Verbrüderung, immer ist dagegen jenes andere, jener
Liebesakosmismus »Gemeinschaft« auf rein menschlicher Grundlage der »Brü-
derlichkeit«. Der Kommunismus des Urchristentums und seine Derivate haben
empirisch die allerverschiedensten Motive, Motive, die aber immer so im Ur-
christentum an die alte Tradition der naturgewachsenen Brüderschaftsverhält-
nisse ankpften, in denen die Gemeinschaft von Speise und Trank familienarti-
ge Gemeinschaft begründete, wie ja auch das Zinsverbot für Christen noch in
der Zeit von Clemens von Alexandrien mit dem alten Satz motiviert wird, daß
man unter Brüdern nicht feilscht, unter Brüdern kein Herrenrecht gebraucht
und Zins ist Herrenrecht –, unter Brüdern seinen Vorteil nicht übt, sondern Brü-
derlichkeit übt. Alles also, was Simmel sagt, für den S i n n der religiösen At-
titüde zugegeben, so mvom Standpunkt der Soziologie doch stets die psycho-
logische Frage gestellt werden, und sie ist auch in der Realität von allen Seiten,
auch den extremsten und deshalb vom religiösen Standpunkt aus vielleicht
höchsten Formen der Mystik gestellt worden: wie, durch welches Medium wird
der einzelne seiner Beziehung zum Ewigen g e w i ß ?
Professor S i m m e l : Ratio!
M a x W e b e r : Das ist vollständig richtig, gewiß, es ist unzweifelhaft le-
diglich ein Erkenntnisgrund, nicht ein Realgrund der Seligkeit.
Zu A. Voigts Vortrag über »Wirtschaft und Recht«. 473
Dortselbst, Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Voigt über
»Wirtschaft und Recht«.
Es ist außerordentlich schwierig, auf Grund lediglich dieses Vortrags, den wir
soeben gehört haben, zu diskutieren, Ich bin überzeugt, daß ein wesentlicher
Teil der Gesichtspunkte, die auch für die Auseinandersetzung mit Herrn Kolle-
gen Voigt maßgebend sein werden, erst deutlich werden wird, wenn Herr Dr.,
Kantorowicz seinen Vortrag, der sich mit Sozialwissenschaft und Rechtswissen-
schaft befaßt, gehalten haben wird. Denn gerade die Frage des Objekts der Wirt-
schaftswissenschaft, die im Vordergrund der Erörterungen des Herrn Kollegen
Voigt stand, ist ja eine Frage, die nicht getrennt werden kann von derjenigen, die
Herr Dr. Kantorowicz behandeln wird. Ich möchte deshalb jetzt unter Vorbehalt,
eventuell heute Nachmittag weiter darauf zurückzukommen, nachdem vielleicht
Herr Professor Voigt noch einmal sich geäußert haben wird, einige Bemerkun-
gen machen.
Meine Herren, Herr Professor Voigt hat das Entscheidende für die Abgren-
zung des Begriffs der W i r t s c h a f t mit vollem Rechte in der Relation zwi-
schen Mittel und Bedürfnis gefunden. Wie unmöglich es ist, von einem anderen
Standpunkt auszugehen, hat er schlagend nachgewiesen. Wie unmöglich das ist,
zeigt sich ich wiederhole das, obwohl er es schon gesagt hat insbesondere,
wenn man die bisherigen Versuche, es zu tun, durchmustert, und es ist nament-
lich das in vieler Hinsicht glänzende Werk von Stammler geradezu ein klassi-
scher Beweis dafür, daß es nicht angeht, lediglich zu sagen: Veranstaltung zur
Befriedigung menschlicher Bedürfnisse als solcher ist Wirtschaft. Aber, meine
verehrten Anwesenden, es ist mir nun doch nicht sicher, ob, und zwar selbst
nach der eigenen Ansicht des Herrn Professor Voigt, die Formulierung, die er,
wenigstens vorläufig, vielleicht gar nicht seinen endgültigen Ansichten entspre-
chend, hier an die Spitze der Erörterung gestellt hat, erschöpfend ist. Die Tatsa-
che der Knappheit der Mittel für die Befriedigung von Bedürfnissen allein
scheint mir noch ganz heterogene, nicht mit den gleichen methodischen Mitteln
zu bewältigende Tatbestände in sich zu schließen. Es ist beispielsweise, von die-
ser Tatsache ausgehend, von einem Gelehrten, der bisher vornehmlich auf me-
thodologischem Gebiet gearbeitet hat, von meinem Kollegen G o t t l , die An-
sicht ausgesprochen worden, daß z. B. auch die Disposition des Individuums
über die Zeit denn die Zeit ist ja d a s schlechthin knappe Gut, s o f e r n
sie als »Gut« behandelt wird –, daß auch die Disposition über die Zeit eines
Menschen, die Frage, wie sich der einzelne z. B. zu der Frage stellt: Soll ich
jetzt spazieren gehen oder mich auf das Kanapee legen oder soll ich irgend et-
was tun, was im gewöhnlichen Sinne des Alltagslebens in das Gebiet der Be-
rufserfüllung fällt daß auch diese Frage, eben weil es sich um die Relation
handelt: Zwischen etwas, was knapp ist; der Zeit, und den Bedürfnissen, die,
wenigstens potentiell, unendlich sind – ich sage, daß auch diese Frage unter
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 474
die Wirtschaftswissenschaft gehöre. Ich vermute, daß doch auch Professor Voigt
de facto mit einem wesentlich engeren Begriff von Wirtschaft operiert.
Er hat auch, das möchte ich gleich zugeben, die Andeutung gemacht, daß dies
bei ihm der Fall sei. Nicht unbedingt anerkennen nnte ich dagegen, daß in
seinen bisherigen Ausführungen bereits ganz klar zum Ausdruck gekommen wä-
re, wo er nun die Grenze zieht, für die ihrem Wesen nach eben doch nicht derge-
stalt universalistisch auszugestaltende Arbeit unserer Wissenschaft. Denn ich
stehe allerdings auf dem Standpunkt, daß das, was wir als Nationalökonomen
betreiben und jemals betreiben nnen, niemals etwas aussagen wird über die
Dinge, die ich eben berührt habe, und zahlreiche ähnliche.
Auf der anderen Seite hat er aber ein sehr positives, meines Erachtens weder
notwendiges noch unbedenkliches Element in den Begriff der Wirtschaft als sol-
cher hineingetragen, insofern mlich, als er von der möglichst b e s t e n Be-
friedigung der Bedürfnisse mit gegebenen Mitteln gesprochen hat. Das invol-
viert ohne allen Zweifel die Aufstellung von Werturteilen und nnte eine Ma-
xime etwa für die wirtschaftliche Politik irgendeines Staates, irgendeines Verei-
nes, irgendeiner Privatperson über die ihr zur Verfügung stehenden Mittel sein.
Aber es ist eben deshalb kein wertfreies, neutrales Merkmal r das, was der
faktische Ablauf der Wirtschaft, wie wir sie auch definieren, ist. Mir scheint,
daß wenn man und es handelt sich da vielleicht um einen bloßen Wortstreit
zwischen Herrn Professor Voigt und mir anknüpfen will an die Beziehung
zwischen Mittel und Bedürfnis und darauf die Abgrenzung der Wirtschaftswis-
senschaft gründet und daß das in letzter Instanz irgendwie geschehen muß,
darüber bin ich mit Herrn Prof. Voigt einig –, daß man dann nur dies sagen
kann: die Wirtschaftswissenschaft untersucht, welche F o l g e n der Umstand
hat, daß faktisch vorhandene Bedürfnisse und faktisch vorhandene und als sol-
che bekannte Mittel zu ihrer Deckung in einem w a n d e l b a r e n V e r -
h ä l t n i s zueinander stehen.
Meine Herren, man hat doch geradezu gesagt, die Wirtschaftsgeschichte der
Vergangenheit sei zu einem großen Teil Geschichte der menschlichen U n wirt-
schaftlichkeit, und das ließe sich wohl vertreten. Auch dies Verhalten aber ge-
hört in die wertfreie Wirtschaftswissenschaft, insbesondere die Wirtschafts -
g e s c h i c h t e .
Nun aber, meine Herren, komme ich auf meine früheren Ausführungen
nochmals zurück. Man kann auch bei der von ihm gegebenen Formulierung un-
ser Arbeitsgebiet in einem solchen Me ausdehnen, welches schließlich ich
bin überzeugt, auch da doch letztlich mit Herrn Prof. Voigt übereinzustimmen
zur Absurdit führen könnte. Die Frage z. B., ob das adäquatere, das zweckmä-
ßigere, das richtigere Mittel für die Befriedigung eines religiösen Bedürfnisses
wir wollen dabei ganz von allen transzendenten Dingen absehen und annehmen,
daß diese religiösen Bedürfnisse lediglich darin bestehen, eine gewisse innere
Befriedigung des Gefühls, eine Beseitigung einer Unbalanciertheit der inneren
seelischen Situation herbeizuführen – also: Ob dieser
Zu A. Voigts Vortrag über »Wirtschaft und Recht«. 475
Zustand »ökonomische herbeigeführt wird durch Kontemplation oder durch
Bewährung im Beruf oder durch irgendwelche asketische Mittel usw. –, alles
Dinge, denen sich der Mensch ja a u c h n i c h t schrankenlos, der Zeit und
dem Me nach, hingeben kann, die also auch unter den Begriff der Knappheit
in indirektem Sinn gebracht werden können, dies ist eine Frage, deren Beant-
wortung durch den einzelnen die Wirtschaftswissenschaft in der Art, wie wir sie
treiben, unzweifelhaft n i c h t untersucht, weil ihre methodischen Mittel hier
nichts Wertvolles zur Erkenntnis beitragen würden. Und wir werden uns des-
halb, glaube ich, damit abfinden müssen, daß die Abgrenzung unserer Disziplin
in der Tat nicht rein nach dem allgemeinen Schema: Relation zwischen Bedürf-
nissen und Mitteln, erfolgen kann, daß sie in der Tat in gewissem Sinn Sache der
Zweckmäßigkeit und der Konvention, vor allem aber: der methodischen M i t -
t e l zur Lösung der Aufgabe ist.
Wir werden eben meines Erachtens ganz allgemein davon auszugehen haben,
daß Wissenschaften und das, womit sie sich beschäftigen, dadurch entstehen,
daß Probleme bestimmter Art auftauchen und spezifische Mittel ihrer Erledi-
gung postulieren. Die »Wirtschaft« ist dann etwas, das unter dem Gesichtspunkt
bestimmter P r o b l e m e aus der Mannigfaltigkeit des Geschehens ausgele-
sen wird. Es ist kein Zufall, daß die Antike trotz hoch entwickeltem Kapitalis-
mus denn dieser Name ist gerade, wenn man den Kapitalismus rein ökono-
misch faßt und alles andere ausscheidet, gerade dann ist er auf sie in höchstem
Maße anwendbar es war, sage ich, kein Zufall, daß die Antike keine Wirt-
schaftswissenschaft in unserem Sinne kennt, höchstens allererste Ansätze dazu.
Es ist kein Zufall, daß auch das Mittelalter sie nicht kannte, sondern nur Ansätze
dazu hatte, und zwar wesentlich auf ethischem Gebiete. Entstanden ist die Wirt-
schaftswissenschaft im modernen Sinn aus einer ganz bestimmten Situation. Zu-
nächst: eine ganz bestimmte Art von Ubersichtlichkeit und Unübersehbarkeit
der wirtschaftlichen Zusammenhänge, das ist die allgemeine Voraussetzung und
sie wieder ist die Konsequenz gewisser allgemeiner Situationen. Ganz bestimm-
te Funktionen des Geldes und Phänomene des Geldwesens um es direkter aus-
zudrücken und damit vielleicht etwas zu eng ließen bestimmte Probleme in
den Vordergrund des Gesichtskreises des Menschen rücken, und anschliend
daran entwickelten sich dann weitere Probleme, die wir heute als »wirtschaft-
lic behandeln. Diese Probleme sind schlechthin nicht zu trennen von dem
T a u s c h von Gütern, seien diese Güter menschliche Leistungen, seien sie
sachliche Güter, obwohl das hat mir an dem Vortrag des Herrn Prof. Voigt au-
ßerordentlich eingeleuchtet es völlig richtig ist, daß der Gegenstand sich kei-
neswegs auf den e n t g e l t l i c h e n Tausch beschränkt. Es ist nun die Fra-
ge, ob nicht und darüber wäre vielleicht zu diskutieren eine Abgrenzung des
Objekts unserer Disziplin dahin möglich wäre, daß wir sagten: die Wirtschafts-
wissenschaft befaßt sich innerhalb des weiten Problemkreises, der nach der De-
finition des Herrn
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 476
Prof. Voigt ihr zur Verfügung stehen würde: Analyse der Folgen der wandelba-
ren Beziehung zwischen Mittel und Bedürfnis, mit einem engeren Kreis von Ob-
jekten: sie betrachtet nur diejenigen Mittel, seien sie nun menschliche Leistun-
gen, gleichviel welcher Art, gleichviel, ob Dienstbotenleistungen, ob künstleri-
sche, sexuelle Leistungen oder irgend andere, oder seien sie Sachgüter gleichviel
welcher Art, sie befaßt sich, sage ich, mit solchen Objekten, welche d e n k -
b a r e r w e i s e Gegenstand eines Tausches werden k ö n n e n . Eine ande-
re Art der Abgrenzung desjenigen Objekts, mit dem wir uns unter dem Namen
»Wirtschaft« empirisch tatsächlich befassen, fehlt, und ich rufe zu Zeugen nur
einfach auf, was wir bisher an nationalökonomischen Lehrbüchern und Han-
delsbüchern besitzen. Ich glaube, dieser Versuch der Abgrenzung, dessen
F o r m u l i e r u n g mir für jede andere natürlich feil re, kommt den Tat-
sachen unserer Wissenschaftspraxis relativ am nächsten. Daß diese Wirt-
schaftswissenschaft in diesem Umkreise spezifischer Mittel fähig ist, erklärt sich
aus dem Umstand, daß es eben nicht gleichgültig ist für die objektiven Möglich-
keiten sozialer Beziehungen, ob ein bestimmtes Objekt oder ein bestimmtes
menschliches Sichverhalten Gegenstand eines Tausches zwischen mehreren sein
kann, wohlgemerkt, nicht empirisch, ist, sondern denkbarerweise sein k a n n .
Und nun einige Worte über die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Recht.
Gerade derjenige Teil der Diskussion, der sich hierauf zu erstrecken hat, kann
meines Erachtens allerdings endgültig erst erledigt werden, wenn wir die ver-
schiedenen glichkeiten übersehen, den Begriff des Rechts zu formulieren,
wie sie aus der Analyse des Begriffs der Rechtswissenschaft und ihrer Bezie-
hungen zur soziologischen Rechtslehre folgen, und wie sie also erst der Vortrag
von Herrn Dr. Kantorowicz bringen kann wenn dieser Vortrag alle diejenigen
Themata behandelt, von denen ich glaube, daß er sie nach seiner Fixierung be-
handeln ßte ich sage, erst dann werden wir gerade darüber endgültig disku-
tieren können. Ich möchte deshalb jetzt nur das sagen:
Herr Professor Voigt hat mit vollem Recht gegen die Stammlersche Behand-
lung dieses Problems Widerspruch erhoben. Ich bin ja früher bereits diesem in
vieler Hinsicht glänzenden Werk äußerst scharf im Interesse unserer Disziplin
entgegengetreten, und zwar deshalb, weil meines Erachtens der Begriff der
»For, den Stammler zur Kennzeichnung der Rolle, welche das Recht gegen-
über der Wirtschaft spielt, geschaffen hat, ein ganz unklarer und unbrauchbarer
ist. In voller Uebereinstimmung mit den Ausführungen von Prof. Voigt, aber
noch etwas weitergehend als er, möchte ich demgegeber in Anknüpfung an
die noch heute jedenfalls nicht einfach überwundenen, sondern in vieler Hin-
sicht noch heute maßgebenden Jugendarbeiten von Böhm-Bawerk »Ueber Rech-
te und Verhältnisse als Teile der wirtschaftlichen Güterordnung« daran erinnern,
daß für den Mann der Wirtschaftswissenschaft die Tatsache des »Bestehens« ei-
nes bestimmten »Rechtssatzes«, die Tatsache also, daß z. B. ein bestimmter
Zu A. Voigts Vortrag über »Wirtschaft und Recht«. 477
Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wenn ich es aufschlage, darin ge-
druckt zu finden ist, daß diese Tatsache für den Mann der Wirtschaftswissen-
schaft n i c h t s w e i t e r bedeutet, als dies: daß dadurch eine Chance ge-
schaffen ist, daß bestimmte Interessen des einen oder des anderen wirtschaften-
den Subjekts einen besonders nachdrücklichen, besonders selten versagenden
Schutz genießen. Daß also, wenn ein bestimmtes Objekt, an dessen Besitz ich,
weil es knapp und also ein wirtschaftliches Gut ist, an dessen ausschließlichem
Besitz ich ein Interesse habe, daß dieses Objekt mir nicht nur durch die Tatsa-
che, daß ich es augenblicklich mit meinen Gliedmaßen ergreifen kann, gesichert
ist, auch nicht nur dadurch, daß ich darauf rechnen kann, daß ich Leute habe, die
in freundschaftlichen, verwandtschaftlichen Beziehungen stehen und mich un-
terstützen nnten, wenn jemand es mir entreißen wollte, sondern daß da Leute
mit Pickelhauben sind, die eventuell für mich in Bewegung gesetzt werden
wahrscheinlich, nicht immer, denn jene Chance kann sich ja aus den verschie-
densten Gründen vielleicht schließlich doch nicht realisieren. Das ist die prinzi-
pielle Situation und darin erschöpft sich die u n m i t t e l b a r e Bedeutung
des Bestehens eines Rechtssatzes, wirtschaftlich betrachtet. Schon aus dieser Si-
tuation im Zusammenhalt mit einigen anderen ergibt sich nun aber einiges Wei-
tere.
Es ist bekanntlich eine der Grundtheorien der von uns vor einigen Tagen erör-
terten »ökonomischen Geschichtsauffassung«, daß Aenderungen der Wirtschaft
auch Aenderungen des Rechts bedingen. Und, teilweise diese Auffassung um-
stülpend, geht die Stammlersche Ansicht dahin, daß Aenderung der Wirtschaft
mit Aenderung des Rechts identisch sind, daß jede Aenderung der Wirtschaft
primär eine Aenderung des Rechtes sei, aus begrifflichen Gründen. Dem ist ent-
gegenzuhalten: Nicht jede noch so erhebliche Aenderung wirtschaftlich relevan-
ter Beziehung ist eine Aenderung der Rechtsordnung, in welchem Sinn man die-
ses Wort nun auch immer nehmen möge. Es kann, um zunächst einen besonders
einfachen Fall zu nehmen, denn ich verspare mir alles Kompliziertere lieber
auf heute Nachmittag –, so nnte jeder einzelne Paragraph des Bürgerlichen
Gesetzbuches völlig unvendert, wie wir uns auszudrücken pflegen, »in Gel-
tung bleiben«, nichts daran geändert sein, es können dieselben Zwangsmittel zu
seiner Durchführung nach wie vor zur Verfügung gehalten werden, und dennoch
könnte die W i r t s c h a f t s ordnung sich dergestalt verändert haben, daß kein
Mensch behaupten würde, sie sei noch dieselbe wie früher. Meine Herren, es
wäre sogar nicht ausgeschlossen, daß bei vollem Bestehenbleiben des Bürgerli-
chen Gesetzbuches eine sozialistische Gesellschaftsordnung entstehen könnte.
Daran besteht nicht der geringste Zweifel, denn das Bürgerliche Gesetzbuch
hindert in keiner Weise, daß via facti, sei es der Staat, sei es irgendeine andere
Gemeinschaft kauft, was sie will, die Produktionsmittel sich im Wege des durch
das Bürgerliche Gesetzbuch selbst privatrechtlich geordneten Kaufs zueignet.
Die Frage ist natürlich: ob sie es f a k t i s c h kann oder will. Das ist höchst
unwahrscheinlich.
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 478
Aber nicht das Bürgerliche Gesetzbuch ist es, was sie daran hindert. Und es
würde dann, wenn dies geschähe wir müssen uns einmal auch auf den Boden
dieser immerhin doch d e n k möglichen Situation stellen es würden, wenn
dies geschähe, allerdings kolossale Massen von Paragraphen des Bürgerlichen
Gesetzbuchs zwar als R e c h t s tze fortbestehen, aber, wie man sich auszu-
drücken pflegt, »die praktische Bedeutung verlorehaben. Es kann nun einen
Begriff der R e c h t s ordnung geben, der diese Wandlung der p r a k t i -
s c h e n B e d e u t u n g als eine Wandlung der R e c h t s ordnung erklärt.
Das gebe ich ohne weiteres zu. Das wäre aber dann ein s o z i o l o g i s c h e r
und kein juristischer Begriff von »Rechtsordnung«. Aber unsere Rechtsordnung
in juristischem Sinn des Wortes nnte umgeändert weiter bestehen, ohne im al-
lermindesten dem Bestand, dem Entstehen und dem Fortbestehen einer im strik-
ten Sinne des Wortes sozialistischen Gesellschaftsordnung entgegenzustehen.
Daraus ergibt sich nicht etwa, daß Recht und Wirtschaft k e i n e n gegensei-
tigem Einfluß aufeinander haben im Gegenteil: ein solcher ist in stärkstem
Maße vorhanden wohl aber: daß keinerlei eindeutige, »funktionelle«, Bezie-
hung zwischen ihnen besteht, sondern ein nach Maß und Art von Fall zu Fall zu
untersuchendes gegenseitiges Beeinflussungsverhältnis.
Dortselbst, Diskussionsrede zu dem Vortrag von H. Kantorowicz,
»Rechtswissenschaft und Soziologie«.
Da ich mich für den Ausschluß der sogenannten »Werturteile« mit verant-
wortlich fühle und da gesagt worden ist, es sei hrend dieser ganzen Tagung
über Dinge gesprochen worden, die man nicht ohne Werturteil habe verhandeln
können, so erinnere ich daran, daß z. B. gestern ein Theologe hier gesprochen
hat über Dinge, die ihn gewiß so innerlich berühren, wie irgend etwas und daß er
absolut ich rufe jeden zum Zeugen dafür an, der zugehört hat daß er absolut
»wertfredarüber gesprochen hat, und d wir gestern in der Lage gewesen
sind, darüber wertfrei zu diskutieren, und daß ich es blamabel finden würde,
wenn die Gesellschaft sich dazu bekennen würde, daß nur ein Theologe fähig
ist, wertfrei zu sprechen, und daß man nur mit einem Theologen wertfrei disku-
tieren kann. Ich persönlich bin nicht der Meinung, daß das, was nach unserem
Statut in der Diskussion ausgeschlossen ist, nur grade die politischen Werturteile
sind. Auch der Wert eines Kunstwerkes, auch der Wert einer Rechtsnorm, auch
einer Rechtsnorm in der Vergangenheit, steht hier nicht zur Diskussion. Es ist
sehr richtig, daß wir hier erörtern werden, welche W i r k u n g Rechtsnormen
z. B. auf die Bauern in diesem oder jenem Stadium gehabt haben. Aber ob diese
Wirkung erwünscht gewesen ist, ob das von irgendeinem geschichtsphilosophi-
schen Standpunkt aus erfreulich ist oder nicht, darüber werden wir hier nicht ur-
teilen können, weil das Dinge sind, die mit rein subjektiven praktischen persön-
lichen Stellungnahmen des einzelnen Forschers zusammen-
Zu H. Kantorowicz’ Vortrag über »Rechtswissenschaft und Soziologie«. 479
hängen und durch die Arbeit, wie wir sie betreiben wollen, nicht zu erledigen
sind. Wir behandeln selbstverständlich auch »Werturteile«, die wir v o r f i n -
d e n , soweit diese Lebensäußerungen für unsere Feststellungen Wichtigkeit
haben, als O b j e k t unserer Betrachtung und suchen sie erklärend zu »ver-
stehen«. Und dies »Verstehen« ist selbstredend nicht möglich, wenn wir nicht
selbst einer inneren wertenden Stellungnahme zu der Frage, auf welche sich jene
»Werturteile« beziehen, f ä h i g sind. Aber wir selbst wollen nicht wertend
»Stellung nehmen«, sondern T a t s a c h e n feststellen und erklären, und
das ist die einzige Form von Wertungen, die bei uns eine Stätte haben l o -
g i s c h e und m e t h o d i s c h e Fragen des Wissenschaftsbetriebs erör-
tern. Wir finden, daß die praktischen, rechts p o l i t i s c h e n Wertungen be-
reits von anderen Gesellschaften in hinlänglichem Maße besorgt werden, und
dasjenige, was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade, daß wir von uns verlan-
gen, daß wir darin Zurückhaltung bewahren, uns auf die Darstellung der Tatsa-
chen und deren Erklärung einerseits und auf die logischen Grundlagen unseres
wissenschaftlichen Arbeitens andererseits beschnken. Das aber können wir!
Verehrte Anwesende! Im Hintergrund des Vortrags des Herrn Dr. Kantoro-
wicz stand und darauf möchte ich noch einmal in voller Uebereinstimmung
mit ihm den Finger legen – die Konstatierung, die ich, wie ich schon bei anderen
Gelegenheiten getan habe, so zusammenfassen möchte: daß wir einen bestimm-
ten Rechtssatz, z. B. einen Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs in zwei
ganz verschiedenen Weisen ansehen können, richtiger: daß er dann auch etwas
ganz verschiedenes i s t , je nach der Fragestellung, mit der wir an ihn heran-
treten. Wir können einmal nach dem »Sinn« dieses Rechtssatzes fragen, d. h.,
ausgehend davon, daß eine generelle und hypothetisch gefaßte Norm vorhanden
ist, fragen: findet sie auf die Fälle X, Y, Z ihrem Sinne nach Anwendung, derge-
stalt nämlich, daß ein Richter, wenn er » r i c h t i g « entscheiden will, so und
so entscheiden ßte? Das ist eine dogmatische und keine Tatsachenfrage, kei-
ne soziologische Frage, in keinem Sinne dieses Wortes, sondern eine reine
Rechtsfrage. Dagegen können wir nun diesen selben Rechtssatz soziologisch an-
sehen; sofort verändert er nicht nur seinen Sinn, er ist überhaupt etwas ganz an-
deres. Was » i s t « der Rechtssatz soziologisch? Er bedeutet, daß eine gewisse
faktische W a h r s c h e i n l i c h k e i t besteht, eine »Chance«, daß, wenn
jene Tatbestände X, Y, Z, von denen ich vorhin sprach, vorliegen daß dann
f a k t i s c h e Konsequenzen bestimmter Art eintreten, ein faktischer Zwang
in bestimmter Richtung ausgeübt werden wird zugunsten desjenigen, der in ei-
ner bestimmten Weise sich an bestimmte staatlich eingesetzte Instanzen die
»Gerichte« wendet, das Geld dafür, was das kostet, zu bezahlen in der Lage
und geneigt ist, sich auf die sonstigen Weiterungen, die damit verknüpft sind,
einzulassen. Diese Chance: daß also hinter den betreffenden ökonomischen oder
sonstigen Interessen, angesichts der durchschnittlich ü b l i c h e n »Interpre-
tation« eines in einem
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 480
Gesetzbuch enthaltenen gedruckten Satzes, der Schutz der Staatsgewalt f a k -
t i s c h stehen w i r d , diese Chance ist eine, dem Prinzip nach, ebenso nach
ihrer »Wahrscheinlichkeit« berechenbare Möglichkeit, im Prinzip, nicht de
facto –, wie irgendein möglicher Vorgang der toten oder lebenden Natur. Die
Behauptung der Rechts d o g m a t i k , daß ein Rechtssatz bestimmten Inhalts
» g e l t e « , bedeutet in der Sprache der Soziologie nur: daß eine gewisse
W a h r s c h e i n l i c h k e i t besteht, daß gewisse f a k t i s c h e Um-
stände ein bestimmtes Zwangseingreifen des Staats herbeiführen. Es ist gar kei-
ne Rede davon, daß etwa auf dem Gebiete des Soziologischen das Rechnen
durch das »Werten« ersetzt werden nnte, wie wohl einmal gesagt wurde. Ich
kann einfach nicht verstehen, was das heißen soll. Im Gegenteil: Wir haben ja
gerade von den Naturwissenschaften gelernt, und werden hoffentlich noch mehr
lernen, die Art, mit denen sie Fakta eben rein als Fakta zu behandeln pflegt. Auf
diesem Gebiete liegen die Unterschiede der empirischen Wissenschaften nicht.
Ob nun im einzelnen Fall sich diese Rechtssätze faktisch in einem Urteil,
welches, wenn wir auf den S i n n des Rechtssatzes sehen, also eine ganz an-
dere Frage als die soziologische stellen » r i c h t i g « ist, realisieren, nun,
d a s hängt von einer Unmasse soziologischer Umstände und ganz konkreter
Dinge ab. Gewiß auch davon unter Umständen, ob der Richter etwa einen sehr
starken Frühschoppen hinter sich hat. Es hängt von der Art der Vorerziehung
des Juristen ab, es hängt von tausend konkreten Verltnissen ab, die, ob sozia-
ler oder nicht sozialer Natur, jedenfalls reine Faktizitäten sind. Das »Gelten« ei-
nes Rechtssatzes im s o z i o l o g i s c h e n Sinn ist ein empirisches Wahr-
scheinlichkeitsexempel über Fakta, das Gelten im juristischen Sinn ist ein logi-
sches Soll, und das sind zwei ganz verschiedene Dinge, und was ich hier an ei-
nem Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, etwas undeutlich vielleicht,
demonstriert habe, dessen Tragweite wird vielleicht klarer, wenn ich ein anderes
Beispiel wähle. Ich habe dasselbe allerdings schon anderweit gebraucht. Sie ge-
statten aber, da es doch schwerlich gelesen worden ist, daß ich es erneut vor-
bringe. Wenn wir folgende Satzreihe betrachten: »Die Vereinigten Staaten ha-
ben gegenüber ihren Einzelstaaten das Recht, Handelsverträge abzuschließe
erster Satz –; zweiter Satz: »demgemäß haben die Vereinigten Staaten einen
Handelsvertrag mit Mexiko abgeschlossen«; dritter Satz: »dieser Handelsvertrag
entspricht nicht den Interessen der Vereinigten Staaten«; vierter Satz: »denn die
Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten ist ungünstig davon beeinflußt worden«;
»die Interessen der Vereinigten Staaten hätten vielmehr nach der und der Rich-
tung gelegen«; »die Verfassung der Vereinigten Staaten ist daran schuld, daß
etwas derartiges zustande kommen konnte«; »die Stimmung der Vereinigten
Staaten ist demgemäß die und die« usw. so werden Sie, wenn Sie diese einzel-
nen Sätze nebeneinander nehmen und Sie sich fragen, was ist in jedem Fall unter
dem Begriff der »Vereinigten Staate g e d a c h t : so werden Sie, sage ich,
zu dem Resultat kommen: jedesmal etwas anderes, niemals aber der
Zu H. Kantorowicz’ Vortrag über »Rechtswissenschaft und Soziologie«. 481
R e c h t s begriff Vereinigte Staaten. Der Rechtsbegriff Vereinigte Staaten
nämlich ist ein Komplex von Rechtsnormen, die von der Jurisprudenz auf ihren
S i n n hin zu interpretieren sind, hrend die »Vereinigten Staatein dem
Sinne, in dem wir in der Wirtschaftswissenschaft, in der Soziologie, in der Poli-
tik, überhaupt außerhalb der Rechtswissenschaft, damit zu tun haben, ein ins
praktisch Unendliche gehender Komplex von Parlamentariern allen möglichen
Charakters, von Präsident und Bureaukratie, Militär, von Kohlengruben und
Goldgruben und Hochöfen und Eisen, was da produziert ist oder was da produ-
ziert werden nnte, von Arbeitern, und ich weiß nicht was alles, sind, in jedem
einzelnen der erwähnten Fälle vielleicht etwas anderes und jedenfalls in fast je-
dem unter anderen Gesichtspunkten zu einem Begriff zusammengeschlossen.
Der Rechtsbegriff Vereinigte Staaten aber hat nun vor diesem soziologischen
Begriff Vereinigte Staaten die ungeheure Ueberlegenheit des im Prinzip l o -
g i s c h klaren Gehaltes voraus, und deshalb orientieren sich die soziologi-
schen Begriffe und die Kollektivbegriffe anderer Disziplinen regelmäßig an
eben jenem Rechtsbegriffe, obwohl das j u r i s t i s c h e Begriffsystem
»Vereinigte Staaten« ein rein ideales Gedankengebilde ist, etwas, was als sol-
ches keine empirische Realität im Leben hat, sondern eben etwas wie man zu
sagen pflegt »Geltendes« ist. Etwas »Seiendes«, e m p i r i s c h Seiendes,
ist es nur, insofern es von Juristen seinem g e l t e n d e n Sinn entsprechend
gedacht zu werden p f l e g t , mehr oder minder genau also entsprechend der
idealen juristischen Denk n o r m , aber nicht weil es als ideale Norm g i l t ,
sondern: weil eine gewisse C h a n c e besteht, daß Menschen, insbesondere
Richter, in einer bestimmten, ihm entsprechenden Art h a n d e l n .
Also: die dogmatische Betrachtung, d. h. die Betrachtung des Sinnes von Ver-
fassungs- und Staatsrechtsnormen und die Betrachtung eines rechtlich geordne-
ten Gemeinwesens, für welches sie, dogmatisch betrachtet, »gelten« wollen,
sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Nun fragt es sich eben: w i e i s t e s l o g i s c h m ö g l i c h , daß
trotzdem eine Bedeutsamkeit soziologischer Feststellungen für rechtliche Erwä-
gungen eintreten kann? Herr Dr. Kantorowicz hat angeführt: erstens die not-
wendige Lückenhaftigkeit des Gesetzessystems im logischen Sinn. Es sei lo-
gisch kein geschlossenes System. Zugegeben! Folgt daraus nun aber allein
schon: daß eine so ganz heterogene Betrachtungsweise, wie die soziologische,
das zu ersetzen geeignet wäre? Das wird er gewiß nicht sagen wollen, sondern er
wird nur sagen wollen, daß aus der Kenntnis der faktischen Struktur der Gesell-
schaft oder z. B. jener von mir zitierten Gemeinwesen, welche man der Kürze
halber mit jenem an sich ganz heterogenen juristischen Ausdruck bezeichnet,
daß daraus unter Umständen der allein mögliche, weil allein sinnvolle
Z w e c k von Rechtsnormen zu entnehmen sei. Er selbst hat als klassisches
Beispiel für das, was er r logisch richtig lt, jene Formulierung des Schwei-
zer Gesetzbuchs angeführt, wo-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 482
nach der Richter den einzelnen Fall so entscheiden soll, wie er, wenn er Gesetz-
geber wäre, die gesetzliche Norm dafür fixieren würde. Meine Herren, das ist ja
ersichtlich gar kein soziologischer, sondern ein strikt Kantscher Grundsatz, bei-
nahe rtlich aus der »Kritik der praktischen Vernunft« zu entnehmen. (Zuruf:)
Ich sage nur, er w ä r e daraus abzuleiten, nicht: er sei faktisch daraus ent-
nommen worden (Dr. Kantorowicz: Man muß aber soziologische Erwägungen
anstellen, um dem Postulat zu genügen). Gewiß, darin sind wir vollsndig einig,
ich habe nur feststellen wollen, daß das, was ich hier sage, auch der Sinn Ihrer
Ausführungen gewesen ist, woran ich von Anfang an nicht gezweifelt habe.
Nun, meine Herren, welche Folgen die Anerkennung dieses Grundsatzes etwa
haben könnte für unsere Rechtsprechung, das ist wiederum eine soziologisch
sehr schwer zu beantwortende Frage. Verschieden ist die Art der Position des
Richters in England von der des Richters bei uns, und das würde keineswegs
praktisch gleichgültig sein für die Konsequenzen, die entständen, wenn man
dem deutschen, sozial ganz anders gestellten Richter diese, mindestens
s c h e i n b a r und nach seiner subjektiven Vorstellung, sehr gre Gewalt in
die Hand legen würde. Diese Frage würde uns jedoch ins Rechtspolitische füh-
ren, und das schließen wir ja aus. Aber, was die Tatsachen anlangt, ist daran zu
erinnern, daß ja die Lückenhaftigkeit des Gesetzes schon heute keineswegs der
einzige Fall der von der Gesetzgebung selbst herbeigeführten Judikatur praeter,
ja selbst contra legem ist. Denn wenn es richtig ist, daß es zwei Arten von
Rechtsfindung geben kann, »formale Justiz« und »Kadijustiz«, und wenn Jhe-
ring von der formalen Justiz gesagt hat: die Form sei die Feindin der Willkür,
die Zwillingsschwester der Freiheit ob mit Recht haben wir hier nicht zu erör-
tern, – so ist daran zu erinnern, daß faktisch die Institution des Geschworenenge-
richts bei uns die Türe öffnet, durch welche die Kadijustiz praeter und auch con-
tra legem eintritt. Unzählige Male erkennen die Geschworenen auf Totschlag,
weil sie nicht den Mut haben, die Konsequenz auf sich zu nehmen, daß derjeni-
ge, der nur auf Indizienbeweise hin des Mordes schuldig befunden werden kann,
nun zum Tod verurteilt wird. So und so oft mal erkennen die Geschworenen ei-
nen Mann der Vergewaltigung eines Mädchens für unschuldig, weil dieses
Mädchen vorher geschlechtlichen Verkehr gehabt hat. Beide Male gegen die
Gesetze. Die Geschworenen sind aber nicht verpflichtet, Gründe anzugeben, es
gibt keine Instanz, die das rektifizieren könnte; trotz allem Recht und trotzdem
das Recht selbstverständlich die Geschworenen dem Sinne nach binden will,
entziehen sie sich ihm de facto. Und auf dem Gebiete der Strafjustiz, meine Her-
ren, besteht deshalb schon, in noch weiterem Sinn, als der Vortrag verlangte,
Freirechtlertum, aber freilich in einem ganz anderen Sinn, als sicherlich derje-
nige ist, den Herr Dr. Kantorowicz gemeint hat: durch persönliche Empfindun-
gen, durch Geschlechterinteressen und endlich durch Klassenkonflikte bedingte
Judikatur.
Und nun komme ich noch mit einigen Bemerkungen kurz auch meinerseits
auf die Rechtsgeschichte zu sprechen. – Herr Kollege
Zu H. Kantorowicz’ Vortrag über »Rechtswissenschaft und Soziologie«. 483
Heck und anschließend auch Herr Kollege Gothein haben zwar auch die andere
Seite hervorgehoben, aber im wesentlichen ist nur davon gesprochen worden,
welche Dienste die Soziologie der Rechtsgeschichte zu leisten habe, und daß die
Rechtsgeschichte soziologisch zu betreiben sei, d. h., daß sie die Faktizitäten des
Rechtslebens, die Art, wie praktisch das Recht lebendig war, und nicht das, was
sich da aus irgendwelchen Rechtsnormen der Vergangenheit an Recht konstruie-
ren läßt, zu ihrem Objekt zu machen habe. Ich möchte nun doch das eine dazu
sagen: Die entscheidende Frage, was denn eigentlich rechtsgeschichtlich rele-
vant ist, was also Objekt der Rechtsgeschichte wird, dies kann allerdings doch
nur von systematischen Erwägungen aus entschieden werden. Und weiter: Es
kann auch die rechtsgeschichtliche Forschung nur in der Weise betrieben wer-
den, sie wird faktisch nur in der Weise betrieben, daß, wenn ich hier eine
»Rechtsquelle« vor mir habe, ich meine: eine Erkenntnisquelle von Recht ei-
nerlei, ob Gesetzbuch, Weistum, Urteil, Privaturkunde oder was sonst ich mir
notwendigerweise zuerst rechts d o g m a t i s c h ein Bild davon mache: die
G e l t u n g welches Rechtssatzes setzt das l o g i s c h voraus, indem ich
mich also möglichst in die Seele eines Richters der damaligen Zeit zurückver-
setze: wie würde ein Richter der damaligen Zeit s i n n g e m ä ß in einem
konkreten Fall zu entscheiden haben, der ihm vorgelegt wäre, wenn dieser
Rechtssatz, den ich da dogmatisch mir konstruiere, von ihm als Grundlage sei-
ner Entscheidung angenommen worden wäre. Sobald man sich den wirklichen
Vorgang der rechtshistorischen Forschung ansieht, kann das nicht bestritten
werden, auf den ersten Blick werden Sie es vielleicht nicht glauben. Dann erst,
auf Grund dieser dogmatischen Erwägungen, werde ich überhaupt fähig, zu be-
merken, daß wie es oft genug geschah in den und den Fällen das faktisch le-
bendige Rechtsbewußtsein n i c h t so funktionierte, nicht gemäß dem ideal
konstruierbaren Sinn, den ich gewonnen hatte. Und dann erst effnet sich mir
überhaupt das Auge dafür: w i e das lebendige, d. h. das faktisch in realem
Zwang sich äußernde, Recht der betreffenden Zeit de facto ausgesehen hat: viel-
leicht, ja wahrscheinlich, äußerst widerspruchsvoll und von Gericht zu Gericht
verschieden. Mit anderen Worten: Als heuristisches Prinzip ist eine rechtsdog-
matische Konstruktion auch für das Recht der Vergangenheit, auch für die
Rechtsgeschichte, nicht zu entbehren. Darum würde ich es r unberechtigt hal-
ten, etwa den Unterschied zu machen: das Recht, das nicht mehr gilt, nur als
Faktum und nicht als »Norm« zu betrachten, und das Recht, das noch gilt, nicht
als Faktum sondern als Norm. Beides kann sowohl auf seinen Sinn hin unter-
sucht werden ... (Zuruf: Vom Richter.) Nein, nicht nur vom Richter. Auch ich
kann mich wissenschaftlich darein versenken und jede Rechtsdogmatik tut es.
Und ebenso kann ich mich in die Frage versenken: welchen Inhalt eigentlich, ju-
ristisch konstruiert, irgendeine der vielen merkwürdigen Bestimmungen des
englischen Rechts der Vergangenheit wohl haben nnte, wenn man sie mit den
Mitteln der Logik in ihre juristischen
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 484
Konsequenzen triebe Das sind Fragen, die nicht notwendig uninteressant und die
vor allem heuristisch fruchtbar sind.
Wie gesagt, ist eine rechts d o g m a t i s c h e Konstruktion und Analyse
auch das Prinzip der Auslese des für die Rechtsgeschichte wissenschaftlich
R e l e v a n t e n . Und, meine Herren, das gilt nun auch da wir einmal in
dieser Diskussion über »Werturteile« begriffen sind das gilt nun auch ebenso
für die Beziehung der W e r t e zu den Problemstellungen, womit wir uns hier
in der soziologischen Gesellschaft wissenschaftlich zu befassen haben. Denn die
Frage, ob ein bestimmtes Faktum Gegenstand unserer Diskussionen werden soll,
ob es also wissenschaftlich interessant geworden ist, ist letztlich identisch mit
der Frage: ob es Bedeutung für K u l t u r w e r t e hat. Aber wenn wir als
Männer der empirischen Wissenschaft, uns mit einem »interessanten« Faktum
befassen, dann liegt diese Frage: w a r u m es interessant i s t , hinter uns,
denn nunmehr ist es unsere Aufgabe, lediglich und allein die Tatsachen festzu-
stellen und sonst nichts. Und auch die Parteien, die sich über deren Wert oder
Unwert streiten, haben ein Interesse daran, daß jemand da ist, der sagt: Ich sage
dir nicht, du hast recht oder du hast unrecht, das kann ich dir mit den Mitteln der
empirischen Wissenschaft nicht sagen, sondern ich kann dir nur sagen: das
s i n d die Tatsachen vielleicht kennt er sie gar nicht –, das sind die Bedin-
gungen, das sind die Folgen davon, daß es so ist, also: wenn das geschähe, was
du willst, dann würden die und die Mittel und die und die Nebenfolgen mit in
den Kauf genommen werden müssen. Das sind Fragen, die nach dem Schema:
auf X folgt Y entschieden werden nnen. Alle anderen Fragen aber, die nach
diesem Schema n i c h t entschieden werden können, liegen nicht auf unserem
Gebiete. Ob man auch die Entscheidung über solche anderen Fragen eine wis-
senschaftliche n e n n e n will oder nicht, das ist uns hier gleichgültig; jeden-
falls gehört sie nicht vor das Forum einer reinen Tatsachenwissenschaft, die wir
hier betreiben wollen. Das hätte nie bestritten werden dürfen, und daran wollen
wir festhalten.
Schließlich und damit greife ich zurück auf die Debatte von heute Vormit-
tag und auf gewisse Einwendungen, die gegen das, was ich gegen Herrn Kolle-
gen Voigt gesagt habe, vorgebracht wurden. Das sog. wirtschaftliche Prinzip
spielt eine der Rechtsdogmatik ähnliche Rolle auf dem Gebiet der Nationalöko-
nomie. Das wirtschaftliche Prinzip was besagt es? Es formuliert seine Urteile
folgendermaßen: W e n n jemand seine gesamten jetzigen und künftigen Be-
dürfnisse mit der Allwissenheit eines Gottes kennte und gegeneinander abzuwä-
gen in der Lage wäre, auf der einen Seite,– und w e n n er mit der Allwissen-
heit eines Gottes auch die vorhandenen Vorräte und die notwendigen Ar-
beitsaufwendungen zur Deckung dieser Bedürfnisse an Gütern potentielle und
aktuelle: die sich ihrerseits ja auch darnach richten, welche Bedürfnisse so und
so viel a n d e r e Menschen haben, die auch diese Güter haben möchten
wenn er das alles wüßte, w i e w ü r d e e r d a n n , unter dem Prinzip
der Deckung möglichst vieler seiner Bedürfnisse mit den vorhandenen
Zu H. Kantorowicz’ Vortrag über »Rechtswissenschaft und Soziologie«. 485
Mitteln verfahren? Meine Herren, Sie sehen, daß nie in der Realität, niemals in
der Wirklichkeit, ein Mensch sich in dieser Lage befindet: das gibt es einfach
nicht. Ein derartiger nicht nur absolut rein rational handelnder, sondern zugleich
auch allwissender Mensch existiert nicht. Dennoch, meine Herren, ist uns dieses
theoretisch fingierte Handeln, ein reines Gedankengebilde, heuristisch wertvoll
zu einer Analyse des wirklichen Handelns. Denn es läßt sich erfahrungsgemäß
zeigen, daß das wirkliche Handeln gewisse Annäherungstendenzen an ein sol-
ches rein rationales Handeln zeigt, und zwar Annäherungstendenzen ganz be-
sonders in einer Zeit des ökonomischen Rationalismus, wie der unsrigen. Wir
wären gar nicht in der Lage, das wirkliche Handeln der Menschen auf wirt-
schaftlichem Gebiet zu analysieren, wenn wir nicht vorher ein streng rationales
Handeln von Menschen wie es in der Wirklichkeit niemals, auch auf dem Ge-
biet der Börse nicht, besteht: davon haben wir heute morgen bei dem Kapitel
über die Panik gehört – wenn wir nicht ein solches streng rationales Handeln uns
vorher vorgestellt hätten. Aehnliches gibt es nun nicht nur auf dem Gebiete der
Nationalökonomie. Man kann den österreichischen Feldzug und Moltkes Ver-
halten nicht begreifen, auch rein historisch nicht, wenn man sich nicht, unbe-
wußt, konstruiert: w e n n Moltke allwissend gewesen wäre und also gewußt
hätte: die Verteilung des österreichischen Heeres, die Chance, so und so schnell
da und dahin zu kommen, ganz genau, wenn er allwissend gewesen re in be-
zug auf a l l e Umsnde, die überhaupt für den Erfolg, für den bezweckten
Erfolg, der ja in diesem Fall eindeutig feststand: die Niederwerfung des Ge-
gners, in Betracht kamen w e n n er das alles gewußt tte und streng unter
diesem einen Gesichtspunkt, ungestört durch Denkfehler und Irrtum, durch die
ungenügende Information, durch ich wenicht was alles hätte handeln nnen,
w i e h ä t t e er dann handeln müssen? Das ist das heuristische Prinzip, wel-
ches wir anlegen, um das wirkliche Handeln Moltkes zu verstehen, denn das
wirkliche Handeln Moltkes ist eben soweit rational gewesen, wie es ihm gelang,
es rational zu gestalten. Er wollte selbstverständlich gerne unter diesem Prinzip
handeln; er konnte es nicht, weil er ein dem Irrtum unterworfener, über die Um-
stände unvollkommen unterrichteter Mensch war. Aber um sein durch diese irra-
tionalen Momente mitbestimmtes reales Handeln zu verstehen, müssen wir
streng rationales Handeln und seinen Erfolg uns vorstellen können, sonst können
wir allerdings menschliches Gesellschaftsleben, historische Dinge nur ebenso
unvollkommen verstehen wie die Vorgänge in einem Bienenstock. Ganz gewiß
können wir die Bienenstocksvorgänge heute bis zu einem sehr weitgehenden
Grad beschreiben und analysieren und haben eine weitgehende Kenntnis davon,
aber die Behandlung menschlichen sozialen Lebens bringt uns demgegenüber
doch einen ungeheuren Vorteil, den wir nicht wegwerfen wollen, da wir mit Hil-
fe dieser rationalen Konstruktionsmittel prinzipiell weiterkommen können in un-
serem Denken und Erkennen der ursächlichen Verkettungen, als das auf dem
Gebiete der Tierstaaten je gelungen ist und gelingen kann.
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 486
Diskussionsreden auf dem zweiten Deutschen Soziologentag
in Berlin 1912.
1. Zum Vortrag von P. Barth über »Die Nationalität
in ihrer soziologischen Bedeutung«.
Der Herr Vorredner
1)
hat Recht, was heißt eigentlich Nation und Nationalge-
fühl? Haben wir überhaupt Anlaß, diese Begriffe ausdrücklich als besondere
Realitäten zu behandeln? Das wären die Fragen, die vor allen anderen gestellt
werden müssen. Auf die Frage z. B., ob die Juden eine Nation sind, kann man
gar nicht einfach mit ja oder nein antworten, denn das erfordert eine sehr
schwierige Begriffsbestimmung. Soweit hinter dem offenkundig vieldeutigen
Wort überhaupt eine gemeinsame Sache steckt, liegt sie offenbar auf politi-
schem Gebiet. Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur etwa so definieren:
sie ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener
Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich her-
vorzutreiben. Die kausalen Komponenten aber, die zur Entstehung eines Natio-
nalgefühls in diesem Sinne führen, können grundverschieden sein. Sehen wir
einmal von der Gemeinschaft des religiösen Glaubens ab, die darin noch immer
bei Serben und Kroaten ihre Rolle nicht ausgespielt hat, so kommen zu-
nächst gemeinsame, rein politische Schicksale in Betracht, durch welche unter
Umständen auch sonst heterogene Völker zusammengeschweißt werden können.
In solchen Erinnerungen ist der Grund zu suchen, warum der Elsässer sich als
nicht der deutschen Nationalität zugehörig empfindet: seine politischen Schick-
sale sind zu lange in außerdeutschen Zusammenhängen verlaufen. Seine Helden
sind Helden der französischen Geschichte. Wenn Ihnen der Kastellan des Kol-
marer Museums zeigen will, was ihm von seinen Schätzen besonders teuer ist,
so führt er Sie von Grünewalds Altar fort in ein Zimmer mit Trikoloren-, Pom-
pier- und anderen Helmen, und solchen Erinnerungen scheinbar nichtigster Art
aus einer Zeit, die ihm ein Heldenzeitalter bedeutet. Auch eine bestehende
staatliche Organisation aber, deren Heldenzeitalter von den Massen nicht mit-
empfunden wird, kann dennoch rein als solche, trotz größter innerer Gegensätze,
der ausschlaggebende Faktor für ein mächtiges Gemeingefühl sein. Der Staat als
Garant der Sicherheit wird gewertet und dies zumal in Zeiten der Bedrohung
von außen, wo dann ein solches nationales Gemeinschaftsgefühl wenigstens in-
termittierend aufflackert. So sahen wir, wie in der sog. Nibelungengefahr die
scheinbar rücksichtslos auseinanderstrebenden Elemente des österreichischen
Staats sich zusammenschlossen, und nicht nur auf die am Staat als solchem in-
teressierten Beamten und Offiziere, sondern auf die Massen der Armee Verlaß
war. Besonders kompliziert liegen die Verhältnisse bei einer
1)
nnies als Debatteredner.
Zu P. Barths Vortrag über »Die Nationalität in ihrer soziolog. Bedeutung«. 487
weiteren Komponente: dem Einfluß der Rasse. Von mystischen Wirkungen der
Blutsgemeinschaft im Sinne der Rassenfanatiker sehen wir dabei wohl besser
gänzlich ab. Für die soziale Anziehung und Abstoßung sind die Verschiedenhei-
ten des anthropologischen Typus ein, aber ein neben traditionserworbenen Un-
terschieden nur gleichberechtigtes Moment der Abschließung. Und zwar mit
charakteristischen Unterschieden. Jeder Yankee nimmt den zivilisierten Vier-
tels- oder Achtelsindianer als Nationalitätsgenossen an, beansprucht womöglich
selbst, Indianerblut zu besitzen. Ganz anders aber verhält er sich den Negern ge-
genüber, und zwar gerade dann, wenn dieser die gleichen Lebensformen an-
nimmt und damit die gleichen sozialen Prätentionen erhebt. Wie erklärt sich
das? Aesthetische Aversion mag mitspielen. Der »Negergeruch« allerdings, von
dem so viel gefabelt wird, ist nach meiner Erfahrung nicht zu entdecken, und
schwarze Ammen, schwarze Kutscher Schulter an Schulter mit der das Kabriolet
lenkenden Dame und vor allem mehrere Millionen Mischlinge sprechen allzu
deutlich gegen die angeblich natürliche Abstoßung. Diese ist sozialen Charak-
ters und ich habe nur eine einzige einleuchtende Begründung gehört: die Neger
sind Sklaven gewesen, die Indianer nicht. Von den Kulturelementen, welche
die wichtigste positive Grundlage der Bildung von Nationalgefühl darstellen,
steht überall in erster Linie die gemeinsame Sprache. Auch sie ist weder ganz
unentbehrlich noch allein ausreichend. Man darf behaupten: daß es ein spezifi-
sches Schweizer Nationalgefühl gab trotz des Fehlens der Sprachverschieden-
heit. Trotz der Sprachgemeinschaft fehlt es dem Irländer mit dem Engländer.
Die Bedeutung der Sprache ist in notwendigem Steigen begriffen, parallel mit
der Demokratisierung von Staat, Gesellschaft und Kultur. Denn gerade für die
Massen spielt die Sprache schon rein ökonomisch eine entscheidendere Rolle,
als für den Besitzenden feudalen oder bürgerlichen Gepräges, der wenigstens in
Sprachgebieten gleichartiger Kultur meist die fremde Sprache spricht, hrend
der Kleinbürger und Proletarier im fremden Sprachgebiet ungleich stärker auf
den Zusammenhalt mit Gleichsprachlichen angewiesen ist. Und dann vor allem:
die Sprache und das heißt, die auf ihr aufgebaute Literatur sind das erste und zu-
nächst einzige Kulturgut, welches den Massen beim Aufstieg zur Teilnahme, an
der Kultur überhaupt zugänglich wird. Der Kunstgenuß erfordert ein weit größe-
res Maß von Schulung, und Kunst ist weit aristokratischeren Gepräges, als Lite-
ratur gerade in ihren größten Leistungen. Aus diesem Grunde war die Vorstel-
lung so utopisch: Demokratisierung müsse die Sprachenkämpfe mildern, die
man in Oesterreich gehabt hat. Die Tatsachen haben sie inzwischen gründlich
dementiert. Gemeinsame »Kulturgüter« können also ein einigendes nationales
Band abgeben. Auf den objektiven Wert dieser Kulturgüter kommt es dabei aber
gar nicht an und deshalb darf man »Nation« nicht als »Kulturgemeinschaft« fas-
sen. Gerade die Zeitungen, in denen sich gewiß nicht immer das Sublimste an li-
terarischer Kultur sammelt, kitten die Massen am stärksten zusammen. Ueber
die eigentlich soziologischen Bedingungen der Entstehung einer
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 488
einheitlichen Literatursprache und was etwas anderes ist einer Literatur in
der Volkssprache stecken alle Untersuchungen noch den Anfängen. Für Frank-
reich kann auf die Aufsätze meines verehrten Freundes Voßler verwiesen wer-
den. Nur auf einen typischen Tger dieser Entwicklung möchte ich hier hinwei-
sen, weil man an ihn nicht oft denkt: die Frauen. Ihre spezifische Leistung für
die Bildung eines an der Sprache orientierten Nationalgefühls liegt hier. Eine
erotische Lyrik, die sich an Frauen wendet, kann nicht wohl fremdsprachig sein,
weil sie dann von den Adressatinnen unverstanden bliebe. Ganz gewnicht die
höfische und ritterliche Lyrik allein, auch nicht immer zuerst, aber doch oft und
nachhaltig gerade sie hat daher in Frankreich, Italien, Deutschland das Lateini-
sche, in Japan das Chinesische durch die eigene Sprache ersetzt und diese zur
Literatursprache sublimiert. Wie dann die Bedeutung der Volkssprache unter
dem Einfluß der Erweiterung der Verwaltungsaufgaben von Staat und Kirche,
also als Sprache der Behörden und der Predigt stetig fortschreitet, habe ich hier
nicht zu schildern. Nur noch ein Wort über die ökonomische Bedingtheit gerade
der modernen Sprachenkämpfe. An der Erhaltung und Pflege der Volkssprache
sind heute ganz erhebliche pekuniäre und kapitalistische Interessen verankert:
solche der Verleger, Herausgeber, Autoren und Mitarbeiter von Büchern und
Zeitschriften, vor allem aber von Zeitungen. Seit es einmal polnische und letti-
sche Zeitungen gab, war der von den Regierungen oder herrschenden Schichten
anderer Sprachzugehörigkeit geführte Sprachenkampf so gut wie aussichtslos
geworden. Denn gegen diese Gewalten ist die Staatsraison machtlos. Und diesen
kapitalistischen Erwerbsinteressen tritt ein anderes materielles Interesse von
großem Gewicht zur Seite: in der Konkurrenz um die Aemter werfen die Amts-
anwärter ihre Doppelsprachigkeit in die Wagschale und suchen r diese ein
möglichst breites Pfründengebiet mit Beschlag zu belegen, wie in Oesterreich
die Tschechen mit ihrem Ueberschuß von massenhaft gezüchtetem intellektuel-
lem Proletariat. Diese Tendenz ist an sich alt. Die konziliare und zugleich natio-
nalistische Reaktion des ausgehenden Mittelalters gegen den Universalismus des
Papsttums der Name natio findet sich als Rechtsbegriff für eine organisierte
Gemeinschaft ja zuerst an den Universitäten und auf den Reformkonzilien – hat-
ten ihren Ursprung in starkem Me in dem Interesse der Intellektuellen, welche
die Pfründen ihres eigenen Landes nicht von Rom her durch Fremde besetzt,
sondern für sich reserviert sehen wollten. Nur die Verknüpfung mit der nationa-
len Sprache als solcher fehlte damals und ist, aus den erwähnten Gründen, spezi-
fisch modern. Alles in allem: wenn man es überhaupt zweckmäßig findet, ein
Nationalgefühl als etwas Einheitliches, spezifisch Gesondertes zu unterscheiden,
so kann man das nur durch Bezugnahme auf eine Tendenz zum eigenen Staat
und man msich dann klar sein, daß darunter sehr heterogen geartete und ver-
ursachte Gemeinschaftsgefühle zusammengefaßt werden.
Zu F. Schmids Vortrag über »Das Recht der Nationalitäten«. 489
2. Zum Vortrag von F. Schmid über »Das Recht
der Nationalitäten«.
1. Wenn sich einmal jemand an das gre Problem der rechtlichen Gestaltung
der Nationalitätenbeziehung machen wollte, so wäre eine der wichtigsten Quel-
len dafür die Schriften von Dragomanow, und dann die Verhandlungen, die in
Rußland während der Revolution geführt worden sind. Die Russen haben, weil
die Art ihrer radikal revolutionären Stellung zur bestehenden Regierung ihnen
einen archimedischen außerhalb aller bestehenden uns allen selbstverständlichen
Ordnungen der Gesellschaft gibt, die Eigentümlichkeit, mit ihrem Intellekt die
äußersten gedanklichen Konsequenzen zu erschöpfen. Darum sind hier vielleicht
alle Möglichkeiten der Gestaltung des Problems aufgetaucht. Nun zu den Erörte-
rungen von heute Vormittag.
Herrn Dr. Ludo Moritz Hartmann will ich die größere Kompetenz im Tatsäch-
lichen der österreichischen Verhältnisse zugeben. Zu seiner Definition des Be-
griffs Nation muß ich aber nochmals sagen: Es gibt keinen soziologisch eindeu-
tigen genetischen Begriff von Nation und Nationalität, der an den Begriff »Kul-
tur« anknüpft. Definitionen sind hier konventionell und bleiben im Gebiet des
Subjektiven. Die Hartmannsche Definition läßt z. B. die Frage offen, was denn
eine »Kulturgemeinschaft« ist. In welchem Sinne wenn überhaupt besteht eine
solche zwischen der Aristokratie und dem Proletariat eines Landes? Damit be-
ginnt zuerst das Problem: Die Gemeinsamkeit welcher Kulturgüter bietet den
stärksten Antrieb dafür, daß die betreffende Gemeinschaft nach einer politischen
Organisation strebt? Die Bedeutung der Kunst ist dafür sehr gering. Um so stär-
ker ist der Einfluß der Literatur, wie ich schon ausführte.
2. Hier ist ausdrücklich von »Blut« gesprochen worden. Ich habe aber ausge-
führt, daß mit der unklaren Rassenmystik nichts anzufangen ist. Ich habe die
Frage aufgeworfen, inwiefern erbliche Qualitäten gemeinschaftsbildend sind.
Wie schwankend die Zuteilung zu einem Volk ist, zeigt sich darin, daß man in
Amerika eine Frau als Negerin bezeichnet, die
1
/
100
Negerblut hat, hrend wir
Leute als Deutsche bezeichnen, die kaum einen Tropfen deutsches Blut haben
(z. B. Treitschke). Es ist mit Recht hervorgehoben worden, welche Rolle die Re-
ligion auf dem Gebiete nationaler Gemeinschaftsbildung spielen kann. Gerade
Sektenbildung führt oft zur Inzucht und hat in Indien z. B. neue anthropologi-
sche Typen erzeugt. Der Sinn von »Nation« und »national« ist absolut nicht
eindeutig. Wir nnen ihn nicht finden von der Seite der gemeinsamen Qualität
her, welche die Gemeinschaft erzeugt, sondern nur von der Seite des Zieles her,
nach dem etwas drängt, was wir unter dem Sammelnamen Nationalität bezeich-
nen: Dem selbständigen Staatswesen.
Was die Anzweiflungen von Professor Michels gegen die Bedeutung der ero-
tischen Lyrik für die Propaganda der Volkssprache und ihre Entwicklung zur Li-
teratursprache anlangt, so meine ich, daß die
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 490
Tatsachen sowohl in Frankreich wie namentlich in Japan und auch Italien doch
außerordentlich klar liegen. Petrarca hat eben seine Sonette seiner Laura niemals
weder vorgelesen noch zugeschickt, und Goethes römische Elegien sind auf dem
Rücken der Vulpius abskandiert. Im übrigen aber können wir an dieser Mei-
nungsverschiedenheit vielleicht einmal praktisch illustrieren, was es mit dem
Unterschiede empirischer kausaler Erklärung und wertender Betrachtung, von
deren Ausschluß aus unsern Debatten heute wieder die Rede war, auf sich hat.
Die »Gunst der Frauen« als ein kausales Moment soziologischer Erscheinungen
schätzt Professor Michels, wie sich zeigt, niedriger ein als ich. Aber damit ist
doch nun nicht gesagt, daß er die Gunst der Frauen im W e r t e niedriger ein-
schätzt, als ich tue. Eine Auseinandersetzung darüber würde ersichtlich nicht an
diesen Ort gehören und eine Einigung prinzipiell ausschließen, und so steht es
meines Erachtens mit allen Wertdiskussionen überhaupt. Man kann da nur
Standpunkte festlegen, aber eine Einigung ist prinzipiell gar nicht das bei Wert-
diskussionen erstrebte Ziel. Erwägen Sie, wohin es geführt hätte, wenn wir heute
etwa den Wert der Nationalität oder den Wert des nationalen Staates mit in die
Diskussion gezogen hätten, wie es der erste Herr Redner immerhin bis zu einem
gewissen Grade getan hatte. Wir hätten ein allgemeines Chaos gegenseitiger na-
tionaler Rekriminationen, etwa der Polen gegen die Deutschen und umgekehrt,
heraufbeschworen, bei dem eine Förderung sachlicher Erkenntnis auf keine
Weise herausgesprungen wäre. Vorläufig haben wir den Statutenparagraph, wel-
cher derartiges verbietet, und solange er besteht, werden wir auf unserem Rech-
te, seine Durchführung zu verlangen, bestehen.
3. Zum Vortrag von F. Oppenheimer über »Die rassentheoretische
Geschichtsphilosophie«.
Die eigentliche Frage im Rassenproblem wäre doch wohl: Sind bestimmte hi-
storisch, politisch, kulturell, entwicklungsgeschichtlich r e l e v a n t e Diffe-
renzen nachweislich ererbt und vererbbar, und welches sind diese Unterschiede?
Diese Frage ist heute auf den meisten Gebieten noch nicht einmal e x a k t
z u s t e l l e n , geschweige daß schon an ihre Lösung zu denken wäre. Ich
selbst habe mich an ihrer Untersuchung auf einem Felde mitbeteiligt, das der
exakten Forschung verhältnismäßig leicht zugänglich erscheint: Wir hatten den
Versuch machen wollen, Unterschiede der Verwendbarkeit und Rentabilität von
Arbeitern verschiedener ethnischer Herkunft an modernen Maschinen unter an-
derem auch daraufhin zu untersuchen, inwieweit ihnen etwa Unterschiede ererb-
ter und vererblicher Qualitäten zugrunde liegen nnten. Aber obwohl hier die
Differenzen der Leistung meßbar sind, direkt durch geeignete Vorrichtungen an
den Maschinen (Stuhluhren z. B.), indirekt durch die Lohnverdienste, und ob-
wohl ferner das Akkordsystem ein ungefähr gleiches Maß von Anspannung der
Leistungsfähigkeit zu garantieren wenig-
Zu F. Oppenheimers Vortrag über »Die rassentheoret. Geschichtsphilosophie«. 491
stens scheinen nnte, mußten wir uns doch überzeugen: Es existieren noch
nicht einmal die M i t t e l , die zu einer derartigen Feststellung selbst auf die-
sem relativ einfachen Beobachtungsfelde dienen könnten. Und da will man
schon mit Rassetheorien Geschichtskonstruktion treiben. Wohin das selbst bei
geistreichen Schriftstellern führt, ist leicht zu illustrieren. Der Untergang des
römischen Reiches ist Gegenstand vieler rassetheoretischen Deutungsversuche
geworden, für welche es charakteristisch ist, daß die gerade entgegengesetzten
Konstruktionen alle gleich plausibel sind. Man hat ihn durch die Vernichtung
der Herrenrasse in den angeblich besonders blutigen Kriegen des späten Römer-
reiches erklärt; aber in der Kaiserzeit war gerade Italien nahezu völlig vom per-
sönlichen Kriegsdienst befreit. Man hat daher eine gerade umgekehrte Erklä-
rung! argumentiert: Durch eben diese Ausschaltung des Römertums sei der
Geist der Armee und Verwaltung geändert worden. Septimus Severus hat in der
Tat den meradel im Offizierskorps der Armee und in der Verwaltung aus po-
litischen Gründen durch barbarische Emporkömmlinge verdrängt. Aber wenn
dadurch unassimilierte, kulturlose Barbaren in die höheren Heeresschichten
steigen, so tritt offenbar nicht ihrer Rassenangehörigkeit, sondern: ihrer Barbarei
wegen eine Aenderung in der Nachfrage nach »Kultur«, eine Venderung des
Kunstgeschmacks ein. Einige der spezifischsten merkaiser waren ebenfalls
Barbaren der ethnischen Herkunft nach, – nur eben durch Aufnahme in die Kul-
turtradition der Antike: assimilierte Barbaren. Man sieht, es läßt sich mit
Rassentheorien beweisen und widerlegen, was man mag. Es ist ein wissenschaft-
liches Verbrechen, heute, mit ganz ungeklärten Begriffen, auf dem Gebiete der
Antike durch kritiklosen Gebrauch von Rassenhypothesen die freilich viel
schwierigere soziologische Analyse umgehen zu wollen, die keineswegs aus-
sichtslos ist, hrend wir doch wohl die Hellenen und Römer heute nicht mehr
darauf untersuchen können, inwieweit etwa ihre Qualitäten auf ererbten Anlagen
beruhen oder nicht. Das gelingt selbst den sorgsamsten und mühseligsten Unter-
suchungen am heute lebenden Objekt, auch wenn wir es ins Laboratorium neh-
men und exakt experimentieren, noch nicht. Wie steht es denn eigentlich mit der
Rassenreinheit der Herrenschichten der Vergangenheit, von deren Rassenquali-
täten die Rassentheoretiker fortgesetzt sprechen? Die legitime Ehe ist eine ver-
hältnismäßig junge Institution zum Schutz der legitimen Frau und d. h. in Wirk-
lichkeit: im Interesse von Monopolen der ökonomischen oder politischen Ge-
nossen des Mannes. Die Sippe der Frau will Schutz dagegen, daß durch die ur-
sprünglich überall anerkannte patriarchalische Willkür des Mannes das Kind ir-
gendeiner Sklavin oder eines Nebenweibes in die Rechte des Erben miteinge-
setzt wird. Sie verlangt als Gegenleistung für die Mitgift, welche sie der Frau
mitgibt, daß nun ihrem, dem legitimen Sohne, die Erbfolge garantiert wird. Die
Bürgerschaft oder die Markgenossenschaft oder die religiöse Gemeinschaft will
nicht, daß »der Sohn der Magd in Israel erbe«. Damit beginnt erst in den Her-
renschichten die Inzucht und Bluts-
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 492
reinheit. Solange aber der polygame Mann der Herrenschicht sich Weiber kauft,
wo und wieviele er will und der Held sein Weib gern durch Raub in der Fremde
gewinnt, kann von Rassenreinheit gerade in der Herrenschicht am allerwenig-
sten die Rede sein. Denn daß die rein erotisch determinierte Auswahl keines-
wegs nach dieser Richtung wirkt, steht unzweifelhaft fest. Man hat zwar be-
hauptet, die blonde Frau sei von den arischen Helden ursprünglich ebenso be-
vorzugt worden wie der blonde Held von den Dichtern. Aber die Skalden rüh-
men gerade umgekehrt die brünette Frau, wohl weil sie im Norden ebenso die
größere Seltenheit war wie der blonde Held im Süden. Der Uebergang vom
blonden Frauenideal zur Verklärung des schwarzhaarigen Weibes in der franzö-
sischen Belletristik im 17. Jahrhundert fällt allerdings mit einer gewissen Ver-
bürgerlichung des Romans zusammen. Aber ob dies deshalb mit Rassenver-
schiebung etwas zu tun hat, ist doch recht fraglich, jedenfalls ist dieses Material
höchst unsicher für wissenschaftliche Hypothesen. Ob und welche Beziehungen
zwischen Kunst und Rassen bestehen, hat Herr Dr. Oppenheimer, wie schon
Herr Professor Driesmanns hervorhob, unerörtert gelassen. Die weitgehende
Gleichheit primitiver Ornamentik spricht in der Tat noch nicht unbedingt gegen
die Bedeutung von Rassenunterschieden. Denn da sprechen die typischen, von
der Ethnographie jetzt allmählich aufgedeckten Quellen ornamentaler Motive
wohl überwältigend mit. Aber was eigentlich künstlerische Leistungen anlangt,
so ist z. B. für Europa die Annahme eines paläolithischen und ziemlich nördlich
gelegenen Kunstzentrums immerhin eine Tatsache, die wenigstens denkbarer-
weise auf spezifische Rassenbegabungen der Nordländer hinweisen nnte.
Könnte! Denn in mir ist trotz mancher ähnlicher wesentlich plausiblerer Beob-
achtungen schließlich doch immer wieder der Glaube an einen besonders inti-
men Zusammenhang von Rasse und Kunst durch sehr gewichtige Umstände er-
schüttert worden, z. B. auf einem scheinbar so aus dem intimsten Fühlen quel-
lenden Kunstgebiet wie der Musik ist die hellenische Kunst prinzipiell verwandt
mit der arabischen, indischen, javanischen, japanischen, ja selbst der chinesi-
schen. Alle die verschiedenen sehr auffälligen Unterschiede scheinen sich teils
rational, teils technisch, teils soziologisch erklären zu lassen. Die Tonbildung
der spezifischen Instrumente der Hirtenvölker, namentlich des Dudelsacks,
spielt dabei z. B. ihre Rolle und viele ähnliche Umstände. Nur im modernen Eu-
ropa gibt es seit dem Mittelalter ein harmonisches Tonsystem, zu dem sich Vor-
stufen eigentlich nur in Afrika und der Südsee, nicht aber bei den antiken Völ-
kern finden. In ihren Prinzipien steht die chinesische Musik der hellenischen nä-
her als die deutsche. Zweierlei re erforderlich, ehe die Rassetheorien über-
haupt diskutabel werden: Die Feststellung unverkennbarer und nie fehlender,
exakt psychophysisch zu definierender und zu messender und dabei nachweis-
lich vererblicher Unterschiede in der Art des »Reagierens« auf »Reize« (um es
technisch auszudrücken): denn nicht Kulturinhalte unseres Bewußtseins sondern
der psychophysische Apparat ist Objekt der Vererbung.
Zu F. Oppenheimers Vortrag über »Die rassentheoret. Geschichtsphilosophie«. 493
Und dann das zweite: Der einwandfreie Nachweis, daß und inwieweit diese für
spezifische Eigentümlichkeiten und Unterschiede der Kulturentwicklung kausale
Bedeutung hatten. Nicht eine einzige Tatsache dieser Art liegt bis jetzt vor. – Ich
komme jetzt zu den Vorträgen von Dr. Hartmann und Professor Michels. Hart-
mann erklärte, daß die Nationalität weder im Altertum noch im Mittelalter
staatsbildend aufgetreten sei. Das ist wahr und der Grund liegt in der Eigenart
der Staatsstruktur jener Zeiten. Dennoch aber ist im Mittelalter das sprachlich
oder ethnisch bedingte Kontrastgefühl nicht gleichgültig gewesen. In den
Kreuzzügen trat der Gegensatz zwischen französischer und deutscher Ritter-
schaft ganz schroff zutage. Und die Schlacht von Bouvines, in der das deutsche
Reichsbanner erobert wurde, daneben wohl auch der ungerechte Untergang
Konradins, gebaren den Nationalstolz der Franzosen dem Deutschen gegenüber.
Der englische Nationalstolz wird im 15. Jahrhundert bereits mit fast all den
markanten Eigentümlichkeiten geschildert, die er heute noch hat. Um die gleiche
Zeit erwacht er auch in Deutschland und Italien. Aber schon längst vorher hatten
die Sprache und die Abstammung ihre gemeinschaftsbildende Rolle gespielt.
Der Deutsche Orden nahm nur Deutsche, der böhmische nig war Kurfürst
nur, wenn er ein Deutscher war usw. Weil aber die Staatsformen andere waren,
mußten diese Gegensätze damals im ganzen andere Wirkungen und Wirkungen
auf andern Gebieten zeigen als heute. Hartmann hat ferner von der Naturgren-
ze zwischen den einzelnen Nationalitäten gesprochen, die im wesentlichen un-
verrückbar festliege. Das mag für Böhmen zutreffen. Für den deutschen Osten
trifft es ganz und gar nicht zu. Das Wunder des Zusammenfallens der ethnischen
und botanischen Grenze in Böhmen erklärt sich übrigens wohl einfach durch die
Ueberlegenheit der deutschen Siedlungstechnik über die slavische, welche den
schwierigen Aufgaben der Rodung der Bergabhänge nicht gewachsen war.
Wenn im deutschen Osten eine natürliche geographische, überhaupt eine ge-
schlossene Grenzlinie zwischen den Nationalitäten läge, wenn nicht die unzähli-
gen polnischen und deutschen Enklaven da wären, würde sich die Situation der
Nationalitäten dort auf eine weniger komplizierte Formel bringen lassen, als es
der Fall ist. Zu den nebenher noch berührten nordamerikanischen Verhältnis-
sen will ich nur eine Bemerkung machen. Die ungeheure Assimilationsgewalt
der Yankees, die übrigens der ungeheuren Einwanderung gegenüber bei dem
Rückgang der eigenen Geburtsziffern jetzt wohl ihre Grenze erreicht hat, beruh-
te nicht auf Rassenqualitäten, sondern auf ihrem Kindererziehungssystem, daß,
wie das ganze Leben des genuinen Amerikaners, schon für die jüngsten, Schul-
buben vom Prinzip der Selbstverwaltung und exklusiver, nur durch Ballotage
ergänzter Gemeinschaften und Klubs beherrscht wird; das prägt mit seinem ei-
gentümlichen Zwang zur Selbstbehauptung, den spezifisch amerikanischen Cha-
rakter und lehrt die Jungen auch im Leben sich zu behaupten.
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 494
Der Sozialismus.
Rede zur allgemeinen Orientierung von österreichischen Offizieren
in Wien 1918.
Wenn ich das erstemal die Ehre habe, im Kreise des Offizierskorps der k. u. k. Armee
zu sprechen, so werden Sie verstehen, daß das für mich eine etwas verlegene Situation
ist. Vor allem deshalb, weil ich die Vorbedingungen: die inneren Verhältnisse des Be-
triebes der k. u. k. Armee in gar keiner Weise kenne, diejenigen Vorbedingungen, die
auch für eine Einflußnahme des Offizierskorps auf die Mannschaft maßgebend sind. Es
ist ja selbstverständlich, daß der Offizier in der Reserve und in der Landwehr immer ein
Dilettant ist, nicht nur deshalb, weil ihm die wissenschaftliche Kriegsschulvorbildung,
sondern auch deshalb, weil ihm die sndige Fühlung mit dem ganzen inneren Nerven-
system des Betriebes fehlt. Aber immerhin, wenn man, so wie es bei mir der Fall war,
jahrelang immer wieder einige Zeit innerhalb der deutschen Armee in sehr verschiede-
nen Gebieten Deutschlands war, so glaube ich, so viel Anschauung von der Art der Be-
ziehungen zwischen Offizierskorps, Unteroffizierskorps und Mannschaften zu haben,
um wenigstens sehen zu können: diese und jene Art der Einflußnahme ist m ö g -
l i c h , diese und jene Art ist schwierig oder unmöglich. Davon habe ich selbstver-
ständlich für die k. u. k. Armee auch nicht die geringste Vorstellung. Wenn ich über-
haupt irgendeine Vorstellung von den inneren Verhältnissen der k. u. k. Armee habe, so
ist es nur die von ganz ungeheuren sachlichen Schwierigkeiten, die für mich schon ein-
fach aus den sprachlichen Verhältnissen folgen. Es ist von Reserveoffizieren der k. u. k.
Armee mehrfach versucht worden, mir auseinanderzusetzen, wie es gelingt, ohne wirk-
liche Kenntnis der Sprache der Mannschaft doch jenen Kontakt mit ihr aufrechtzuerhal-
ten, der eben erforderlich ist, um eine Einflußnahme irgendwelchen Art über das Dienst-
liche hinaus auszuüben. Ich selbst kann nur aus deutschen Vorstellungen heraus spre-
chen und möchte mir zunächst erlauben, einige Bemerkungen über die Art, wie diese
Einflußnahme bei uns verlaufen ist, vorauszuschicken.
Diese Bemerkungen sind »aus der Froschperspektive« gemacht. D. h.: ich hatte es
mir bei zeitweise häufigen Reisen in Deutschland zum Grundsatze gemacht, wenn es
sich nicht um sehr lange
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 495
Fahrten handelte und wenn ich nicht sehr anstrengende Tätigkeit vor mir hatte, stets
dritte Klasse zu fahren, und bin so im Laufe der Zeit mit vielen Hunderten von Leuten,
die von der Front kamen oder nach der Front reisten, zusammengekommen, gerade in
jener Epoche, wo bei uns das, was man unter Aufklärungsarbeit durch die Offiziere
verstand, eingesetzt hat. Da habe ich, ohne daß ich irgendwelchen Anlaß genommen
hätte, die Leute auszufragen oder meinerseits zum Sprechen zu bringen, außerordentlich
vielfältige Aeußerungen darüber von seiten der Leute gehört. Und zwar handelte es sich
da stets um sehr zuverlässige Leute, für welche die Autorität des Offiziers felsenfest
stand, nur selten auch um solche, die eine etwas andere Haltung innerlich einnahmen.
Die Sache war nun immer die: daß man sehr bald die gre Schwierigkeit jeder Aufklä-
rungsarbeit erkennen mußte. Es war namentlich eines: sobald bei den Leuten irgendwie
der Verdacht rege wurde, daß es sich um P a r t e i politik handle, die direkt oder indi-
rekt gefördert werden solle, gleichviel, welcher Art sie war, so war bei einem großen
Teile von ihnen immer das Mißtrauen da. Sie hatten eben, wenn sie auf Urlaub kamen,
Beziehungen zu ihren Parteileuten und es wurde dann natürlich schwierig, ein wirkli-
ches Vertrauensverhältnis zu ihnen aufrecht zu erhalten. Es war ferner die große
Schwierigkeit vorhanden: die Leute erkannten zwar die militärische Fachkunde des Of-
fiziers ganz bedingungslos an das ist mir nie anders vorgekommen, so selbstverständ-
lich auch in Deutschland gelegentlich geschimpft wurde, bald über die Stäbe, bald über
sonst etwas, aber die militärische Autorität ist nie grundsätzlich bezweifelt worden;
dagegen stieß man auf das Empfinden: ja, wenn wir von seiten des Offiziers über unsere
privaten Lebensverhältnisse und das, was daraus folgt, belehrt werden, so liegt die Tat-
sache vor, daß das Offizierskorps doch einer anderen ständischen Schicht angehört als
wir und daß es dem Offizier beim besten Willen nicht möglich ist, sich in unsere Lage,
die wir hinter der Maschine oder hinter dem Pfluge stehen, so vollständig hineinzuver-
setzen, wie wir selbst das tun. Das kam in einer Anzahl teilweise naiver Aeußerungen
immer wieder zum Ausdruck und ich hatte das Gefühl, daß vielleicht durch eine falsch
betriebene Art der Aufklärung die Autorität des Offiziers auch auf dem militärischen
Gebiete, wo sie ganz unerschüttert steht, leiden könnte, weil die Leute die Autorität auf
jenen Gebieten, wo sie beanspruchen, zu Hause zu sein, nicht unbedingt anerkennen.
Nun ein weiterer, nicht jetzt, aber früher bei Auseinandersetzungen mit dem Sozialis-
mus oft gemachter Fehler. Man ist schon lange mit gutem Grunde davon abgegangen,
was man früher auf Seite der parteipolitischen Gegner der Sozialdemokratie getan hat,
bezüglich der Gewerkschaftsbeamten und der Parteibeamten den Arbeitern vorzuhalten:
»Das sind eigentlich die Leute, die von den Arbeitergroschen im wörtlichen Sinne le-
ben, viel mehr als die Unternehmer. Denn darauf antwortet selbstverständlich jeder Ar-
beiter: »Gewiß leben die Leute von meinen Groschen. Ich bezahle sie. Aber eben
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 496
deshalb sind sie mir zuverlässig, sie sind von mir abhängig, ich weiß, daß sie meine In-
teressen vertreten müssen. Da lasse ich mir nichts dreinreden. Das ist mir die paar Gro-
schen wert.« Man ist jetzt mit Recht davon abgegangen, jene Intellektuellenschicht, die
nun einmal überall die Parolen, die Schlagworte und sagen Sie getrost: die Phrasen
prägt, mit denen in allen Parteien ohne Ausnahme gearbeitet wird, und so auch inner-
halb der Parteien der Linken und der sozialdemokratischen Partei, in jener Art diskredi-
tieren zu wollen. Insbesondere aber ist es meiner Meinung nach zu begrüßen, daß man
in Deutschland sich mit den Gewerkschaften gut gestellt hat. Man mag zu den Gewerk-
schaften sonst stehen, wie man will. Sie machen auch ihre Torheiten. Dennoch war die-
se Haltung gegenüber den Gewerkschaften gerade vom militärischen Standpunkt klug.
Denn sie repräsentieren immerhin etwas, was auch den militärischen Körperschaften ei-
gen ist. Man mag über den Streik denken, wie man will. Er ist meist ein Kampf um In-
teressen, um hne. Sehr oft aber doch nicht nur um hne, sondern auch um ideelle
Dinge: um Ehre, so wie sie die Arbeiter nun einmal verstehen und was darunter zu
verstehen sei, das beansprucht eben jedermann selbst zu wissen. Das Gefühl der Ehre,
der Kameradschaft der Genossen in einer Fabrik oder in ein und derselben Branche hält
sie zusammen, und das ist schließlich ein Gefühl, auf welchem, nur in anderer Richtung,
auch der Zusammenhalt militärischer Körper beruht. Und da es nun einmal gar kein
Drittel gibt, die Streiks aus der Welt zu schaffen – man kann nur wählen zwischen offen
anerkannten und geheimen Verbänden dieser Art – so halte ich es für auch vom militäri-
schen Standpunkt klug, wenn man sich auf den Boden dieser Tatsache stellt: Das ist
einmal so und, solange man mit den Leuten auskommt und sie nicht m i l i t ä r i -
s c h e Interessen gefährden, paktiert man mit ihnen, wie es tatsächlich in Deutschland
geschehen ist. Das sind meine subjektiven Eindrücke.
Nun möchte ich mich aber dem Thema zuwenden, zu welchem Sie mir die Ehre ge-
geben haben, mich hierher zu laden, und welches ja freilich derart ist, daß man ein hal-
bes Jahr ausführlich darüber sprechen ßte (denn in diesem Umfange pflegt man ge-
schulten akademischen Hörern diese Dinge vorzutragen): der Stellung des Sozialismus
und der Stellungnahme zu ihm. Zunächst mache ich darauf aufmerksam, daß es »Sozia-
listeder allerverschiedensten Art gibt. Es gibt Leute, die sich Sozialisten nennen und
die kein einziger Parteisozialist welcher Richtung immer als solche anerkennen würde.
Alle P a r t e i e n , die rein sozialistischen Charakter haben, sind heute d e m o -
k r a t i s c h e Parteien. Auf diesen demokratischen Charakter möchte ich zunächst
kurz eingehen. Was ist denn heute Demokratie? Der Punkt gehört durchaus zur Sache.
Freilich kann ich ihn heute nur kurz berühren. Demokratie kann unermeßlich Verschie-
denes bedeuten. Sie bedeutet an sich nur: daß keine formelle Ungleichheit der politi-
schen Rechte zwischen den einzelnen Klassen der Bevölkerung besteht. Aber welche
verschiedenen Konsequenzen
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 497
hat das! Bei dem alten Typus der Demokratie, in den Schweizer Kantonen Uri, Schwyz,
Unterwalden, Appenzell und Glarus versammeln sich noch heute mtliche Bürger in
Appenzell sind das 12 000 stimmfähige Leute, sonst sind es 3000 bis 5000 auf einem
großen Platz und stimmen dort über alles, von der Wahl des Landammannes angefangen
bis zur Beschlußfassung über ein neues Steuergesetz oder irgendeine Frage der Verwal-
tung nach erfolgter Diskussion durch ndeaufheben ab. Wenn Sie nun aber die Listen
der Landammänner verfolgen, die da in einer solchen Schweizer Demokratie alten Stils
durch fünfzig oder sechzig Jahre hindurch gewählt wurden, so werden Sie finden, d
es auffallend häufig dieselben waren oder daß doch bestimmte Familien diese Aemter
von alters her in der Hand hatten, daß also zwar eine Demokratie im Rechte bestand,
diese Demokratie aber tatsächlich aristokratisch verwaltet wurde, Und zwar aus dem
ganz einfachen Grunde, weil das Amt etwa eines Landammannes nicht jeder Gewerbe-
treibende übernehmen konnte, ohne sich in seinem Gewerbe zu ruinieren. Er mußte im
wirtschaftlichen Sinne »abkömmlich« sein, und das ist in der Regel nur ein Mann von
einigem Vermögen. Oder man muß ihn hoch bezahlen und durch Pension versorgen.
Die Demokratie hat nur die Wahl: entweder billig durch reiche Leute im Ehrenamt ver-
waltet zu werden oder teuer durch bezahlte Berufsbeamte. Dieses letzte, die Entwick-
lung eines Berufsbeamtentums, ist nun aber das Schicksal aller modernen Demokratien
da geworden, wo das Ehrenamt nicht ausreichte: in den großen Massenstaaten. Das ist
die augenblickliche Situation Amerikas. Der Theorie nach ist dort die Sache ähnlich wie
in der Schweiz. Gewählt wird, wenn auch nicht durch Landesversammlungen, so doch
nach direktem oder indirektem g l e i c h e n Wahlrechte, ein großer Teil der einzel-
staatlichen Beamten und für die ganze Union: der Präsident. Der Präsident ernennt die
anderen Beamten der Union. Man hat dabei die Erfahrung gemacht, daß die vom ge-
wählten Präsidenten e r n a n n t e n Beamten an Qualität der Leistung und vor allen
Dingen an Unbestechlichkeit im ganzen hoch über denjenigen Beamten stehen, die aus
den Volkswahlen hervorgehen, weil der Präsident und die hinter ihm stehende Partei
selbstverständlich von den hlern dafür verantwortlich gemacht werden, daß die Be-
amten, die sie ernennen, wenigstens irgendwie auch die Qualitäten haben, die der h-
ler erwartet.
Diese amerikanische Demokratie nun, die auf dem Grundsatze beruht, daß alle vier
Jahre, wenn der Präsident wechselt, auch die über 300 000 Beamten, die er zu ernennen
hat, wechseln und daß alle vier Jahre alle governors jedes einzelnen Staates und mit ih-
nen wiederum viele Tausende von Beamten wechseln diese Demokratie geht ihrem
Ende entgegen. Das war eine Verwaltung durch Dilettanten; denn diese Beamten, die da
von der Partei bestellt wurden, wurden nach dem Prinzipe ernannt: sie haben der Partei
Dienste geleistet und dafür werden sie Beamte. Nach ihrer Fachqualifikation fragte man
wenig, eine Prüfung, ein Examen oder
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 498
etwas derartiges war bis vor einiger Zeit der amerikanischen Demokratie formell unbe-
kannt. Im Gegenteile stand man oft auf dem Standpunkte, daß das Amt gewissermaßen
im Turnus von einem zum anderen herumzugehen tte, damit jeder einmal an die
Krippe gelangen
Ich habe nun darüber mehrfach mit amerikanischen Arbeitern gesprochen. Der echte
amerikanische Yankeearbeiter steht auf einer hohen Stufe der Löhne und der Bildung.
Der Lohn eines amerikanischen Arbeiters ist höher als derjenige manches außerordent-
lichen Professors einer amerikanischen Universität. Diese Leute haben vollständig die
Formen der bürgerlichen Gesellschaft, sie erscheinen in ihrem Zylinder und mit ihrer
Frau, die vielleicht etwas weniger Gewandtheit und Eleganz hat, aber im übrigen genau
so sich benimmt wie eine andere Lady, während die Einwanderer, die aus Europa kom-
men, in die Unterschichten einströmen. Wenn ich also mit einem solchen Arbeiter zu-
sammensaß und ihm sagte: Wie könnt ihr euch eigentlich von diesen Leuten regieren
lassen, die euch da in die Aemter hineingesetzt werden und die selbstverständlich, da sie
der Partei ihr Amt verdanken, da sie von diesem Gehalt, das sie beziehen, soundsoviel
als Steuer an die Partei abführen und dann nach vier Jahren aus dem Amte gehen müs-
sen, ohne eine Pensionsberechtigung zu haben, die also doch selbstverständlich aus dem
Amte so viel Geld machen, als nur möglich ist, wie könnt ihr euch von dieser korrupten
Gesellschaft, die euch notorisch Hunderte von Millionen stiehlt, regieren lassen?, so be-
kam ich gelegentlich die charakteristische Antwort, die ich rtlich in ihrer Drastik
wiedergeben darf: »Das tut nichts, es ist genug Geld für das Stehlen da und es bleibt
noch immer genug übrig zum Verdienen für andere auch für uns. Auf diese »profes-
sionels«, auf diese Beamten speien wir, die verachten wir. Wenn aber eine examinierte
studierte Klasse die Aemter einnimmt wie bei euch drüben – die speit auf uns.«
Das war bei diesen Leuten das Entscheidende. Die Furcht vor dem Entstehen eines
solchen Beamtentums, wie es in Europa tatsächlich besteht, eines ständischen, durch die
Universitäten gebildeten, fachgeschulten Beamtenstandes.
Nun ist selbstverständlich ngst die Zeit gekommen, wo man auch in Amerika nicht
mehr durch Dilettanten verwalten kann. Mit riesiger Geschwindigkeit dehnt sich das
Fachbeamtentum aus. Das Fachexamen wurde eingeführt. Formell zunächst obligato-
risch nur bei gewissen, mehr technischen Beamten, aber es griff rasch weiter um sich.
Es sind jetzt schon ungefähr hunderttausend von den vom Präsidenten zu ernennenden
Beamten, die nur nach abgelegten Examen ernannt werden nnen. Damit ist der erste
und wichtigste Schritt getan zur Umgestaltung der alten Demokratie. Und damit hat
auch die Universität in Amerika eine ganz andere Rolle zu spielen begonnen und hat
sich auch der Geist der Universitäten grundsätzlich gewandelt. Denn, was außerhalb
Amerikas nicht immer gewußt
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 499
wird, die amerikanischen Universitäten und die von ihnen gebildeten Schichten, nicht
die Kriegslieferanten, die es in allen Ländern gibt, sind die Urheber des Kriegs gewesen.
Als ich im Jahre 1904 drüben war, wurde ich von den amerikanischen Studenten nach
nichts so viel gefragt wie darnach: wie eigentlich in Deutschland Mensuren arrangiert
werden, wie man das mache, um zu Schmissen zu kommen. Sie hielten das für eine rit-
terliche Einrichtung: diesen Sport mußten sie auch haben. Das Ernste an der Sache war,
daß auf solche Stimmungen die Literatur namentlich in meinem Fache zugeschnitten
wurde: gerade bei den damals besten Werken fand ich am Schluß folgende Konklusion:
»Es ist ein Glück, daß sich die Weltwirtschaft dahin bewegt, daß der Moment kommt,
wo es rentabel (»a sound business view«) wird, durch den K r i e g einander den
Welthandel abzunehmen; denn dann hört endlich das Zeitalter für uns Amerikaner auf,
wo wir würdelose Dollarverdiener sind, dann wird wieder kriegerischer Geist und Rit-
terlichkeit die Welt beherrschen.« Sie stellten sich den modernen Krieg wohl ähnlich
vor, wie es in der Schlacht von Fontenoy war, wo der Herold der Franzosen den Fein-
den zurief: »Meine Herren Engländer, schießen Sie zuerstSie dachten sich den Krieg
als eine Art ritterlichen Sports, der wieder ständisches Empfinden, vornehmes Empfin-
den anstatt dieser schmutzigen Jagd nach dem Gelde setzen würde. Sie sehen: diese Ka-
ste beurteilt Amerika genau so, wie in Deutschland nach meinen Kenntnissen Amerika
vielfach beurteilt wird und zieht ihrerseits die Konsequenzen. Aus dieser Kaste sind
die entscheidenden Staatsmänner hervorgegangen. Dieser Krieg wird für Amerika die
Konsequenz haben, daß es als ein Staat mit einer großen Armee, einem Offizierskorps
und einer Bureaukratie daraus hervorgeht. Ich habe schon damals amerikanische Offi-
ziere gesprochen, die sehr wenig mit den Zumutungen einverstanden waren, die die
amerikanische Demokratie an sie stellt. Es passierte z. B. einmal, daß ich in der Familie
einer Tochter eines Kollegen war und daß eben das Dienstmädchen weg war – sie hatten
ja drüben bei den Dienstmädchen eine zweistündige Kündigungsfrist. Es kamen gerade
die beiden hne, die Marinekadetten waren, und die Mutter sagte: »Ihr ßt jetzt hi-
nausgehen, Schnee fegen, sonst kostet mich das glich 100 Dollar Strafe.« Die Söhne
sie waren gerade mit deutschen Seeoffizieren zusammen gewesen – meinten: das schik-
ke sich nicht für sie worauf die Mutter sagte: »Wenn ihr es nicht tut, so muß ich es
tun.«
Dieser Krieg wird für Amerika die Entwicklung einer Bureaukratie und damit Avan-
cementschancen für die Universitätskreise zur Folge haben das steckt selbstverständ-
lich auch dahinter kurz, er wird eine Europäisierung Amerikas in mindestens dem
gleichen Tempo zur Folge haben, wie man von einer Amerikanisierung Europas gespro-
chen hat. Die moderne Demokratie wird überall, wo sie Großstaatdemokratie ist, eine
bureaukratisierte Demokratie. Und es muß so sein; denn sie ersetzt die vornehmen ade-
ligen oder anderen Ehrenbeamten durch ein bezahltes Beamtentum. Das geht überall so,
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 500
das geht auch innerhalb der Parteien so. Das ist unentrinnbar, und diese Tatsache ist die
erste, mit der auch der Sozialismus zu rechnen hat: die Notwendigkeit langjähriger fach-
licher Schulung, immer weitergehender fachlicher Spezialisierung und einer Leitung
durch ein derart gebildetes Fachbeamtentum. Anders ist die moderne Wirtschaft nicht
zu leiten.
Insbesondere aber ist diese unentrinnbare universelle Bureaukratisierung dasjenige,
was sich hinter einem der am häufigsten zitierten sozialistischen Schlagworte verbirgt
dem Schlagwort von der »Trennung des Arbeiters vom Arbeitsmittel«. Was heißt das?
Der Arbeiter sei wird uns gesagt »getrennt« von den sachlichen Mitteln, mit denen
er produziere, und auf dieser Trennung beruhe die Lohnsklaverei, in der er sich befinde.
Gedacht ist dabei an die Tatsache: daß im Mittelalter der Arbeiter Eigentümer der tech-
nischen Werkzeuge war, mit denen er produzierte, hrend ein moderner Lohnarbeiter
das selbstverständlich weder ist noch sein kann, mag es nun ein Unternehmer oder der
Staat sein, der das Bergwerk oder die betreffende Fabrik betreibt. Gedacht ist ferner
daran: daß der Handwerker die Rohstoffe, die er verarbeitete, selbst einkaufte, hrend
das heute beim Lohnarbeiter nicht der Fall ist und sein kann, und daß dementsprechend
das Erzeugnis zwar im Mittelalter und jetzt noch überall dort, wo das Handwerk noch
fortbesteht, zur freien Verfügung des einzelnen Handwerkers steht, der es auf dem
Markte verkaufen und zu seinem eigenen Gewinn verwerten kann, hrend es bei der
großen Unternehmung nicht zur Verfügung des Arbeiters, sondern desjenigen steht, der
das Eigentum an diesen Betriebsmitteln hat, wiederum: mag das der Staat sein oder ein
privater Unternehmer. Das ist wahr, aber eine Tatsache, die keineswegs nur dem wirt-
schaftlichen Produktionsprozeß eigentümlich ist. Es ist dasselbe, was wir z. B. auch in-
nerhalb der Universit erleben. Der alte Dozent und Universitätsprofessor arbeiteten
mit der Bibliothek und den technischen Mitteln, die sie selbst sich anschafften und ma-
chen ließen, und produzierten damit, z. B. die Chemiker, diejenigen Dinge, die zum
wissenschaftlichen Betriebe erforderlich waren. Die Masse der heutigen Arbeitskräfte
innerhalb des modernen Universitätsbetriebes, insbesondere die Assistenten der großen
Institute, sind in dieser Hinsicht dagegen genau in der gleichen Lage wie irgendein Ar-
beiter. Sie nnen jederzeit gekündigt werden. Sie haben in den umen des Institutes
kein anderes Recht als der Arbeiter in den Räumen der Fabrik. Sie müssen sich gerade-
so wie diese nach dem bestehenden Reglement halten. Sie haben kein Eigentum an den
Stoffen oder Apparaten, Maschinen usw., die in einem chemischen oder physikalischen
Institut, einer Anatomie oder Klinik gebraucht werden; diese sind vielmehr Staatseigen-
tum, werden aber von dem Leiter des Institutes bewirtschaftet, der dafür die Gebühren
bezieht, hrend der Assistent ein Einkommen erhält, das nicht wesentlich anders be-
messen ist als das eines gelernten Arbeiters. Ganz das gleiche finden wir auf dem Ge-
biete des Heer-
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 501
wesens. Der Ritter der Vergangenheit war Eigentümer seines Pferdes und seiner Rü-
stung. Er hatte sich auszurüsten und zu verpflegen. Die damalige Heeresverfassung be-
ruhte auf dem Prinzip der Selbstequipierung. Sowohl in den antiken Städten als auch in
den Ritterheeren des Mittelalters mußte man seinen Panzer, seine Lanze und sein Pferd
selbst stellen und Proviant mitbringen. Das moderne Heer ist in dem Augenblick ent-
standen, wo die fürstliche Menage einsetzte, wo also der Soldat und der Offizier (der ja
etwas anderes als ein anderer Beamter ist, der aber in diesem Sinne dem Beamten
durchaus entspricht) nicht mehr Eigentümer der Kriegsbetriebsmittel waren. Darauf be-
ruht ja der Zusammenhalt des modernen Heeres. Deshalb war es ja den russischen Sol-
daten so lange nicht möglich, aus den Schützengräben zu entkommen, weil dieser Appa-
rat des Offizierskorps, der Intendantur- und der sonstigen Beamten vorhanden war und
jedermann im Heere wußte, daß seine ganze Existenz, auch seine Ernährung, davon ab-
hängig war, daß dieser Apparat funktionierte. Sie alle waren »getrennt« von den
Kriegsbetriebsmitteln, ganz ebenso, wie der Arbeiter es von den Arbeitsmitteln ist.
Ebenso wie ein Ritter stand ein Beamter der Lehenszeit, ein Vasall also, der mit der
Verwaltungs- und Gerichtshoheit belehnt war. Er trug die Kosten der Verwaltung und
Gerichtsbarkeit aus eigener Tasche und bezog dafür die Gebühren. Er war also im Be-
sitze der Verwaltungsbetriebsmittel. Der moderne Staat entsteht, indem der Fürst das in
die eigene Menage nimmt, besoldete Beamte anstellt und damit die »Trennung« der Be-
amten von den Betriebsmitteln vollzieht. Ueberall also dasselbe: die Betriebsmittel sind
innerhalb der Fabrik, der Staatsverwaltung, des Heeres und der Universitätsinstitute mit-
tels eines bureaukratisch gegliederten Menschenapparates konzentriert in den Händen
dessen, der diesen Menschenapparat beherrscht. Das ist teils rein technisch, durch die
Art der modernen Betriebsmittel: Maschinen, Geschütze usw. bedingt, teils aber einfach
durch die größere Leistungsfähigkeit dieser Art des Zusammenwirkens von Menschen:
durch die Entwicklung der »Disziplin«, Heeres-, Amts-, Werkstatt- und Betriebsdiszi-
plin. Jedenfalls aber ist es ein schwerer Irrtum, wenn diese Trennung des Arbeiters vom
Betriebsmittel für etwas nur der Wirtschaft und vollends der p r i v a t e n Wirtschaft
Eigentümliches gehalten wird. An dem Grundtatbestand ändert sich ja gar nichts, wenn
die Person des Herrn jenes Apparates geändert wird, wenn etwa ein staatlicher Präsident
oder Minister statt eines privaten Fabrikanten über ihn verfügt. Die »Trennung« vom
Betriebsmittel besteht in jedem Fall weiter. Solange es Bergwerke, Hochöfen, Eisen-
bahnen, Fabriken und Maschinen gibt, werden sie nie in dem Sinne Eigentum eines ein-
zelnen oder mehrerer einzelner Arbeiter sein, wie die Betriebsmittel eines Handwerks
im Mittelalter Eigentum eines einzelnen Zunftmeisters oder einer örtlichen Werkgenos-
senschaft oder Zunft waren. Das ist durch die Natur der heutigen Technik ausgeschlos-
sen. –
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 502
Was heißt nun gegenüber dieser Tatsache S o z i a l i s m u s ? Das Wort ist, wie
schon erwähnt, vieldeutig. Aber der Gegensatz zu Sozialismus, an den man gewöhnlich
denkt, ist: privatwirtschaftliche Ordnung, d. h. ein Zustand, bei welchem die wirtschaft-
liche Bedarfsversorgung in den Händen privater Unternehmer liegt, sich also so voll-
zieht, daß diese Unternehmer sich durch Kaufvertge und Lohnverträge die sachlichen
Betriebsmittel, Beamten und Arbeitskräfte beschaffen und daß sie dann auf eigene öko-
nomische Gefahr und in Erwartung eigenen Gewinns die Güter herstellen lassen und sie
auf dem Markte verkaufen.
Diese Privatwirtschaftsordnung hat die sozialistische Theorie mit dem Schlagworte
von der »Anarchie der Produktion« belegt, weil sie es darauf ankommen läßt, ob das
Eigeninteresse der einzelnen Unternehmer an dem Absatze ihrer Produkte: das Interesse
daran, Gewinn zu machen, so funktioniert, daß dadurch eine Versorgung derjenigen, die
dieser Güter bedürfen, gewährleistet ist.
Die Frage nun, was innerhalb einer Gesellschaft unternehmungsmäßig, also privat-
wirtschaftlich und was nicht privatwirtschaftlich, sondern in diesem weitesten Sinne
des Wortes sozialistisch, das heißt: planvoll organisiert, an Bedarf gedeckt wird, hat
geschichtlich gewechselt.
Im Mittelalter haben beispielsweise Republiken wie Genua ihre großen Kolonialkrie-
ge auf Zypern durch Aktienkommanditgesellschaften, die sogenannten Maonen, führen
lassen. Die schossen das nötige Geld zusammen, mieteten die entsprechenden ldner,
eroberten das Land, bekamen den Schutz der Republik und beuteten selbstverständlich
das Land für ihre Zwecke als Plantagenland oder Steuerobjekt aus. Aehnlich hat die
Ostindische Kompagnie Indien für England erobert und für sich ausgebeutet. Der Con-
dottiere der spätitalienischen Renaissancezeit gehörte in die gleiche Kategorie. Er warb
ebenso wie noch der letzte von ihnen: Wallenstein sein Heer auf seinen Namen und aus
seinen Mitteln an, in seine Taschen floß auch ein Anteil der Beute, die das Heer machte,
und natürlich pflegte er sich auszubedingen, daß von dem Fürsten oder nig oder Kai-
ser an ihn eine bestimmte Summe als Entgelt für seine Leistung und r Deckung seiner
Kosten abgeführt werde. In etwas weniger selbständiger Weise war auch noch im 18.
Jahrhundert der Oberst ein Unternehmer, der seinerseits die Rekruten anzuwerben und
zu kleiden hatte, zwar teilweise auf die Magazine des rsten angewiesen war, immer
aber weitgehend auf eigene Gefahr und zu eigenem Gewinn wirtschaftete. Es galt also
der privatwirtschaftliche Betrieb der Kriegsführung als ganz normal, was uns heute un-
geheuerlich dünken würde.
Auf der andern Seite würde es keine mittelalterliche Stadt oder Zunft jemals für
denkbar gehalten haben, daß man die Getreideversorgung der Stadt oder die Versorgung
der Zunft mit den zu importierenden unentbehrlichen Rohstoffen für die Arbeit ihrer
Meister einfach dem freien Handel überlassen könnte. Sondern von
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 503
der Antike angefangen, im großen Maßstabe in Rom, hatte durch das ganze Mittelalter
hindurch die Stadt dar zu sorgen, nicht der freie Handel, der nur die Ergänzung war.
Ungefähr so wie jetzt in den Zeiten der Kriegswirtschaft ein Zusammenarbeiten, eine
»Durchstaatlichung«, wie das jetzt gern genannt wird, breiter Zweige der Wirtschaft
vorhanden ist.
Das Charakteristische unserer heutigen Situation ist nun, daß die Privatwirtschaft,
verbunden mit privater bureaukratischer Organisation und also mit Trennung des Arbei-
ters von den Betriebsmitteln, ein Gebiet beherrscht, welches diese beiden Züge gemein-
sam noch niemals in diesem Umfange in der Weltgeschichte getragen hat: das ist die
g e w e r b l i c h e Produktion, und daß dieser Prozeß zusammenfällt mit der Schaf-
fung der maschinellen Produktion innerhalb der Fabrik, also mit einer örtlichen Zu-
sammenhäufung von Arbeitskräften innerhalb einer und derselben umlichkeit, Ge-
bundenheit an die Maschine und gemeinsamer Arbeits d i s z i p l i n innerhalb des
Maschinensaales oder Bergwerkes. Die Disziplin erst gibt der heutigen Art der »Tren-
nung« des Arbeiters von den Arbeitsmitteln ihre spezifische Note.
Aus dieser Lebenslage, aus der Fabriksdisziplin heraus, ist der moderne Sozialismus
geboren. Ueberall, zu allen Zeiten und in allen Ländern der Erde hat es Sozialismus von
den verschiedensten Arten gegeben. Der moderne Sozialismus in seiner Eigenart ist nur
auf diesem Boden möglich.
Diese Unterworfenheit unter die Arbeitsdisziplin ist für die gewerblichen Arbeiter
deshalb so außerordentlich fühlbar, weil im Gegensatz etwa zu einer Sklavenplantage
oder einem Fronhof der moderne gewerbliche Betrieb auf einem außerordentlich schar-
fen A u s l e s e prozeß ruht. Ein heutiger Fabrikant stellt nicht jeden beliebigen Arbei-
ter, nur weil er etwa zu einem billigen Lohne arbeiten wollte, ein. Sondern er stellt den
Mann im Akkordlohn an die Maschine und sagt: »So, jetzt arbeite, ich werde sehen,
wieviel du verdienst«; und wenn der Mann sich nicht imstande zeigt, einen bestimmten
Mindestlohn zu verdienen, so wird ihm gesagt: »Es tut uns leid, Sie sind für diesen Be-
ruf nicht begabt, wir nnen Sie nicht brauchen.« Er wird ausgeschieden, weil die Ma-
schine nicht voll ausgetzt wird, wenn an ihr nicht ein Mann steht, der sie voll auszu-
nützen versteht. So oder ähnlich verläuft das überall. Jeder moderne gewerbliche Be-
trieb im Gegensatze zu jedem Sklavenbetrieb der Antike, wo der Herr an die Sklaven
gebunden war, die er hatte, wenn einer von ihnen starb, so war das ein Kapitalsverlust
für ihn beruht auf diesem Prinzip der Auslese, und diese Auslese wird auf der andern
Seite auf das außerordentlichste verschärft durch die Konkurrenz der Unternehmer un-
tereinander, welche den einzelnen Unternehmer an bestimmte Lohnmaxima bindet: der
Zwangsläufigkeit der Disziplin entspricht die Zwangsläufigkeit des Verdienstes der Ar-
beiter.
Wenn heute der Arbeiter zu dem Unternehmer kommt und sagt:
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 504
»Wir nnen mit diesen Löhnen nicht existieren und du nntest uns mehr zahlen«, so
ist der Unternehmer in neun von zehn Fällen ich meine in Friedenszeiten und in den
Branchen, in denen wirklich scharf konkurriert wird in der Lage, den Arbeitern aus
seinen Büchern nachzuweisen: das geht nicht; der Konkurrent zahlt die und die hne;
zahle ich euch auf den Kopf nur so und so viel mehr, so verschwindet aus meinen Bü-
chern jeder Gewinn, den ich den Aktionären zahlen könnte, ich könnte den Betrieb nicht
fortfahren, denn ich bekäme keinen Kredit von der Bank. Damit sagt er recht oft nur die
nackte Wahrheit. Dazu tritt schließlich noch, daß unter dem Drucke der Konkurrenz die
Rentabilität davon abhängt, daß möglichst viel Menschenarbeit und möglichst solche
der höchstgelohnten, für den Betrieb teuersten Art durch neue, arbeitsparende Maschi-
nen ausgeschaltet, also »gelernte« Arbeiter durch »ungelernte« oder durch unmittelbar
an der Maschine »angelernte« Arbeiter ersetzt werden. Das ist unvermeidlich und voll-
zieht sich fortwährend.
Das alles ist nun das, was der Sozialismus als »Herrschaft der Dinge über den Men-
schen«, das soll heißen: der Mittel über den Zweck (die Bedarfsdeckung) aufft. Er
sieht, daß, während man in der Vergangenheit Einzelpersonen hatte, die man für das
Schicksal des Klienten, Hörigen oder Sklaven verantwortlich machen konnte, man das
heute nicht kann. Deshalb wendet er sich nicht gegen Personen, sondern gegen die Ord-
nung der Produktion als solche. Ein jeder wissenschaftlich geschulte Sozialist wird es
bedingungslos ablehnen, einen einzelnen Unternehmer für das Lebensschicksal, welches
dem Arbeiter bereitet wird, verantwortlich zu machen, und wird sagen: das liegt an dem
System, an der Zwangslage, in die alle Beteiligten, der Unternehmer wie der Arbeiter,
sich gestellt finden. –
Was re denn nun aber, positiv gewendet, gegenüber diesem System der Sozialis-
mus? Im weitesten Sinne des Wortes das, was man auch mit »Gemeinwirtschaft« zu be-
zeichnen pflegt. Also eine Wirtschaft, bei der, erstens, der Profit fehlte: der Zustand al-
so, daß die privaten Unternehmer auf ihre eigene Rechnung und Gefahr die Produktion
leiten. Statt dessen läge sie in der Hand von Beamten eines Volksverbandes, der die Lei-
tung übernähme, nach Gesichtspunkten, von denen gleich die Rede sein wird. Zweitens
fehlte infolgedessen die sogenannte Anarchie der Produktion, d. h. die Konkurrenz der
Unternehmer untereinander. Es ist nun jetzt, namentlich in Deutschland, sehr viel davon
die Rede, daß man eigentlich infolge des Krieges schon mitten in der Entwicklung einer
solchen »Gemeinwirtschaft« stecke. Angesichts dessen sei nun in Kürze darauf hinge-
wiesen, daß eine organisierte Wirtschaft eines Einzelvolkes in der Art ihrer Organisati-
on zwei prinzipiell verschiedene Prinzipien zugrundelegen könnte. Erstens dasjenige,
was man heute als »Durchstaatlichung« bezeichnet und was allen Herren, die in Kriegs-
betrieben arbeiten, zweifellos bekannt ist. Sie beruht auf einem Zusammenwirken der
zusammengeschlossenen Unternehmerschaft einer Branche mit staatlichen, sei es nun
militärischen oder zivilen Beamten. Roh-
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 505
stoffbeschaffung, Kreditbeschaffung, Preise, Kundschaft nnen dabei weitgehend
planvoll reguliert werden, es kann Beteiligung des Staates am Gewinn und an der Be-
schlußfassung dieser Syndikate stattfinden. Man glaubt nun: der Unternehmer werde
dann von diesen Beamten beaufsichtigt und die Produktion vom Staate beherrscht. Man
habe also damit schon den »wahren«, »eigentlichen« Sozialismus oder sei auf dem We-
ge zu ihm. In Deutschland besteht aber gegen diese Theorie ein weitgehender Skepti-
zismus. Ich will es dahingestellt sein lassen, wie es hrend des Krieges ist. Jedermann
aber, der rechnen kann, weiß, daß im Frieden nicht so weitergewirtschaftet werden
könnte wie jetzt, wenn wir nicht dem Ruin entgegengehen sollen, und daß im Frieden
eine solche Durchstaatlichung, d. h. eine Zwangskartellierung der Unternehmer jeder
Branche und die Teilnahme des Staates an diesen Kartellen mit einem Gewinnanteil ge-
gen Einräumung eines weitgehenden Kontrollrechtes in Wirklichkeit nicht etwa die Be-
herrschung der Industrie durch den Staat, sondern die Beherrschung des Staates durch
die Industrie bedeuten würde. Und zwar in einer sehr unangenehmen Art. Innerhalb der
Syndikate säßen die Staatsvertreter mit den Fabrikherren an einem Tisch, die ihnen an
Branchenkunde, kaufmännischer Schulung und Eigeninteressiertheit weit überlegen wä-
ren. Innerhalb des Parlamentes aber säßen die Arbeitervertreter und würden das Verlan-
gen stellen, daß jene Staatsvertreter für hohe Löhne einerseits, für billige Preise anderer-
seits sorgen ßten: die Macht, es zu tun, – würden sie sagen hätten sie ja. Anderseits
wieder: um seine Finanzen nicht zu ruinieren, re der Staat, der am Gewinn und Ver-
lust eines solchen Syndikats beteiligt wäre, natürlich interessiert an hohen Preisen und
niedrigen Löhnen. Und die privaten Mitglieder der Syndikate schließlich würden von
ihm erwarten: daß er ihnen die Rentabilität ihrer Betriebe garantiert. In den Augen der
Arbeiterschaft würde ein solcher Staat also als ein Klassenstaat im eigentlichsten Sinn
des Wortes erscheinen und ich zweifle, ob das politisch wünschenswert ist; noch mehr
aber zweifle ich, ob man klug te, jetzt den Arbeitern diesen Zustand als den eigentlich
»wahreSozialismus hinzustellen, was ja gewiß verführerisch nahezuliegen scheint.
Denn die Arbeiter würden sehr bald die Erfahrung machen: das Schicksal des Arbeiters,
der in einem Bergwerk arbeitet, ändert sich in gar keiner Weise, ob nun dieses Berg-
werk ein privates oder ein staatliches ist. In den Saarkohlengruben ist der Lebensgang
eines Arbeiters ganz derselbe wie auf einer privaten Zeche: wenn die Zeche schlecht ge-
leitet ist, also sich schlecht rentiert, dann geht es auch den Leuten schlecht. Aber der
Unterschied ist, daß gegen den Staat kein Streik möglich ist, daß also die Abhängigkeit
des Arbeiters bei dieser Art von Staatssozialismus ganz wesentlich gesteigert ist. Das ist
einer der Gründe, warum die Sozialdemokratie dieser »Durchstaatlichung« der Wirt-
schaft, dieser Form des Sozialismus im allgemeinen ablehnend gegenübersteht. Sie ist
eine Kartellierungsgemeinschaft. Mgebend ist nach wie vor der Profit; die Frage:
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 506
was verdienen die einzelnen Unternehmer, die zu dem Kartell zusammengeschlossen
sind und deren einer nun der Staatsfiskus geworden ist, bleibt bestimmend für die Rich-
tung, in der die Wirtschaft betrieben wird. Und das Peinliche wäre: hrend jetzt das
staatlich-politische und privatwirtschaftliche Beamtentum (der Kartelle, Banken, Rie-
senbetriebe) als getrennte Körper nebeneinander stehen und man daher durch die politi-
sche Gewalt die wirtschaftliche immerhin im Zaum halten kann, wären dann beide Be-
amtenschaften ein einziger Körper mit solidarischen Interessen und gar nicht mehr zu
kontrollieren. Jedenfalls aber: der Profit als Wegweiser der Produktion wäre nicht besei-
tigt. Der Staat aber als solcher würde nun den Haß der Arbeiter, der heut den Unter-
nehmern gilt, mit zu tragen haben.
Den prinzipiellen Gegensatz dazu könnte in der letztgenannten Hinsicht nur etwa eine
Konsumentenorganisation bilden, welche fragte: welche B e d ü r f n i s s e sollen in-
nerhalb dieses staatlichen Wirtschaftsgebietes gedeckt werden? Sie wissen wohl, d
zahlreiche Konsumvereine, namentlich in Belgien, dazu übergegangen sind, eigene Fa-
briken zu gründen. chte man sich das verallgemeinert und in die Hand einer staatli-
chen Organisation gelegt, so wäre das eine vollsndig und grundsätzlich andere Art: ein
Konsumentensozialismus von dem man heute nur noch nicht im geringsten weiß, wo
man die Leiter hernehmen sollte, und von dem es ganz im Dunklen liegt, wo die Inter-
essenten sein sollten, um ihn jemals ins Leben zu rufen. Denn die Konsumenten als sol-
che sind nach allen Erfahrungen nur sehr beschränkt organisationsfähig. Leute, die ein
bestimmtes Erwerbsinteresse haben, sind sehr leicht zusammenzuschließen, wenn man
ihnen zeigt, daß sie durch diesen Zusammenschluß einen Profit erzielen oder die Renta-
bilität garantiert bekommen; darauf beruht die glichkeit, einen solchen Unterneh-
mersozialismus, wie ihn die »Durchstaatlichung« darstellt, zu schaffen. Es ist dagegen
außerordentlich schwer, Leute, die weiter nichts miteinander gemeinsam haben, als daß
sie eben einkaufen oder sich versorgen wollen, zusammenzuschlien, weil die ganze
Situation des Einkäufers der Sozialisierung im Wege steht; hat doch selbst die Aushun-
gerung jetzt, in Deutschland wenigstens, die Hausfrauen der Masse der Bevölkerung
nicht oder nur sehr schwer dazu vermocht, Kriegsküchen-Essen, welches jeder vorzüg-
lich zubereitet und schmackhaft fand, an Stelle ihrer dilettantischen Einzelkocherei an-
zunehmen, obwohl es ungleich billiger war.
Dies vorausgeschickt, komme ich schlilich zu der Art von Sozialismus, mit der
heute die sozialistischen Massenparteien, so wie sie sind, also die sozialdemokratischen
Parteien, programmatisch verbunden sind. Das grundlegende Dokument dieses Sozia-
lismus ist das Kommunistische Manifest vom Jahre 1847, publiziert und verbreitet im
Januar 1848, von Karl Marx und Friedrich Engels. Dieses Dokument ist in seiner Art, so
sehr wir es in entscheidenden Thesen ablehnen (wenigstens tue i c h das) eine wissen-
schaftliche Leistung
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 507
ersten Ranges. Das läßt sich nicht leugnen, das darf auch nicht geleugnet werden, weil
es einem niemand glaubt und weil es mit gutem Gewissen nicht geleugnet werden kann.
Es ist selbst in den Thesen, die wir heute ablehnen, ein geistvoller Irrtum, der politisch
sehr weitgehende und vielleicht nicht immer angenehme Folgen gehabt hat, der aber für
die Wissenschaft sehr befruchtende Folgen gebracht hat, befruchtendere Folgen als oft
eine geistlose Korrektheit. Vom Kommunistischen Manifest ist nun von vornherein ei-
nes zu sagen: es enthält sich, wenigstens der Absicht, nicht immer der Ausführung nach,
des Moralisierens. Es llt den Urhebern des Kommunistischen Manifestes, wenigstens
ihrer Behauptung nach in Wirklichkeit sind es Menschen gewesen, die sehr leiden-
schaftlich waren und die sich keineswegs immer daran gehalten haben gar nicht ein,
über die Schlechtigkeit und Niedertracht der Welt zu zetern. Sie sind auch nicht der
Meinung, daß es ihre Aufgabe sei, zu sagen: Das und das ist in der Welt so eingerichtet,
es ßte anders, und zwar so und so eingerichtet sein. Sondern das Kommunistische
Manifest ist ein prophetisches Dokument; es p r o p h e z e i t den Untergang der pri-
vatwirtschaftlichen, wie man zu sagen pflegt: der kapitalistischen Organisation der Ge-
sellschaft und prophezeit den Ersatz dieser Gesellschaft zunächst als Uebergangssta-
dium durch eine Diktatur des Proletariats. Hinter diesem Uebergangszustand aber steht
dann die eigentliche Endhoffnung: das Proletariat k a n n sich selbst aus der Knecht-
schaft nicht befreien, ohne a l l e r Herrschaft des Menschen über den Menschen ein
Ende zu machen. Das ist die eigentliche Prophezeiung, der Kernsatz des Manifestes,
ohne den es nie geschrieben wäre: das Proletariat, die Masse der Arbeiterschaft wird
sich durch ihre Führer zunächst der politischen Macht bemächtigen. Aber das ist ein
Uebergangszustand, der zu einer »Assoziation der Individuen«, wie es heißt, überführen
wird: diese ist also der Endzustand.
Wie diese Assoziation aussehen wird, darüber schweigt das Kommunistische Mani-
fest, darüber schweigen mtliche Programme mtlicher sozialistischer Parteien. Wir
erhalten die Auskunft, daß man das nicht wissen könne. Man nne nur sagen: diese
jetzige Gesellschaft ist zum Untergange verurteilt, sie wird untergehen kraft Naturgeset-
zes, sie wird abgelöst werden, zunächst durch die Diktatur des Proletariats. Aber das,
was dann komme, darüber lasse sich noch nichts voraussagen, außer: Fehlen der Herr-
schaft von Mensch über Mensch.
Welche Gründe werden nun für den naturgesetzlich unvermeidlichen Untergang der
gegenwärtigen Gesellschaft angeführt? Denn streng naturgesetzlich vollzieht sie sich:
das war der zweite Kernsatz dieser pathetischen Prophetie, welcher ihr den jubelnden
Glauben der Massen zuführte. Engels gebraucht einmal das Bild: daß ebenso, wie sei-
nerzeit der Planet Erde in die Sonne stürzen werde, ebenso diese kapitalistische Gesell-
schaft zum Untergange verurteilt sei. Welche Gründe werden dafür angeführt?
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 508
Der erste ist: Eine Gesellschaftsklasse wie das rgertum, worunter in erster Linie
immer die Unternehmer und alle diejenigen, die mit ihnen direkt oder indirekt in Inter-
essengemeinschaft leben, verstanden werden, eine solche herrschende Klasse kann nur
dann ihre Herrschaft behaupten, wenn sie der unterworfenen Klasse das sind die
Lohnarbeiter wenigstens die nackte Existenz garantieren kann. Das war bei der Skla-
verei der Fall, meinen die Verfasser, das war so auch bei der Fronhofverfassung usw.
Da hatten die Leute wenigstens die nackte Existenz gesichert und deshalb konnte sich
die Herrschaft halten. Das kann aber die moderne Bourgeoisie nicht leisten. Und zwar
kann sie es deshalb nicht, weil die Konkurrenz der Unternehmer sie zwingt, sich immer
weiter zu unterbieten und immer wieder durch Schaffung neuer Maschinen Arbeiter
brotlos auf das Pflaster zu werfen. Sie müssen eine breite Schicht von Arbeitslosen – die
sogenannte »industrielle Reservearmee« zur Verfügung haben, aus der sie die geeig-
neten Arbeiter in jedem Augenblicke in beliebig großer Zahl für ihre Betriebe auslesen
können, und eben diese Schicht schafft die zunehmende maschinelle Automatisierung.
Die Folge ist aber so glaubte noch das Kommunistische Manifest daß eine stetig
wachsende Klasse von ständig Arbeitslosen, von »paupers« erscheint und das Exi-
stenzminimum unterbietet, so daß die Proletarierschicht nicht einmal die nackte Le-
bensexistenz von dieser Gesellschaftsordnung gewährleistet bekommt. Wo das aber der
Fall ist, wird eine Gesellschaft unhaltbar, d. h. irgendwann bricht sie im Wege einer Re-
volution zusammen.
Diese sogenannte Verelendungstheorie ist in d i e s e r Form heute ausdrücklich
und ausnahmslos von allen Schichten der Sozialdemokratie als unrichtig aufgegeben. Es
ist bei der Jubiläumsausgabe des Kommunistischen Manifests von ihrem Herausgeber
Karl Kautsky ausdrücklich zugestanden worden, daß die Entwicklung einen anderen
Weg und nicht diesen gegangen sei. Die These wird in anderer, umgedeuteter Form auf-
rechterhalten, die, beiläufig bemerkt, ebenfalls nicht unbestritten ist, jedenfalls aber den
früheren pathetischen Charakter abgestreift hat. – Aber wie dem sei, worauf beruhen die
Chancen des G e l i n g e n s der Revolution? Könnte sie nicht zu stets neuem Mißer-
folg verurteilt sein?
Damit kommen wir zu dem zweiten Argument: Die Konkurrenz der Unternehmer un-
tereinander bedeutet den Sieg des durch Kapital und durch kaufmännische Fähigkeiten,
vor allem aber: durch Kapital Stärkeren. Das bedeutet eine immer kleiner werdende
Zahl von Unternehmern, da die schwächeren eliminiert werden. Je kleiner diese Zahl
der Unternehmer wird, desto größer wird, relativ und absolut, die Zahl des Proletariates.
Irgendwann aber ist die Zahl dieser Unternehmer so zusammengeschrumpft, daß es für
sie unmöglich ist, ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten, und dann wird man diese »Ex-
propriateure« vielleicht ganz friedlich und in aller Höflichkeit sagen wir: gegen eine
Leibrente expropriieren können, denn sie werden sehen, daß der Boden unter ihren
ßen
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 509
so hegeworden ist, daß sie so wenige geworden sind, daß sie ihre Herrschaft nicht
behaupten können.
Diese These wird auch heute, wenn schon in modifizierter Form, aufrechterhalten. Es
hat sich aber gezeigt, daß sie, wenigstens heute, in keiner Form a l l g e m e i n rich-
tig ist. Erstens ist sie nicht richtig für die Landwirtschaft, wo im Gegenteil sehr vielfach
eine srkere Zunahme des Bauerntums eingetreten ist. Und ferner: nicht unrichtig, aber
in ihren Konsequenzen anders als erwartet, erweist sie sich für breite Zweige des Ge-
werbes, wo es sich zeigt, daß das einfache Zusammenschrumpfen der Unternehmer auf
eine kleinere Zahl den Vorgang nicht erschöpft. Die Eliminierung der Kapitalschwa-
chen vollzieht sich in der Form ihrer Unterwerfung unter Finanzierungskapital, Kartell-
oder Trustorganisationen. Begleiterscheinung dieser sehr verwickelten Vorgänge ist
aber zunächst die rapide Zunahme der »Angestellte, also der privatwirtschaftlichen
B u r e a u k r a t i e – sie nimmt statistisch vielfach schneller zu als die Arbeiter – de-
ren Interessen durchaus nicht eindeutig nach der Seite einer proletarischen Diktatur hin
liegen. Dann aber: die Schaffung höchst mannigfacher Interessenbeteiligungen von so
komplizierter Art, daß man zur Zeit durchaus nicht behaupten kann: die Zahl und Macht
der direkten und indirekten Interessenten der bürgerlichen Ordnung sei im Abnehmen
begriffen. Jedenfalls stehen die Dinge vorerst nicht so, daß man bestimmt versichern
könnte: künftig wird nur ein halbes Dutzend oder ein paar Hundert oder Tausend von
Kapitalsmagnaten isoliert Millionen und Abermillionen von Proletariern gegenüberste-
hen.
Das Dritte endlich war die Rechnung auf die Wirkungen der Krisen. Weil die Unter-
nehmer miteinander konkurrieren und nun kommt eine wichtige, aber verwickelte
Auseinandersetzung in den klassischen sozialistischen Schriften, die ich Ihnen hier er-
sparen muß so sei es unvermeidlich, daß immer wieder Zeiten der Ueberproduktion
eintreten, die abgelöst werden von Bankerotten, Zusammenbrüchen und sogenannten
»Depressionen«. Diese Zeiten folgen das hat Marx im Kommunistischen Manifest nur
angedeutet, später aber ist es zu einer eingehend ausgebauten Theorie geworden in fe-
ster Periodizität gesetzmäßig aufeinander. Tatsächlich hat hrend fast eines Jahrhun-
derts eine annähernde Periodizität solcher Krisen bestanden. Woher das kam, darüber
sind selbst die ersten Gelehrten unseres Faches noch nicht vollsndig einig, deshalb
wäre es ganz ausgeschlossen, das jetzt hier zu besprechen.
Auf diese Krisen baute nun der klassische Sozialismus seine Hoffnung. Vor allem
darauf, daß diese Krisen naturgesetzlich an Intensit und an zerstörender, beängstigen-
de Revolutionsstimmung hervorbringender Gewalt zunehmen, sich ufen und vermeh-
ren und irgendwann eine solche Stimmung erzeugen würden, daß die Aufrechterhaltung
dieser Wirtschaftsordnung selbst innerhalb der nicht proletarischen Kreise nicht mehr
versucht werden würde.
Diese Hoffnung ist heute im wesentlichen aufgegeben. Denn die
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 510
Krisengefahr ist zwar durchaus nicht geschwunden, hat sich aber an relativer Bedeutung
vermindert, seit die Unternehmer von rücksichtsloser Konkurrenz zur Kartellierung ge-
schritten sind, seit sie also dazu übergegangen sind, durch Regulierung der Preise und
des Absatzes die Konkurrenz weitgehend auszuschalten und seitdem ferner die großen
Banken, z. B. auch die deutsche Reichsbank, dazu geschritten sind, durch Regulierung
der Kreditgewährung dafür zu sorgen, daß auch die Ueberspekulationsperioden in we-
sentlich schwächerem Maße als früher eintreten. Also auch diese dritte Hoffnung des
Kommunistischen Manifestes und seiner Nachfolger hat sich man kann nicht sagen:
»nicht bewährt«, wohl aber in ihren Voraussetzungen ziemlich stark verschoben.
Die sehr pathetischen Hoffnungen, die im Kommunistischen Manifest auf einen Zu-
sammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft gesetzt waren, sind daher durch sehr viel
nüchternere Erwartungen ersetzt worden. Dahin gehört erstens die Theorie, daß der So-
zialismus ganz von selbst im Wege der Evolution komme, weil sich die Produktion der
Wirtschaft zunehmend »sozialisiere«. Darunter wird dann verstanden: daß an Stelle der
Person des einzelnen Unternehmers die Aktiengesellschaft mit den angestellten Leitern
tritt, daß Staatsbetriebe, Kommunalbetriebe, Betriebe von Zweckverbänden errichtet
werden, die nicht mehr auf dem Risiko und Profit eines einzelnen oder überhaupt eines
privaten Unternehmers ruhen wie früher. Das ist zutreffend, wenn schon hinzugegt
werden muß, daß hinter der Aktiengesellschaft sich sehr oft ein Finanzmagnat oder
mehrere verbergen, die die Generalversammlung beherrschen: jeder Aktienbesitzer
weiß, daß er kurz vor der Generalversammlung eine Zuschrift seiner Bank bekommt,
worin sie ihn bittet, ihr das Stimmrecht dieser Aktie zu übertragen, wenn er nicht selbst
kommen und abstimmen will, was für ihn gegenüber einem Kapital von Millionen von
Kronen ja gar keinen Zweck hat. Vor allem aber bedeutet diese Art der Sozialisierung
einerseits eine Vermehrung des B e a m t e n t u m s , der spezialistisch kaufmännisch
oder technisch vorgebildeten Angestellten, andererseits aber eine Vermehrung des
R e n t n e r tums, der Schicht also, die nur Dividenden und Zinsen bezieht, nicht; wie
der Unternehmer, geistige Arbeit dafür leistet, die aber mit all ihren Einkommensinter-
essen an der kapitalistischen Ordnung engagiert ist. In den öffentlichen und Zweckver-
bandsbetrieben aber herrscht erst recht und ganz ausschlilich der B e a m t e , nicht
der Arbeiter, der hier ja mit einem Streik schwerer etwas ausrichtet als gegen Privatun-
ternehmer. Die Diktatur des Beamten, nicht die des Arbeiters, ist es, die vorläufig je-
denfalls – im Vormarsch begriffen ist.
Das Zweite ist die Hoffnung, daß die Maschine, indem sie das alte Spezialistentum,
den gelernten Handwerker und jene hochgelernten Arbeiter, wie sie die alten englischen
Gewerkschaften, die Trade Unions, füllten, durch ungelernte Arbeiter ersetze und also
jeden Beliebigen fähig mache, an jeder Maschine zu arbeiten, eine
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 511
solche Einheit der Arbeiterklasse herbeiführen werde, daß die alte Spaltung in verschie-
dene Berufe aufhören, das Bewußtsein dieser Einheit übermächtig werden und dem
Kampf gegen die Klasse der Besitzenden zugutekommen würde. Darauf ist die Antwort
nicht ganz einheitlich. Es ist richtig, daß die Maschine in sehr weitgehendem Me ge-
rade die hochbezahlten und gelernten Arbeiter zu ersetzen trachtet, denn selbstverständ-
lich sucht jede Industrie gerade solche Maschinen einzuführen, welche die am schwer-
sten zu beschaffenden Arbeiter ersetzt. Die am häufigsten zunehmende Schicht inner-
halb der heutigen Industrie sind die sogenannten »angelernten« Arbeiter, also nicht die
im alten Wege durch besonderen Lehrgang eingeschulten gelernten Arbeiter, sondern
diejenigen Arbeiter, die unmittelbar an die Maschine gestellt und dort angelernt werden.
Immerhin sind auch sie oft noch in weitem Maß Spezialisten. Bis z. B. ein angelernter
Weber das Höchstmaß der Gelerntheit erreicht, also die Maschine im Höchstmaß für
den Unternehmer ausnützt und selbst den Höchstlohn verdient, vergehen immerhin ei-
nige Jahre. Gewiß: bei anderen Kategorien von Arbeitern ist die typische normale An-
lernezeit ganz wesentlich geringer als bei der hier angezogenen. Immerhin bedeutet die-
se Zunahme der angelernten Arbeiter zwar eine fühlbare Abschwächung, aber doch
noch keine Beseitigung der Berufsspezialisierung. Und auf der anderen Seite steigert
sich die Berufsspezialisierung und das Erfordernis der Fachschulung bei allen innerhalb
der Produktion ü b e r der Arbeiterschicht stehenden Schichten bis hinab zum Vorar-
beiter und Werkführer und es steigert sich zugleich die relative Zahl der zu dieser
Schicht gehörenden Personen. Richtig ist: auch sie sind »Lohnsklave. Aber meist
nicht im Akkord- oder Wochenlohn, sondern im festen Gehalt. Und vor allem: selbst-
versndlich haßt der Arbeiter den Werkmeister, der ihm stets auf dem Leder kniet, viel
mehr als den Fabrikanten und den Fabrikanten wieder mehr als den Aktionär, obwohl
doch der Aktionär derjenige ist, der wirklich arbeits l o s e s Einkommen bezieht,
während der Fabrikant sehr starke geistige Arbeit zu leisten hat und der Werkmeister
dem Arbeiter noch weit näher steht. Das ist eine Sache, die auch beim Militär vor-
kommt: im allgemeinen ist der Korporal derjenige, der die srksten Antipathien auf
sich zieht, mindestens die Chancen dazu hat, soviel ich habe beobachten können. Jeden-
falls ist die Entwicklung der Gesamtschichtung weit davon entfernt, eindeutig proleta-
risch zu sein.
Und endlich argumentiert man mit der zunehmenden Standardisierung, d. h. Ver-
gleichmäßigung der Produktion. Ueberall scheint alles und namentlich der Krieg för-
dert das ungemein einer immer größeren Gleichmäßigkeit und Auswechselbarkeit der
Produkte und einer immer weitergehenden Schematisierung der Geschäfte zuzustreben.
Nur in der obersten Schicht der Unternehmer, aber auch hier stetig abnehmend, herrscht
sagt man noch der alte freie Pioniergeist des bürgerlichen Unternehmertums der
Vergangenheit. Folglich steigt ständig – so wird weiter argumentiert – die
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 512
Möglichkeit, diese Produktion zu lenken, auch ohne die spezifischen Unternehmerquali-
täten zu besitzen, von denen die bürgerliche Gesellschaft behauptet, daß sie für den Be-
trieb unentbehrlich seien. Das gelte namentlich für die Kartelle und Trusts, die ein riesi-
ges Beamtenpersonal an die Stelle von Einzelunternehmern gesetzt haben. Das ist wie-
der ganz richtig. Aber wieder nur mit dem gleichen Vorbehalte, daß auch durch diese
Standardisierung die Bedeutung einer Schicht gefördert wird, eben: der schon oft er-
wähnten Beamtenschicht, die in ganz bestimmter Art g e b i l d e t sein muß und die
deshalb das ist nun ergänzend hinzuzufügen einen ganz bestimmten s t ä n d i -
s c h e n Charakter trägt. Es ist kein Zufall, daß wir überall die Handelshochschulen,
die Gewerbeschulen, die technischen Fachschulen wie Pilze aus der Erde sprießen se-
hen. Dabei spielt, zum mindesten in Deutschland, der Wunsch mit, auf diesen Schulen
in eine Couleur einzutreten, sich Schmisse ins Gesicht hauen zu lassen, satisfaktionsfä-
hig und damit reserveoffiziersfähig zu werden und nachher im Kontor eine Vorzugs-
chance auf die Hand der Tochter des Chefs zu haben: also sich zu assimilieren mit den
Schichten der sogenannten »Gesellschaft«. Nichts liegt dieser Schicht ferner als die So-
lidarität mit dem Proletariat, von dem sie sich ja vielmehr gerade zunehmend zu unter-
scheiden trachtet. In verschieden starkem, aber in sichtbarem Maße gilt Aehnliches auch
von vielen Unterschichten dieser Angestellten. Alle streben nach mindestens ähnlichen
s t ä n d i s c h e n Qualitäten, sei es für sich selbst oder für ihre Kinder. Eine e i n -
d e u t i g e Tendenz zur Proletarisierung ist heute nicht festzustellen.
Wie dem nun aber sei, jedenfalls zeigen schon diese Argumente, daß die alte revolu-
tionäre Katastrophenhoffnung, die dem Kommunistischen Manifest seine hinreißende
Gewalt verlieh, einer evolutionistischen Auffassung gewichen ist, einer Auffassung also
von dem allmählichen Hineinwachsen der alten Wirtschaft mit ihren massenhaften kon-
kurrierenden Unternehmern in eine regulierte Wirtschaft, sei es, daß diese von Beamten
des Staates oder durch Kartelle unter Beteiligung von Beamten reguliert ist. Dies, nicht
mehr die durch Konkurrenz und Krisen zusammenschmelzenden Einzelunternehmer,
erscheint jetzt als die Vorstufe der eigentlichen sozialistischen, herrschaftslosen Gesell-
schaft. Diese evolutionistische Stimmung, die von dieser langsamen Umbildung die
Entwicklung zur sozialistischen Zukunftsgesellschaft erwartet, war vor dem Krieg tat-
sächlich in der Meinung der Gewerkschaften und auch bei vielen Intellektuellen unter
den Sozialisten an die Stelle der alten Katastrophentheorie getreten. Daraus sind die be-
kannten Konsequenzen gezogen worden. Der sogenannte »Revisionismus« entstand.
Seine eigenen Führer sind sich wenigstens zum Teil bewußt gewesen, wie schwerwie-
gend der Schritt war, den Massen jenen Glauben an die plötzlich hereinbrechende
glückliche Zukunft zu nehmen, den ihnen ein solches Evangelium gab, welches ihnen
wie den alten Christen sagte: Heute nacht noch kann das Heil kommen. Man kann ein
Glaubensbekenntnis, wie es
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 513
das Kommunistische Manifest und die spätere Katastrophentheorie war, wohl entthro-
nen, aber es ist dann schwer möglich, es durch ein anderes zu ersetzen. Indessen über
diese Auseinandersetzung in diesem aus Gewissensbedenken gegen den orthodoxen
Glauben mit der alten Orthodoxie entstandenen Streit ist die Entwicklung ngst hin-
weggegangen. Er verquickte sich mit der Frage: ob und wieweit die Sozialdemokratie
als Partei »praktische Politik« in dem Sinne treiben sollte, daß sie Koalitionen mit bür-
gerlichen Parteien eingingen an der politisch verantwortlichen Leitung durch Ueber-
nahme von Ministerstellen sich beteiligte und so die jetzige Lebenslage der Arbeiter zu
verbessern trachtete oder ob das ein »Verrat an der Klasse« und eine politische Ketze-
rei sei, wie der überzeugte Katastrophenpolitiker selbstverständlich es ansehen mte.
Aber inzwischen sind andere prinzipielle Fragen aufgetaucht und an diesen spalten sich
die Geister. Nehmen wir einmal an, daß im Wege einer allmählichen Evolutionierung,
also der allgemeinen Durchkartellierung, Standardisierung und Verbeamtung die Wirt-
schaft sich so gestaltete, daß irgendwann die technische glichkeit gegeben re, daß
an die Stelle der heutigen unternehmungsweisen Privatwirtschaft und also des Privatei-
gentums an den Produktionsmitteln eine den Unternehmer ganz ausschaltende Regulie-
rung treten könnte. W e r soll es dann sein, der diese neue Wirtschaft übernehmen
und kommandieren würde? Darüber hat sich das Kommunistische Manifest ausge-
schwiegen oder es hat sich vielmehr sehr vieldeutig ausgedrückt.
Wie soll jene »Assoziation« aussehen, von der es spricht? Was hat insbesondere der
Sozialismus an Keimzellen solcher Organisationen aufzuweisen, für den Fall, daß ihm
tatsächlich die Chance in die Hand fiele, einmal die Macht an sich zu reißen und nun
nach seinem Belieben zu schalten? Im Deutschen Reiche und wohl überall hat er zwei
Kategorien von Organisationen. Erstens die politische Partei der Sozialdemokratie mit
ihren Abgeordneten, angestellten Redakteuren, Parteibeamten und Vertrauensmännern
und den lokalen und zentralen Verbänden, von denen diese gewählt oder angestellt wer-
den. Zweitens die Gewerkschaften. Jede dieser beiden Organisationen kann nun s o -
w o h l revolutionären wie evolutionistischen Charakter annehmen. Und darnach, wel-
chen Charakter sie haben und welcher ihnen für die Zukunft zugedacht und gewünscht
wird, scheiden sich die Geister.
Gehen wir von der revolutionären Hoffnung aus, so stehen sich da zwei Ansichten
gegenüber. Die erste war die des normalen Marxismus, die auf der alten Tradition des
Kommunistischen Manifestes stand. Sie erwartete alles von der p o l i t i s c h e n
Diktatur des Proletariates und glaubte als dessen Träger meist die unvermeidlich auf den
W a h l kampf zugeschnittene politische P a r t e i organisation ansehen zu müssen.
Die Partei oder ein auf sie gestützter politischer Diktator sollte die politische Gewalt an
sich reißen und von daher sollte die neue Organisation der Gesellschaft erfolgen.
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 514
Die Gegner, gegen die sich diese revolutionäre Richtung wendete, waren erstens die-
jenigen Gewerkschaften, welche nichts als Gewerkschaften im älteren englischen Sinne
waren, welche sich also gar nicht für diese Zukunftspläne interessierten, weil sie in wei-
ter Ferne zu liegen schienen, sondern vor allem solche Arbeitsbedingungen, welche ih-
nen und ihren Kindern die Existenz ermöglichten: hohe Löhne, kurze Arbeitszeit, Ar-
beiterschutz usw. erstreiten wollten. Gegen dieses Gewerschaftlertum wendete sich je-
ner radikale politische Marxismus auf der einen Seite. Auf der anderen Seite gegen die
ausschließlich parlamentarische Form der Kompromißpolitik des Sozialismus, gegen
das, was man »Millerandismus« genannt hat, seitdem Millerand in Frankreich Minister
wurde. Das sei eine Politik, die dazu führe, daß sich die Führer für ihre Ministerporte-
feuilles interessieren und die Unterführer dafür, daß sie Beamtenstellen bekommen, weit
mehr als r die Revolution; der revolutionäre Geist werde dadurch ertötet. Jener im al-
ten Sinne »radikalen« und »orthodoxen« Richtung ist nun im Laufe der letzten Jahr-
zehnte eine zweite zur Seite getreten, die man als »Syndikalismus« zu bezeichnen
pflegt, von Syndikat, dem französischen Ausdruck für die Gewerkschaft. Wie der alte
Radikalismus die revolutionäre Deutung des Zweckes der politischen Parteiorganisation
will, so der Syndikalismus die revolutionäre Deutung der Gewerkschaften. Er geht da-
von aus: nicht die politische Diktatur, nicht die politischen Führer und nicht die Beam-
ten, die von diesen politischen Führern angestellt werden, sondern die Gewerkschaften
und ihr Bund sollen es sein, die, wenn der große Moment gekommen ist, die Macht über
die Wirtschaft in die Hand nehmen im Wege der sogenannten »action directe«. Der
Syndikalismus geht auf eine strengere Auffassung des Klassencharakters der Bewegung
zurück. Die Arbeiter k l a s s e soll ja der Träger der endgültigen Befreiung sein. Alle
die Politiker aber, die sich da in den Hauptstädten herumtreiben und nur darnach fragen,
wie es mit diesem und jenem Ministerium steht, was für eine Chance diese und jene par-
lamentarische Konjunktur hat, sind politische Interessenten und nicht Klassengenossen.
Hinter ihren Wahlkreisinteressen stehen immer die Interessen von Redakteuren und Pri-
vatbeamten, die an der Zahl der gewonnenen hlerstimmen verdienen wollen. Alle
diese Interessen, die mit dem modernen parlamentarischen Wahlsystem verkpft sind,
weist der Syndikalismus zurück. Nur die wirkliche Arbeiterschaft, die in den Gewerk-
schaften organisiert ist, kann die neue Gesellschaft schaffen. Fort mit den Berufs-
politikern, die für die und das heißt in Wahrheit: v o n der Politik leben und nicht
für die Schaffung der neuen wirtschaftlichen Gesellschaft. Das typische Mittel der Syn-
dikalisten ist der Generalstreik und der Terror. Der Generalstreik, von dem sie hoffen,
daß durch eine plötzliche Lahmlegung der ganzen Produktion die Beteiligten, insbeson-
dere die Unternehmer, veranlaßt würden, auf die eigene Leitung der Fabriken zu ver-
zichten und sie in die Hand der von den Gewerkschaften zu bildenden Ausschüsse zu
legen. Der Terror, den sie teils
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 515
offen, teils versteckt verkünden, teils auch ablehnen darin gehen die Meinungen aus-
einander – den diese Organisation in die Reihen der maßgebenden herrschenden Schich-
ten tragen soll, um sie auch politisch lahmzulegen. Selbstverständlich ist dieser Syndi-
kalismus derjenige Sozialismus, der wirklich ein ganz rücksichtsloser Gegner jeder Art
von Heeresorganisation ist, da jede Art von Heeresorganisation Interessenten schafft,
bis zum Unteroffizier, selbst bis zum Soldaten hinunter, der augenblicklich mindestens
in seiner Ernährung davon abhängig ist, daß die militärische und staatliche Maschine
funktioniert, also teils geradezu an dem Mlingen des Generalstreiks interessiert, zum
mindesten aber Hemmnis für den Generalstreik ist. Seine Gegner sind erstens alle poli-
tischen, sozialistischen Parteien, die sich im Parlament betätigen. Das Parlament dürfte
von Syndikalisten höchstens als Tribüne benützt werden, um von da aus immer erneut
unter dem Schutz der parlamentarischen Immunität zu verkünden, daß der Generalstreik
kommen wird und kommen muß, um die revolutionären Leidenschaften der Massen
aufzustacheln. Selbst das lenkt ihn aber von der eigentlichen Aufgabe ab und ist deshalb
bedenklich. Im Parlament aber ernsthaft Politik zu treiben, das ist nicht nur Unsinn,
sondern von diesem Standpunkt aus einfach verwerflich. Ihre Gegner sind selbstver-
ständlich auch alle Evolutionisten jeder Art. gen es nun Gewerkschaftler sein, die
nur Kämpfe zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen wollen: im Gegenteil,
ssen die Syndikalisten argumentieren, je schlechter die hne, je länger die Arbeits-
zeit, je übler überhaupt die Verhältnisse, desto größer ist die Chance für den General-
streik. Oder die Evolutionisten der Parteipolitik, welche sagen: der Staat wächst heute
durch die zunehmende Demokratisierung vor der die Syndikalisten den größten Ab-
scheu haben: der Zarismus ist ihnen lieber, in den Sozialismus hinein. Das ist für die
Syndikalisten natürlich zum mindesten grober Selbstbetrug. Die kritische Frage ist nun
die: woher die Syndikalisten die Kräfte zu nehmen hoffen, um die Leitung der Produk-
tion in die Hand zu nehmen. Denn es wäre selbstverständlich ein schwerer Irrtum zu
glauben, daß ein noch so geschulter Gewerkschaftler, wenn er auch jahrelang tätig ist
und ganz genau die Bedingungen der A r b e i t kennt, deshalb den Fabriks b e -
t r i e b als solchen kenne, sintemal jeder moderne Fabriksbetrieb ganz und gar auf der
Kalkulation, der Warenkunde, der Kunde der Bedarfslage, der technischen Schulung be-
ruht, Dinge, die alle zunehmend spezialistisch geübt sein wollen und die die Gewerk-
schaftler, die wirklichen Arbeiter, kennenzulernen schlechterdings keine Gelegenheit
haben. Sie werden also, ob sie wollen oder nicht, auch ihrerseits auf N i c h t arbeiter,
auf Ideologen aus den Intellektuellenschichten angewiesen sein. Und in der Tat ist es
auffallend, daß im vollen Gegensatze zu der Parole: das Heil kann nur von den wirkli-
chen Arbeitern kommen, die sich im Gewerkschaftsbund zusammentun, und nicht von
den Politikern oder irgendwelchen Außenseitern, gerade innerhalb der syndikalistischen
Bewegung, die vor dem Krieg
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 516
in Frankreich und Italien ihre Hauptherde hatte, eine Unmasse von studierten Intellektu-
ellen sich befindet. Was suchen sie darin? Die R o m a n t i k des Generalstreiks und
die R o m a n t i k der revolutionären Hoffnung als solche ist es, die diese Intellektu-
ellen bezaubert. Wenn man sie ansieht, weiß man, daß sie Romantiker sind, dem Alltag
des Lebens und seinen Anforderungen seelisch nicht gewachsen oder abgeneigt und da-
her nach dem großen revolutionären Wunder und nach Gelegenheit, selbst einmal sich
in der Macht zu fühlen, lechzend. Natürlich gibt es unter ihnen auch Männer mit organi-
satorischen Qualitäten. Die Frage ist nur, ob sich die Arbeiterschaft gerade ihrer Dikta-
tur unterwerfen wird. Gewiß: in einem Kriege kann bei den fabelhaften Umwälzungen,
die er mit sich bringt, vermöge der Schicksale, die die Arbeiterschaft da erlebt, zumal
unter der Wirkung des Hungers, auch die Masse der Arbeiterschaft von syndikalisti-
schen Vorstellungen ergriffen werden und, wenn sie Waffen zur Hand hat, sich unter
der Führung solcher Intellektuellen der Gewalt bemächtigen, wenn ihr der politische
und militärische Zusammenbruch eines Staates die Möglichkeit bietet. Aber die Kräfte
für die Leitung der Produktion in Friedenszeiten sehe ich nicht, weder bei den Gewerk-
schaftsmitgliedern selbst noch bei den syndikalistischen Intellektuellen. Das große Ex-
periment ist jetzt: Rußland. Die Schwierigkeit ist die, daß wir heute nicht über die Gren-
ze dort hineingehen nnen, um zu erfahren, wie sich darin die Leitung der Produktion
in Wirklichkeit vollzieht. Nach dem, was man hört, verläuft die Sache so, daß die Bol-
schewiki-Regierung, die ja bekanntlich aus Intellektuellen besteht, die zum Teil hier in
Wien und in Deutschland studiert haben, unter denen sich überhaupt nur wenige Russen
befinden, jetzt dazu übergegangen ist, innerhalb derjenigen Fabriken, die überhaupt
funktionieren – nach sozialdemokratischen Nachrichten 10 Prozent der Friedensproduk-
tion das Akkordlohnsystem wieder einzuführen, mit der Begründung: sonst leide die
Leistung. Sie lassen die Unternehmer an der Spitze der Betriebe weil sie allein die
Sachkunde besitzen und zahlen ihnen sehr erhebliche Subventionen. Sie sind ferner
dazu übergegangen, wieder Offiziersgehälter an Offiziere aus dem alten Regime zu zah-
len, weil sie ein Heer brauchen und gesehen haben: ohne geschulte Offiziere geht das
nicht. Ob diese Offiziere, wenn sie einmal die Mannschaft wieder in der Hand haben,
sich dauernd die Leitung durch diese Intellektuellen werden gefallen lassen, scheint mir
fraglich; im Augenblicke haben sie das freilich tun müssen. Und schließlich haben sie
durch den Entzug der Brotkarte auch einen Teil der Bureaukratie gezwungen, für sie zu
arbeiten. Aber auf die Dauer läßt sich in dieser Art eine Staatsmaschinerie und Wirt-
schaft nicht leiten und sehr ermutigend ist das Experiment bisher nicht.
Das Erstaunliche ist lediglich, daß diese Organisation überhaupt so lange funktio-
niert. Sie kann dies deshalb, weil sie eine Militärdiktatur, zwar nicht der Generäle, aber
der Korpole ist und weil die kriegsmüden, aus der Front zurückkehrenden Soldaten
mit den
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 517
landhungrigen, an Agrarkommunismus gewöhnten Bauern zusammengingen oder die
Soldaten mit ihren Waffen sich in gewaltsamen Besitz der Dörfer setzten und dort Kon-
tribution erhoben und jeden niederschossen, der ihnen zu nahe kam. Es ist das einzige
ganz große Experiment einer »Diktatur des Proletariats«, das bisher gemacht wurde,
und man kann mit voller Aufrichtigkeit versichern: Die Auseinandersetzungen in Brest-
Litowsk wurden von deutscher Seite in loyalster Weise geführt, in der Hoffnung, wir
bekämen mit diesen Leuten einen wirklichen Frieden. Das geschah aus verschiedenen
Gründen: diejenigen, die als Interessenten auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft
standen, waren deshalb dafür, weil sie sich sagten: laßt ums Himmelswillen die Leute
ihr Experiment machen, es wird sicher ins Wasser fallen und dann ist es ein abschrek-
kendes Exempel; wir anderen deshalb, weil wir sagten: wenn dieses Experiment gelänge
und wir sehen sollten, daß auf diesem Boden Kultur möglich ist, dann wären wir be-
kehrt.
Derjenige, der das verhindert hat, war Herr Trotzki, der sich nicht damit begnügen
wollte, im eigenen Hause dieses Experiment zu machen und seine Hoffnung darauf zu
setzen, daß, wenn es gelang, das eine Propaganda ohnegleichen in der ganzen Welt für
den Sozialismus bedeutete, sondern der in der typisch russischen Literateneitelkeit noch
mehr wollte und darauf hoffte, durch Redegefechte und Mißbrauch solcher Worte wie
»Friede« und »Selbstbestimmung« den Bürgerkrieg in Deutschland zu entfesseln, dabei
aber so schlecht informiert war, nicht zu wissen, daß das deutsche Heer zumindest zu
zwei Dritteln vom Lande und zu einem weiteren Sechstel aus Kleinbürgern sich rekru-
tiert, denen es ein wahres Vergnügen sein würde, den Arbeitern, oder wer sonst solche
Revolutionen machen wollte, eins auf den Mund zu geben. Mit Glaubenskämpfern ist
kein Friede zu schließen, man kann sie nur unschädlich machen und das war der Sinn
des Ultimatums und des erzwungenen Brester Friedens. Das muß jeder Sozialist einse-
hen und mir ist auch keiner, gleichviel welcher Richtung, bekannt, der es nicht inner-
lich wenigstens einsähe. –
Wenn man nun in Auseinandersetzungen mit heutigen Sozialisten gerät und dabei
l o y a l verfahren will und das allein ist auch klug – so sind ihnen nach der heutigen
Lage zwei Fragen zu stellen: Wie verhalten sie sich zum Evolutionismus? d. h. zu dem
Gedanken, der ein Grunddogma des heute als orthodox geltenden Marxismus ist, daß
sich die Gesellschaft und ihre Wirtschaftsordnung streng naturgesetzlich, in Altersstadi-
en sozusagen, entwickelt und daß also eine sozialistische Gesellschaft niemals und nir-
gends entstehen kann, bevor die bürgerliche Gesellschaft voll zur Ausreife gekommen
ist, und das ist selbst nach sozialistischer Meinung noch nirgends der Fall, denn es
gibt noch Kleinbauern und Kleinhandwerker, wie also verhalten sich die betreffenden
Sozialisten zu diesem evolutionistischen Grunddogma? Und dann wird sich herausstel-
len, daß zum mindesten außerhalb Rußlands sie a l l e auf seinem Boden
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 518
stehen, d. h. also, daß sie alle, auch die radikalsten von ihnen, als einzig mögliche Folge
einer Revolution die Entstehung einer b ü r g e r l i c h e n , n i c h t aber einer pro-
letarisch geleiteten Gesellschaftsordnung erwarten, weil für diese noch nirgends die Zei-
ten reif seien. Diese Gesellschaftsordnung, hofft man nur, werde in einigen Zügen um
einige Schritte her jenem Endstadium stehen, von dem aus, wie gehofft wird, der Ue-
bergang zur sozialistischen Zukunftsordnung dereinst erfolgen soll.
Auf das Gewissen gefragt, wird jeder ehrliche sozialistische Intellektuelle das
antworten müssen. Es gibt ja infolgedessen eine breite Schichte von Sozialdemokraten
innerhalb Rlands, die sogenannten Menschewiki, welche auf dem Standpunkte
stehen: dieses bolschewistische Experiment, auf den heutigen Status der bürgerlichen
Gesellschaft bereits eine sozialistische Ordnung von oben aufzupfropfen, ist nicht nur
ein Unsinn, es ist ein Frevel gegen das marxistische Dogma. Der furchtbare Haß beider
Richtungen gegeneinander hat in dieser dogmatischen Verketzerung seinen Grund.
Wenn nun die überwältigende Mehrzahl der Führer, jedenfalls alle, die ich jemals
kennengelernt habe, auf diesem evolutionistischen Boden steht, so ist natürlich die Fra-
ge berechtigt: was soll eigentlich unter diesen Verhältnissen eine Revolution, vollends
während des Krieges, von ihrem eigenen Standpunkt aus, leisten? Den Bürgerkrieg
kann sie bringen und damit vielleicht den Sieg der Entente, aber doch keine sozialisti-
sche Gesellschaft; sie kann und wird ferner herbeiführen innerhalb des etwa zusammen-
gebrochenen Staates ein Regiment uerlicher und kleinbürgerlicher Interessenten, also
der radikalsten Gegner j e d e s Sozialismus. Und sie brächte doch vor allem eine un-
geheure Kapitalszerstörung und Desorganisation, also ein Zurückschrauben der vom
Marxismus geforderten gesellschaftlichen Entwicklung, die ja eine immer weitere Sätti-
gung der Wirtschaft mit Kapital voraussetzt. Es ist doch zu berücksichtigen, daß der
westeuropäische B a u e r anders geartet ist als der russische Bauer, der innerhalb sei-
nes Agrarkommunismus lebt. Dort ist das Entscheidende die Landfrage, die bei uns gar
keine Rolle spielt. Der deutsche Bauer zum mindesten ist heute Individualist und hängt
am Erbeigentum und an seinem Boden. Er wird sich davon kaum abbringen lassen. Er
verbündet sich weit eher mit dem Großgrundbesitzer als mit dem radikal-sozialistischen
Arbeiter, wenn er sich darin bedroht glaubt.
Vom Standpunkt der sozialistischen Zukunftshoffnungen aus sind also die Perspekti-
ven einer Revolution hrend des Krieges jetzt die denkbar übelsten auch dann, wenn
sie gelingen sollte. Was sie allergünstigstenfalles brächte: eine Annäherung der p o -
l i t i s c h e n Verfassung an die von der Demokratie gewünschte Form, das entzöge
sie dem Sozialismus durch die w i r t s c h a f t l i c h reaktionären Folgen, die sie
haben müßte. Auch das darf kein Sozialist loyalerweise leugnen.
13. Uebungszuwachs und Stetigkeitszunahme der Leistung. 519
Das Zweite ist das Verhältnis zum F r i e d e n . Wir wissen alle, daß sich heute der
radikale Sozialismus bei den Massen mit pazifistischen Neigungen, mit dem Wunsche
verquickt: daß schleunigst Friede geschlossen werde. Nun steht aber fest und ein jeder
Führer der radikalen, also der wirklich revolutionären Sozialdemokratie wird es, wenn
gefragt, ehrlich zugeben müssen: Der Friede ist ihm, dem F ü h r e r , n i c h t das
Entscheidende, worauf es ihm ankommt. Wenn wir die Wahl haben wird er, wenn er
rückhaltlos offen ist, sagen müssen zwischen einem noch drei Jahre dauernden Kriege
und dann der Revolution einerseits und sofortigem Frieden o h n e Revolution ander-
seits, dann sind wir natürlich für die drei Jahre Krieg. Mag er das mit seinem Glau-
benseifer und seinem Gewissen ausmachen. Die Frage ist doch, ob die Mehrzahl der
Truppen, die draußen im Felde zu stehen haben, auch die sozialistischen, der gleichen
Meinung sind wie diese Führer, die ihnen etwas Derartiges diktieren. Und es ist selbst-
versndlich durchaus loyal und nur in der Ordnung, wenn man sie zwingt, Farbe zu be-
kennen. Fest steht und zugegeben ist, daß Trotzki den Frieden n i c h t gewollt hat.
Das bestreitet heute kein mir bekannter Sozialist mehr. Aber das gleiche gilt auch für
die radikalen Führer aller Länder. Vor die Wahl gestellt, würden auch sie n i c h t vor
allem den Frieden wollen, sondern, wenn er der Revolution, das heißt: dem Bürgerkrieg,
zugute me, den Krieg. Den Krieg im Interesse der Revolution, o b w o h l diese
Revolution nach ihrer eigenen Meinung ich wiederhole das zur sozialistischen Ge-
sellschaft n i c h t führen kann, sondern höchstens das ist die einzige Hoffnung zu
einer vom sozialistischen Standpunkt »höheren Entwicklungsform« der bürgerlichen
Gesellschaft, die also der künftig irgendwann einmal eintretenden sozialistischen Ge-
sellschaft um etwas näher steht um wieviel, läßt sich gar nicht sagen als die heutige.
Gerade diese Hoffnung freilich ist aus dem angegebenen Grunde äußerst zweifelhaft. –
Eine Auseinandersetzung mit überzeugten Sozialisten und Revolutionären ist immer
eine mißliche Sache. Man überzeugt sie nach meiner Erfahrung nie. Man kann nur die
Leute nötigen, vor ihren eigenen Anhängern Farbe zu bekennen, einerseits zur Frage des
Friedens und andererseits zu der Frage, was die Revolution eigentlich bringen soll, zur
Frage der stufenweisen Evolution also, die bis heute ein Dogma des echten Marxismus
ist und nur in Rußland von einer dort bodenständigen Sekte abgelehnt wurde, welche
glaubte, Rußland könne diese Entwicklungsstufen Westeuropas überspringen. Das ist
eine durchaus loyale Art und auch die einzig wirksame oder mögliche. Denn ich bin der
Meinung: ein Mittel, die sozialistische Ueberzeugung und die sozialistischen Hoffnun-
gen aus der Welt zu schaffen, gibt es nicht. Jede Arbeiterschaft wird immer wieder in
irgendeinem Sinne sozialistisch sein. Die Frage ist nur, ob dieser Sozialismus ein sol-
cher sein wird, daß er vom Standpunkt der Staatsinteressen aus und zur Zeit insbesonde-
re vom Standpunkt der militärischen Interessen aus erträglich ist. Es ist bisher noch kei-
ne,
Geschäftsbericht u. Diskussionsreden a. d. deutschen soziolog. Tagungen. 520
auch noch keine proletarische, Herrschaft, wie etwa die der Kommune in Paris oder
jetzt die der Bolschewiki, ohne das Standrecht ausgekommen in llen, wo die Grund-
lagen ihrer Disziplin gefährdet waren. Das hat Herr Trotzki in dankenswerter Aufrich-
tigkeit zugegeben. Aber je sicherer die Mannschaft das Gefühl hat: daß nur die
s a c h l i c h e n Interessen an der Erhaltung der Disziplin und k e i n e Partei- oder
Klasseninteressen das Verhalten der militärischen Instanzen bestimmen, daß also nur
das s a c h l i c h im Kriege Unvermeidliche geschieht, desto unerschütterter wird die
militärische Autorität bleiben.
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