Adrast. Nein, nicht das Sonderbare, sondern bloss das Wahre; und ich
kann nicht dafuer, wenn jenes, leider! eine Folge von diesem ist. Es
ist mir unmoeglich zu glauben, dass die Wahrheit gemein sein koenne;
ebenso unmoeglich, als zu glauben, dass in der ganzen Welt auf einmal
Tag sein koenne. Das, was unter der Gestalt der Wahrheit unter allen
Voelkern herumschleicht, und auch von den Bloedsinnigsten angenommen
wird, ist gewiss keine Wahrheit, und man darf nur getrost die Hand, sie
zu entkleiden, anlegen, so wird man den scheusslichsten Irrtum nackend
vor sich stehen sehen.
Juliane. Wie elend sind die Menschen, und wie ungerecht ihr Schoepfer,
wenn Sie recht haben, Adrast! Es muss entweder gar keine Wahrheit sein,
oder sie muss von der Beschaffenheit sein, dass sie von den meisten, ja
von allen, wenigstens im Wesentlichsten, empfunden werden kann.
Adrast. Es liegt nicht an der Wahrheit, dass sie es nicht werden kann,
sondern an den Menschen.--Wir sollen gluecklich in der Welt leben; dazu
sind wir erschaffen; dazu sind wir einzig und allein erschaffen.
Sooft die Wahrheit diesem grossen Endzwecke hinderlich ist, sooft ist
man verbunden, sie beiseite zu setzen; denn nur wenig Geister koennen
in der Wahrheit selbst ihr Glueck finden. Man lasse daher dem Poebel
seine Irrtuemer; man lasse sie ihm, weil sie ein Grund seines Glueckes
und die Stuetze des Staates sind, in welchem er fuer sich Sicherheit,
Ueberfluss und Freude findet. Ihm die Religion nehmen, heisst ein wildes
Pferd auf der fetten Weide losbinden, das, sobald es sich frei fuehlt,
lieber in unfruchtbaren Waeldern herumschweifen und Mangel leiden, als
durch einen gemaechlichen Dienst alles, was es braucht, erwerben will.--
Doch nicht fuer den Poebel allein, auch noch fuer einen andern Teil des
menschlichen Geschlechts muss man die Religion beibehalten. Fuer den
schoensten Teil, meine ich, dem sie eine Art von Zierde, wie dort eine
Art von Zaume ist. Das Religioese stehet der weiblichen Bescheidenheit
sehr wohl; es gibt der Schoenheit ein gewisses edles, gesetztes und
schmachtendes Ansehen--
Juliane. Halten Sie, Adrast! Sie erweisen meinem Geschlechte
ebensowenig Ehre, als der Religion. Jenes setzen Sie mit dem Poebel in
eine Klasse, so fein auch Ihre Wendung war; und diese machen Sie aufs
hoechste zu einer Art von Schminke, die das Geraete auf unsern
Nachttischen vermehren kann. Nein, Adrast! die Religion ist eine
Zierde fuer alle Menschen; und muss ihre wesentlichste Zierde sein. Ach!
Sie verkennen sie aus Stolze; aber aus einem falschen Stolze. Was
kann unsre Seele mit erhabenern Begriffen fuellen, als die Religion?
Und worin kann die Schoenheit der Seele anders bestehen, als in solchen
Begriffen? in wuerdigen Begriffen von Gott, von uns, von unsern
Pflichten, von unserer Bestimmung? Was kann unser Herz, diesen
Sammelplatz verderbter und unruhiger Leidenschaften, mehr reinigen,
mehr beruhigen, als eben diese Religion? Was kann uns im Elende mehr
aufrichten, als sie? Was kann uns zu wahrern Menschen, zu bessern
Buergern, zu aufrichtigern Freunden machen, als sie?--Fast schaeme ich
mich, Adrast, mit Ihnen so ernstlich zu reden. Es ist der Ton ohne
Zweifel nicht, der Ihnen an einem Frauenzimmer gefaellt, ob Ihnen
gleich der entgegengesetzte ebensowenig zu gefallen scheinet. Sie
koennten alles dieses aus einem beredtern Munde, aus dem Munde des
Theophans hoeren.
Vierter Auftritt